Gemächlich wie ein langer, ruhiger Fluss zogen die folgenden Tage dahin. Ich verbrachte sie damit, am Vormittag in meinen Qigongkurs zu gehen und nachmittags wahlweise mit Pablo ausgedehnte Spaziergänge zu machen oder mich mit Freunden zu verabreden. Die Bedrohung durch den Bankräuber hatte mir etwas den Schwung für meine weiteren Pläne genommen, sodass ich zunächst einmal abwartete, was passierte.

Pablo blieb seit dem Vorfall mit dem Postboten eng an meiner Seite. Manchmal sogar etwas zu eng. Einmal sprang er mir, als ich ahnungslos im Sessel ein Buch las, unvermittelt auf den Schoß. Abgesehen davon, dass so ein großer Hund nicht gerade leicht ist, überragte er mich selbst sitzend um einen ganzen Kopf. Ich ächzte unter seinem Gewicht. Doch er ließ sich erst davon überzeugen, wieder von mir abzusteigen, als ich ihm ein Leckerli in Aussicht stellte.

Meine Freundin Nike wollte natürlich unbedingt über den Stand der Entwicklungen Bescheid wissen und kam mit einer fetten selbst gebackenen Sahnetorte zum Kaffee zu mir. Kurz zögerte ich, ob ich sie in meine komplizierte Situation einweihen sollte, dann aber erzählte ich aus Unsicherheit, wie sie auf meine kriminellen Abwege reagieren würde, lieber nur den Teil, von dem auch die Kommissarin wusste.

Die Vertrautheit, die früher zwischen uns geherrscht hatte, wollte sich nicht so richtig einstellen. Nike sah mich ein paarmal mit zweifelndem Blick an, erklärte sich mein Verhalten aber wohl mit der Bedrohungslage durch den Bankräuber. Ich konnte sie gerade noch davon abhalten, mit einer gepackten Tasche bei mir einzuziehen, und war erleichtert und traurig zugleich, als sie nach zwei Stunden wieder verschwand. Geheimnisse machten also auch einsam.

Am nächsten Tag fuhr ich erneut zu meiner Mutter in die Seniorenresidenz, da sie mir ihren neuen Lebensgefährten vorstellen wollte und ich ihr meinen neuen Hund, was sich jedoch beiderseits als große Enttäuschung herausstellen sollte.

Es war keineswegs so, dass ich übertriebene Erwartungen an den neuen Lebensgefährten meiner Mutter gehegt hatte. Ich kannte schließlich ihren Hang zu halbseidenen Wichtigtuern, die sich bei ihr bequem einrichten wollten. Doch dieser Hartmut war wirklich ein ganz besonders unangenehmes Exemplar von einem Mann.

Nicht nur, dass er die ganze Zeit unter einem dünnen Schnäuzer dümmlich grinste, nein, er tätschelte auch noch ständig an meiner Mutter herum. Besonders gern gab er ihr einen Klaps aufs Hinterteil, wenn sie beflissen das Wohnzimmer verließ, um frischen Kaffee oder irgendetwas anderes für ihren neuen Lover zu holen. Und sie war keineswegs empört darüber, sondern kicherte wie ein junges Mädchen. Obendrein hatte Hartmut sein Geld offenbar im Rotlichtmilieu verdient, womit er sogar prahlte.

Warum er meine Mutter dann nicht auf die Kreuzfahrt einlud, war mir so lange ein Rätsel, bis diese verkündete, dass sie immer allergrößten Wert auf ihre finanzielle Unabhängigkeit gelegt habe. Das war mir allerdings neu, schließlich finanzierte ich ihre Unterkunft schon seit drei Jahren, was keinerlei Problem für sie dargestellt hatte.

Als meine Mutter wieder einmal in der Küche verschwand, ging ich hinterher und zischte ihr zu: »Das ist doch nicht dein Ernst, oder? Ein Zuhälter!«

»Hartmut war kein Zuhälter«, meinte meine Mutter beleidigt. »Er hatte eine Bar.«

»Also ein Zuhälter«, insistierte ich. Heute mochte eine Bar vielleicht eine Kaffee- oder Cocktailbar sein, aber zu Hartmuts Zeiten bedeutete »Bar« ganz eindeutig Rotlichtmilieu.

