Nach dieser Demütigung brauchte ich dringend eine Stärkung. Also lenkte ich den Wagen zurück in die Stadt und parkte vor einem thailändischen Restaurant, das ich gerne aufsuchte. Natürlich waren jetzt zur Mittagszeit fast alle Tische besetzt, doch ich hatte Glück und bekam vom Kellner noch einen freien Tisch zugewiesen, wenngleich sich dieser vor dem Durchgang zu den sanitären Anlagen befand. Doch die Aussicht auf eine kräftigende Tom-Yum-Suppe und ein Curry mit roter Erdnusssoße tröstete mich über den schlechten Platz hinweg.
Pablo war neugierig mit mir durchs Lokal getrabt und hatte nach allen Richtungen seine Nase in die Luft gestreckt. Ihm mussten die köstlichen Gerüche, die schon mir das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen, mit seinem Hochleistungsorgan Hundenase noch sehr viel verlockender erscheinen.
Bei meinen Recherchen hatte ich erfahren, dass ein Hund sechzig Mal mehr Riechzellen hat als ein Mensch und sogar stereo riechen und daher mehrere Fährten gleichzeitig verfolgen kann. Außerdem reicht sein Riechvermögen mehr als drei Meter ins Erdreich hinein. Deshalb eignen sich Hunde so gut als Rettungshunde auf der Suche nach Verschütteten bei einem Bergrutsch.
Pablo hatte aber im Moment etwas ganz anderes im Sinn, als in die Tiefe zu graben, denn er verfolgte gezielt eine Geruchsspur in Richtung Küche. Ihn von dort fortzulocken, kostete mich einige Leckerlis und Überredungskünste. Danach saßen wir endlich an dem uns zugewiesenen Platz.
Ohne in die Speisekarte zu blicken, bestellte ich mir ein Essen bei einer etwas muffigen thailändischen Kellnerin, die vermutlich viel Geld für ein nicht besonders gelungenes Permanent-Make-up ausgegeben hatte. Dazu gönnte ich mir noch ein kleines Bier und lehnte mich entspannt zurück. Pablo hatte es sich inzwischen unter meinem Tisch bequem gemacht.
Ich sah mich im Lokal um. Es war sehr geschmackvoll mit thailändischen Möbeln, Wandbehängen und kunstvoll geschnitzten Figuren ausgestattet. Die einzelnen Tische wurden durch exotische Pflanzen voneinander abgetrennt, sodass man sich trotz des voll besetzten Lokals nicht beobachtet fühlte.
Ich dachte noch einmal über das nach, was der Hundepsychologe gesagt hatte, und nahm mir fest vor, Pablo nicht zu sehr mit meiner Angst zu belasten. Mir war natürlich klar, dass der Bankräuber irgendwann wieder auftauchen würde. Aber für den Moment war das Problem zumindest auf Eis gelegt.
Am Tisch hinter mir unterhielten sich ein Mann und eine Frau lautstark über irgendeine arme Irre, die anscheinend plötzlich durchgedreht war und alles, was sie erreicht hatte, einfach hingeworfen hatte.
Das könnte man genauso gut von mir sagen, dachte ich amüsiert, lehnte mich zurück und versuchte, etwas mehr von dem Gesprächsinhalt mitzubekommen.
Mein Bier und meine Suppe wurden von einem Kellner gebracht, und ich wollte schon anfangen zu essen, als ich feststellte, dass mir eine der beiden Stimmen seltsam bekannt vorkam. Plötzlich war ich hellwach, was mein Gehör deutlich schärfte.
»Das rechne ich Ihnen hoch an, dass Sie mir das gesagt haben«, sagte diese männliche Stimme nun mit empörtem Unterton. »Zum doppelten Preis!«
»Nun, ich dachte, das sollten Sie wissen. Schließlich ist es Betrug an Ihrem künstlerischen Werk«, säuselte die andere Stimme, die ich jetzt als die meiner früheren Assistentin Konstanze identifizierte. Die männliche Stimme war eindeutig mein»Künstlerfreund« Elvis Esposito. Und mit der armen Irren war also tatsächlich ich gemeint!
Überdies hatte Konstanze, diese falsche Schlange, Esposito gerade mein geheimes Entschädigungsmodell offengelegt.
Die Suppe dampfte verlockend vor sich hin, doch mir war jeglicher Hunger vergangen. Ich nahm zur Beruhigung einen Schluck von meinem Bier.
»Der vierfache Preis wäre ja wohl deutlich angemessener gewesen«, fuhr Esposito fort. »Schließlich ist mein Marktwert erheblich gestiegen.«
Wie immer war bei Esposito alles nur eine Frage des Geldes, nicht etwa der Moral. Er vergaß dabei gänzlich, dass er seine Marktwertsteigerung einzig und allein mir zu verdanken hatte.