Mein Mutter hantierte umständlich an ihrer Kaffeemaschine, und ich sah, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Sofort bereute ich meine Taktlosigkeit. Allerdings nur kurz.

»Du gönnst mir einfach mein Glück nicht. Weil Bart dich verlassen hat.«

Sie drehte sich um und sah mir messerscharf in die Augen. Ich schluckte und fühlte mich getroffen. Hatte meine Mutter vielleicht sogar recht? War ich eine neidische alternde Frau, die in ihrer Verbitterung auf anderen herumhackte, denen es besser ging als mir?

Doch ich verwarf den Gedanken sofort wieder, als ich einen Blick ins Wohnzimmer warf, von wo aus Hartmut mir ein zweideutiges Zwinkern zuwarf.

»Nein, ich würde dir dein Glück absolut gönnen, wenn du vielleicht mit einem pensionierten Studienrat zusammen wärst oder meinetwegen auch einem Gas- und Abwasserinstallateur«, zischte ich. »Aber doch bitte nicht mit einem Typen aus zwielichtigen Verhältnissen, der dauernd an dir herumfingert.«

Den letzten Satzteil hätte ich mir lieber sparen sollen, denn nun rauschte meine Mutter mit den beiden frisch gefüllten Kaffeetassen wie von der Tarantel gestochen und hoch erhobenen Hauptes ins Wohnzimmer zurück. Ich sah ein, dass sie momentan für die Stimme der Vernunft nicht erreichbar war, machte mir selbst ebenfalls einen Kaffee und ging ihr seufzend hinterher. Dort tat meine Mutter vor Hartmut dann so, als hätte unser kurzes Gespräch in der Küche nie stattgefunden. Ich wünschte, ich hätte wenigstens ihre Fähigkeit zur Verdrängung geerbt.

Meine Mutter war ihrerseits enttäuscht, dass Pablo kein reizendes Schoßhündchen war, das sie herzen und mit Kuchen füttern konnte. Vielmehr lag er knurrend hinter ihrem Sessel und fletschte Hartmut an, sobald dieser sich auch nur bewegte. Insgeheim freute es mich natürlich, dass mein Hund so eine gute Menschenkenntnis hatte. Ich beglückwünschte mich noch einmal zu meiner Haustierwahl und nutzte die Gefahrensituation für Hartmut als Ausrede, um mich alsbald verabschieden zu können. An den Mienen von Hartmut und meiner Mutter konnte ich erkennen, dass die beiden genauso erleichtert über das Ende des Treffens waren.

Auch wenn unsere Zusammenkunft im Nachhinein für beide Parteien nicht gerade positiv verlaufen war, waren wir doch immerhin einigermaßen quitt. Meine Mutter war enttäuscht über meinem Hund, ich entsetzt über ihren Mann.

»Hoffentlich heiraten sie wenigstens nicht«, raunte ich meinem Hund zu, als wir die Seniorenresidenz durch die Eingangshalle verließen. Aber in dieser Hinsicht konnte ich einigermaßen beruhigt sein, denn meine Mutter hatte nach dem Tod meines Vaters geschworen, Männer nun nur noch als Nomaden bei sich aufzunehmen. Allerdings hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nicht geglaubt, dass sie zu dem infrage kommenden Kreis von Bewerbern auch Herren zweifelhafter Herkunft zählen würde.

An diesem Abend brauchte ich eine extra Qigongeinheit und, als nicht einmal das mehr half, ein paar Gläser Wein, um mich mit dem neuen Familienzuwachs halbwegs zu arrangieren. Bestand nicht ohnehin das ganze Leben darin, missliebige Dinge so gut es ging in ein sanft getöntes Licht zu rücken, das es einem ermöglichte, sie wenigstens irgendwie zu akzeptieren? Zumindest sah ich das nach drei Gläsern Weißwein so.

Und ich hoffte darauf, dass meine Mutter irgendwann aus ihrer rosa Traumblase erwachen und selbst bemerken würde, was für einen windigen Charakter sie sich da ins Haus geholt hatte. Alles war eine Frage der Zeit und natürlich auch starker Nerven. Da das junge Glück aber ohnehin beabsichtigte, bald auf Kreuzfahrt zu gehen, würden diese zunächst einmal geschont bleiben.

 

Wenigstens hatte die Kommissarin Wort gehalten: Dreimal am Tag kreuzte ein Streifenwagen durch meine Straße, machte an meinem Haus kurz halt und fuhr wieder weiter, wenn die Beamten sich vergewissert hatten, dass alles in Ordnung war.

Das gab mir ein beruhigendes Gefühl, zumal die Aktion offenbar Wirkung zeigte, denn die Blitzbirne ließ sich die ganzen Tage über nicht blicken. Vermutlich hatte er sich ganz aus der Stadt verabschiedet, womöglich war er sogar ins Ausland geflüchtet. Seinen Drohbrief verbrannte ich im Garten, um keinerlei Spuren davon zu hinterlassen.

So vergaß ich nach und nach die Gefahr, ging wieder in den entspannten Alltag meines Sabbatjahrs über und konnte bald schon voller Zuversicht die Organisation neuer Projekte in Angriff nehmen.

Als nächster Programmpunkt meiner Auszeit stand der erste Besuch der Hundeschule mit Pablo an. Dass dieser dringend notwendig war, hatte er mit dem Biss in den Postbotenfinger eindrücklich bewiesen. Der Hund hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand, als ich eines Nachmittags seine Leine vom Garderobenhaken nahm und verlockend damit klapperte. Daher vermutete er seinen üblichen Spaziergang, kam erfreut angetrabt und ließ sich bereitwillig anleinen.

Autofahren liebte Pablo sehr, wie viele andere Hunde auch. Er sprang schwanzwedelnd in die Transportbox, legte sich entspannt hin und beobachtete auf der Fahrt frohgemut das Geschehen auf der Straße.

Der Hundetrainer wohnte etwas außerhalb der Stadt. Ich fuhr über den Zubringer auf die Autobahn und war nach fünfzehn Minuten in dem kleinen Dorf angekommen, das hauptsächlich aus trostlosen Häusern entlang der Hauptstraße bestand. Problemlos fand ich den ehemaligen Bauernhof, wo der Hundetrainer lebte und arbeitete.

Ich parkte meinen Wagen im Hof vor der Scheune und ließ Pablo aus der Transportbox springen. Auf der Stelle begann er mit wichtigen Schnüffelarbeiten rund um das Haus. Sicherlich gab es viele interessante Geruchsspuren von anderen Hunden, die sich hier zahlreich aufhalten mussten.

Außer meinem stand nur ein weiteres Auto im Hof, das vermutlich dem Besitzer gehörte. Ich ging zur Haustür des hübsch renovierten Backsteinhäuschens mit weißen Fensterläden und Blumenkästen und suchte die Klingel. Neben der Tür war ein Schild angebracht, auf dem Gerber – Hundepsychologe stand. Das gab mir sofort ein mulmiges Gefühl, denn die Berufsbezeichnung ließ vermuten, dass etwas mit meinem Tier nicht in Ordnung war. Beschützend legte ich meine Hand auf Pablos Kopf, der nichts ahnend neben mir stand und freudig auf die sich nun nähernden Schritte lauschte.

Ein freundlich lächelnder Mittvierziger mit halblangen, grau melierten Haaren und Jeanshemd öffnete die Tür, stellte sich als David vor und bat uns, mit ihm zu kommen. Ich stellte mich und Pablo mit dem Vornamen vor, wobei Pablo ohnehin keinen Nachnamen hatte. Pablo musterte den Hundepsychologen zunächst skeptisch, kam aber bereitwillig mit, als ich selbst Anstalten machte, dem Mann zu folgen.

Wir gingen durch das Scheunentor hindurch auf eine kurz gemähte Trainingswiese, wo der Hundepsychologe sich mit verschränkten Armen vor uns hinstellte und ohne Umschweife wissen wollte, was das Problem mit meinem Tier sei.

»Er mag keine Männer«, bekannte ich, und augenblicklich führte Pablo dieses Geständnis ad absurdum, sprang zu ihm hin und leckte ihm als Zeichen seiner »Abneigung« die Hand.

»Das sehe ich!« Der Hundepsychologe lachte und tätschelte Pablo zum Dank die Flanke, was dieser sich gern gefallen ließ.