»Darüber können wir uns noch unterhalten«, meinte Konstanze. »Schließlich ist die Nachfrage nach Ihren Werken ko-me-ten-haft in die Höhe geschossen. Und Frau van den Broek muss schließlich nicht alles wissen. Einen Teil können wir sicher an ihr vorbeischleusen.«
Die zwei stimmten in ihr komplizenhaftes Lachen ein und stießen mit zwei Gläsern an, die sich nach Sektkelchen anhörten. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte ihnen ihr Verschwörungsgetränk ins Gesicht geschüttet.
Doch ich entschied, lieber in aller Ruhe darüber nachzudenken, wie ich ihren hinterlistigen Plan, ihre Geschäfte an mir »vorbeizuschleusen«, durchkreuzen konnte.
Um mich ein wenig zu stärken, aß ich erst einmal etwas von meiner Suppe. Selbst in meinem momentanen Zustand bemerkte ich, dass die Mischung aus Kokosmilch, Zitronengras und Fischsoße wieder einmal köstlich schmeckte. Aber in mir tobte ein wahrer Sturm der Empörung.
»Bald kommt Herr Laiss vorbei, um sich Emily – New York anzusehen«, zwitscherte Konstanze unterdessen weiter. »Da werde ich gleich mal den neuen Preis draufschlagen.«
Esposito lachte so anerkennend wie dreckig. Und wieder war ein Gläserklirren zu hören. Ich musste sehr an mich halten, um mich nicht zu verraten.
Herr Laiss war ein verrückter Sammler aus der Schweiz, der sein ganzes mühsam ererbtes Geld für Kunst ausgab. Je teurer etwas war, desto mehr reizte es ihn.
Was hätte man alles Sinnvolles mit dem Geld tun können, zum Beispiel die Klimaerwärmung aufhalten, den Welthunger lindern oder die Frauenrechte in sogenannten Entwicklungsländern stärken! Stattdessen lagerte Laiss in einer riesigen Halle, deren Miete jeden Monat Unsummen verschlang, Millionenwerte an Bildern, Skulpturen und Objekten, von denen er sich versprach, dass sie im Lauf der Zeit noch wertvoller wurden, als sie es ohnehin schon waren.
Selbstverständlich mag ich Kunst, ich bin nur dagegen, dass sie immer mehr zu einem Luxusgut verkommt und nicht mehr der Allgemeinheit zur Verfügung steht. Mir ist klar, dass das eine seltsame Einstellung für eine Galeristin ist, die doch davon profitiert, dass Kunst ein Konsumgut ist. Aber gerade weil ich die Kunst so schätze, ist es mir wichtig, dass sie hauptsächlich wegen ihrer politischen, sozialen und ästhetischen Sprengkraft von Bedeutung ist und nicht wegen ihres Marktwerts.
Plötzlich wusste ich, wie ich den perfiden Plan der beiden vereiteln konnte. Fast machte es mir Spaß, Konstanze und Esposito mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen. Jetzt musste ich nur aufpassen, dass die zwei Verräter mich nicht entdeckten.
Das war nicht ganz einfach, denn kurz darauf erhob sich Esposito, um in Richtung der Toiletten zu gehen, wobei er auch an meinem Tisch vorbeikommen würde. Ich bückte mich sofort zu Pablo hinunter und tat, als ob ich meinen Hund beruhigen müsse. Dieser schreckte aus seinem Schlaf auf, sah verdutzt zu mir hoch und wunderte sich, was ich von ihm wollte. Ich konnte ihm ansehen, dass er mich gerade wieder für komplett lebensunfähig hielt.
Schnell nahm ich meine Sonnenbrille und mein Tuch aus der Handtasche und kam erst wieder hoch, als Esposito vorbeigegangen war. Rasch schlang ich mir das Tuch wie einen Turban um den Kopf und setzte die Sonnenbrille auf.
Konstanze drehte mir zum Glück den Rücken zu, sodass von dieser Seite aus keine Gefahr drohte. Wenn Esposito jedoch aus der Toilette herauskam, würde er mir frontal ins Gesicht blicken und mich sicher trotz meiner Tarnung erkennen. Ich musste also genau in dem Moment wieder abtauchen, in dem er zurückkam. Angespannt wartete ich darauf, dass die Türklinke der Toilette heruntergedrückt wurde. Doch ich hatte Glück: Als es so weit war, kam gerade die mürrische Kellnerin, um mir mein Hauptgericht zu servieren. Bei meinem Anblick zog sie erstaunt eine ihrer ziselierten Augenbrauen hoch und knallte Gemüse und Reis auf den Tisch. Esposito ging vorbei, streifte mich nachdenklich mit seinen Blicken, schien mich aber dennoch nicht zu erkennen, da die Kellnerin mich halb verdeckte.
Ich gab vor, noch einmal etwas in meiner Handtasche unter dem Tisch suchen zu müssen. Die Kellnerin schüttelte den Kopf und verschwand.