»Präziser gesagt: Er mag keine unangenehmen Männer«, erklärte ich.

»Es ist ja an sich nichts Falsches, dass er bei bestimmten Männern misstrauisch ist«, befand David. »Wo liegt dann das Problem?«

»Er hat den Postboten gebissen«, gestand ich mit dem Gefühl, Pablo verteidigen zu müssen. »Aber das war an seinem ersten Tag bei mir, Pablo war vorher im Tierheim. Ich bin schuld, ich habe nicht aufgepasst.«

»Ist der Postbote so ein Unsympath?«, wollte David wissen und konnte sich dabei ein weiteres Grinsen nicht verkneifen.

»Nein«, erklärte ich, »der nicht. Aber …«

»Aber?« Der Hundepsychologe sah mich so offen an, dass ich ihm nach und nach die ganze Geschichte mit dem Bankraub erzählte, einschließlich der Bedrohung durch den Bankräuber. Besser gesagt, ich erzählte ihm fast die ganze Geschichte. Das Geld in meinem Garten verschwieg ich natürlich auch ihm.

Er hörte sich alles mit interessierter Psychologenmiene an und nickte gelegentlich.

»Das erklärt natürlich einiges. So oder so: Beißen geht nicht, da musst du was tun, wenn du den Hund behalten willst«, meinte er dann stirnrunzelnd.

Ich nahm mir vor, alles engagiert mitzumachen, um bloß zu verhindern, dass Pablo mir weggenommen wurde. Er war nicht nur ein guter Beschützer für mich, sondern mittlerweile auch ein geschätzter Begleiter geworden, auf den ich keinesfalls mehr verzichten wollte.

»Ich schaue mir das mal an. Geh bitte mal mit deinem Hund bis ans Ende dieser Wiese, und komm dann wieder zu mir zurück«, bat mich der Hundetrainer.

Ich verstand zwar nicht, was das mit dem Postboten und Pablos Aversion gegen Männer zu tun hatte, machte mich aber gleich mit ihm auf den Weg, um meine Bereitschaft zur Kooperation zu zeigen. Die Wiese war sehr lang und lag direkt am Ortsrand, nur von Fußwegen und Feldern umgeben. Im Sommer war es hier bestimmt sehr schön, aber jetzt, in der immer noch kühlen Aprilluft, fröstelte ich ein wenig. Mein Hund blieb die ganze Zeit über dicht an mir dran und machte keinerlei Anstalten, nach rechts oder links auszubrechen, was ich mit einem gewissen Besitzerstolz bemerkte. Sicherlich hatte der Hundepsychologe gedacht, Pablo wäre ein absolut unerzogener Hund und würde machen, was er wollte, doch genau das Gegenteil war der Fall. Als wir am Ende der Hundewiese angekommen waren, rief David: »Und jetzt ohne Leine zurück!«

Ich platzte fast vor Stolz, als Pablo auch auf dem Rückweg dicht bei mir blieb und sich dabei durch keinerlei interessante Gerüche oder Geräusche ablenken ließ. Wir waren ein Team, eine unzertrennliche Einheit, unterwegs, um dem Rest der Welt zu zeigen, wie großartig Mensch und Tier zusammenarbeiten können!

Vielleicht schickt mich der Hundepsychologe gleich wieder nach Hause, weil es gar kein Problem mit Pablo gibt, dachte ich in meiner unendlichen Vermessenheit. Schließlich hatte Pablo den Postboten ja nur gebissen, weil er dachte, er würde mich bedrohen. Dabei verdrängte ich vollkommen, dass ich mich im Moment in einer permanenten Bedrohungslage befand.

Als wir gut gelaunt wieder bei David einschwebten, stellte ich verwundert fest, dass dieser eine äußerst nachdenkliche Miene aufgesetzt hatte, und meine Laune sank sofort eine Etage tiefer.

»Ich glaube, ich weiß schon, wo das Problem liegt«, meinte der Hundepsychologe, und ich fand, dass er dabei reichlich anmaßend klang. Schließlich kannte er uns gerade mal eine halbe Stunde.

»Ach ja, wo denn?«, antwortete ich patziger als beabsichtigt. Schließlich wollte der Mann uns helfen, da war es nicht unbedingt schlau, ihn auch noch gegen mich aufzubringen.

»Der Hund klebt sehr dicht an dir dran. Er wittert nicht einmal die herrlichen Spuren der vielen Hunde, die sich hier sonst täglich tummeln.«

»Aber das ist doch gut. Andere Hunde, die ich bei unseren Spaziergängen sehe, machen oft nur das, was sie selbst wollen«, verteidigte ich Pablo.

»An sich ja. Aber in deinem Fall hat der Hund das Gefühl, dass er dich nicht aus den Augen lassen darf, weil er dich allein offenbar für komplett lebensunfähig hält. Und das Ganze stresst ihn sichtlich.«

Ich sog empört die Luft ein. »Wie bitte? Ich komme sehr wohl allein zurecht! Schließlich war ich vor Pablo ja auch alleinlebend und durchaus in der Lage, für mich zu sorgen.«

Der Hundetrainer lächelte milde, was mich nur noch aggressiver machte. »Und dein Verfolger? Kommst du mit dem auch allein zurecht?«

Jetzt hatte er mich erwischt! Ich seufzte tief auf, starrte eine Weile auf die noch kahlen Bäume rund um sein Haus und nickte ergeben. »Bist du eigentlich Hundepsychologe oder Hundehalterpsychologe?«

»Beides«, antwortete er lachend. »Aber meistens Letzteres. Ein Großteil der Probleme entsteht nicht etwa durch das Tier, sondern durch den Menschen. Du musst dem Hund klarmachen, dass du stark bist und als Rudelführer geeignet, sonst kann er sich in deiner Gegenwart nicht entspannen.«

Ich schwieg und ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen, während ich meinen Hund beobachtete, der mich tatsächlich keine Sekunde aus den Augen ließ. »Pablo hat aber schon Männer gehasst, bevor er mich armes, beschützenswertes Wesen kennengelernt hat«, bemerkte ich dann.

David lachte. »Das stimmt. Aber wir fangen jetzt erst mal mit dir an, das ist einfacher. Was Pablo in der Vergangenheit erlebt hat, wissen wir nicht. Du musst die genetischen Veranlagungen deines Hütehundes so lenken, dass er einerseits der Umwelt keine Probleme macht und andererseits selbst glücklich und zufrieden ist.«

Warum war mir nie aufgefallen, dass Pablo tatsächlich einen angespannten und fast schon lauernden Eindruck machte? War ich so sehr mit mir selbst und meinen Themen beschäftigt gewesen, dass ich seine Not glatt übersehen hatte? Ich schämte mich ein bisschen, wenn ich daran dachte, dass ich Pablo damit ziemlich großem Stress ausgesetzt haben musste, und beschloss, mich zu bessern.

Den Rest der Stunde verbrachte ich damit, widerspruchslos zu tun, was der Trainer verlangte. Ich sollte den gleichen Weg noch einmal alleine gehen, während Pablo bei David sitzen bleiben musste, was ihm sichtlich schwerfiel.

Die ersten beiden Male jaulte er kläglich hinter mir her und versuchte, sich loszureißen, weshalb ich mich sehr zügeln musste, nicht sofort wieder kehrtzumachen. Doch ich widerstand zähneknirschend der Versuchung, und beim dritten Mal saß Pablo schon recht entspannt neben dem Trainer und begrüßte mich umso euphorischer, indem er mir mit seiner großen, rauen Zunge sabbernd durchs Gesicht fuhr, als ich wieder bei ihm war. Zur Belohnung durfte ich ihm dann ein Leckerli geben. Mein Gesicht wischte ich verstohlen mit dem Jackenärmel ab.

Ein Hundetraining zu absolvieren bedeutete also, seinen Hund nicht zu beachten und um Erlaubnis bitten zu müssen, wenn man ihn dafür mit einem Kauknochen belohnte. Das fühlte sich schon ziemlich seltsam an. Von der erfolgreichen Geschäftsfrau war ich innerhalb einer Trainingseinheit zur komplett unselbstständigen Anfängerin mutiert.

»Das klappt ja schon ganz gut«, lobte David mich nach meinem Geschmack etwas zu herablassend. »Jetzt geht ihr beiden noch eine Runde zusammen. Aber du musst ihn unbedingt ignorieren, egal, was er tut.«

Ich schluckte und machte mich mit Pablo auf den Weg. Schon nach wenigen Schritten war er wegen meines abweisenden Verhaltens stark verunsichert, stupste mich mehrfach an, bellte und versuchte, durch alle möglichen Aktionen meine Aufmerksamkeit zu erhaschen. Aber ich blieb eisern und ignorierte ihn, obwohl es mir ungemein schwerfiel. Schließlich wollte ich meinem Hund beweisen, dass ich stark war und dass er nicht auf mich aufpassen musste. Als wir wieder beim Trainer angekommen waren, war ich vor lauter Anstrengung, meinen Hund nicht zu beachten, wie gerädert.

»So, das reicht erst mal für heute«, meinte David zufrieden. »Das machst du jetzt bitte zu Hause genauso weiter. Als Rudeltiere ordnen sich Hunde dem stärksten Wesen unter. Und das musst ab jetzt du sein. Es muss ja trotzdem keine Hund-Mensch-Diktatur sein, sondern du kannst auch eine Demokratie anführen. Mit Betonung auf anführen.«

Ich fühlte mich wie eine Siebtklässlerin, die unfreiwillig zur Klassensprecherin gewählt worden war. Aber was blieb mir anderes übrig, als die Ratschläge des Trainers zu akzeptieren, wenn ich meinem Hund nicht schaden wollte? Also nickte ich artig.

»Und unbedingt konsequent sein, dann wird das schon. Ich habe ein ganz gutes Gefühl bei euch beiden.«

Ich nickte wieder, diesmal allerdings geschmeichelt, und sah zufrieden auf Pablo, der etwas konsterniert in der Wiese saß. Er hatte sich für die erste Sitzung wacker geschlagen. Zur Belohnung tätschelte ich seinen Kopf und gab ihm noch ein Leckerli. Ganz ohne Erlaubnis.

Eine Sache trieb mich jedoch noch um.

»Was ist, wenn ich wirklich bedroht werde und seine Hilfe brauche? Denkt er dann auch, ich bin selbstständig genug und komme alleine klar?«

»Das wird Pablo dann schon unterscheiden können, keine Sorge«, beruhigte mich David. »Wenn du selbst nicht entspannt bist, dann ist dein Hund es auch nicht und wird nicht von deiner Seite weichen.«

»Aber könnte ich ihm auch beibringen, dass er zum Beispiel einen Angreifer beißt?«

David schloss für einen Moment die Augen, als ob allein die Frage ihn als Vertreter der gewaltfreien Hundeerziehung schmerzen würde, und schüttelte den Kopf. »Wenn wir ihn zur Gewaltlosigkeit und Entspannung erziehen, können wir ihn nicht gleichzeitig zum Kampfhund ausbilden.«

Als der Hundetrainer die Augen wieder aufschlug und bemerkte, dass ich ihn entsetzt ansah, fügte er hinzu: »Aber im Zweifelsfall versteht jeder Hund, der es geübt hat, ein einfaches: Fass!«

Ich nickte, allerdings nur halbwegs beruhigt. Auf jeden Fall würde ich mit Pablo in der nächsten Zeit das Kommando »Fass!« im Garten trainieren, damit ich auf der sicheren Seite war.

David schien meine Gedanken zu lesen. »Für heute ist es genug, denke ich. Nächstes Mal trainieren wir dann ein paar Kommandos, gerne auch ›Fass!‹.«

Nach diesen Worten begleitete er uns in den Hof zurück zu meinem Auto. Pablo schien das Ganze sogar Spaß gemacht zu haben, denn er wollte zunächst gar nicht in seine Transportbox springen, sondern musste erst mit einem Leckerli dazu überredet werden, was natürlich in Davids Augen eine erneute Schwäche meinerseits darstellte.

Ich lächelte entschuldigend, hievte mich so erschöpft in meinen Wagen, als ob ich gerade einen Viertausender bezwungen hätte, und verabschiedete mich. Dann fuhr ich vom Hof und sah im Rückspiegel den kleiner werdenden Hundepsychologen, der tatsächlich eher ein Hundehalterpsychologe war.