Mit großer Erleichterung nahm ich kurze Zeit später zur Kenntnis, dass Esposito und Konstanze ihre Rechnung bezahlten (wobei Konstanze sie vermutlich auf Galeriekosten beglich) und sie das Lokal gemeinsam verließen. Nun konnte ich mich endlich wieder demaskieren und mein Mahl genießen.
Doch obwohl das Thaicurry genauso köstlich war wie die Vorspeise, schmeckte mir das Essen nicht mehr. Ich war verärgert und angespannt. Seit ich mein ungeliebtes Leben in der Galerie verlassen hatte, schienen sich die Probleme nur noch mehr anzuhäufen. So hatte ich mir mein neues Leben ganz sicher nicht vorgestellt.
Unwirsch schob ich den Teller nach wenigen Bissen beiseite und verlangte die Rechnung, als die Kellnerin gerade in der Nähe war. Sie warf einen tadelnden Blick auf den fast noch vollen Teller, und zum Ausgleich gab ich ihr ein besonders hohes Trinkgeld, das sie gnädig und ohne Dankesworte entgegennahm.
Missgestimmt verließ ich das Lokal und lief zu meinem Wagen. Pablo war durch meine schlechte Laune derart verunsichert, dass er sofort wieder in die alte Beschützerposition verfiel und sich eng an mich presste.
»Es ist alles okay«, versuchte ich, ihn zu beruhigen, aber Hunden konnte man leider nichts vormachen. Er bestand darauf, dicht bei mir zu bleiben, und weigerte sich sogar zunächst, in seine Transportkiste zu klettern. Erst nach mehreren Bestechungsversuchen mit Leckerlis konnte ich ihn dazu bringen. Letztendlich war ich froh, dass ich nach Hause fahren konnte, um dort in Ruhe einen Espresso zu trinken und vielleicht ein paar Qigongübungen zur Verbesserung meines Allgemeinzustandes zu absolvieren.
Doch als ich meinen Kombi im Hof abstellte und den Hund aus der Kiste ließ, merkte ich sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Pablo stellte die Ohren auf, spannte seinen Körper an und schnüffelte aufgeregt herum. Augenblicklich verfiel ich in einen Alarmzustand. Hatte ich mir meine momentane Sicherheit nur eingebildet, und der Bankräuber schlich längst wieder um mein Haus herum?
Auf den ersten Blick war alles ruhig. Ich nahm Pablo an die Leine und ließ ihn der Geruchsspur folgen, die zu meinem Entsetzen direkt über den Hof zur Haustür führte. Ich überlegte kurz, ob ich die Kommissarin anrufen sollte, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, da ich nichts anderes vorzuweisen hatte als einen Hund, der irgendeine Spur, womöglich die eines Eichhörnchens oder einer Maus, witterte. Schließlich wollte ich die Aufmerksamkeit von Frau Ritter auch nicht allzu sehr auf mich lenken.
Also nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, bedeutete Pablo, still zu sein, atmete tief durch und steckte möglichst geräuschlos den Schlüssel ins Schloss.
Auch im Haus schien alles in Ordnung zu sein. Der Flur war so, wie ich ihn heute Morgen zurückgelassen hatte, als ich eilig die Hausschuhe abgestreift hatte und in meine Stiefel geschlüpft war.
Aber irgendetwas stimmte nicht.
Pablo legte beim Betreten des Hauses erneut die Ohren an und knurrte nun leise. Es war eindeutig, dass sich jemand im Haus befand, der da nicht hingehörte. Mein Herz pochte bis zum Hals. Ich legte meine Tasche leise auf der Kommode ab, nahm als Waffe einen Schirm aus dem Ständer und pirschte mich behutsam durch den Flur vor in Richtung Wohnzimmer.
Dass dies nun der geeignete Moment gewesen wäre, doch noch die Kommissarin anzurufen, kam mir vor lauter Anspannung nicht in den Sinn. Pablo wich nicht von meiner Seite, was mir jetzt nur allzu recht war. Gut, dass der Hundepsychologe es nicht ganz geschafft hatte, ihn innerhalb einer Trainingseinheit zur vollkommenen Selbstständigkeit zu erziehen. Oder vielmehr mich.
Die Tür zum Wohnzimmer stand sperrangelweit offen, sodass ich schon vom Flur aus sehen konnte, wie gut Pablos Instinkt war. Denn am Ende meines Sofas ragten ein paar Männerfüße hervor. Der Besitzer der Füße schlief ganz offensichtlich, denn nun hörte ich auch ein leises Schnarchen. Ich registrierte, dass die Socken Löcher hatten, was in diesem Augenblick natürlich völlig unerheblich war. Doch in Notsituationen klammert sich das menschliche Gehirn wohl an eher unwichtige Details, damit die eigentliche Bedrohung nicht allzu groß wirkt. Die eigentliche Bedrohung war, dass hier auf meinem Sofa ein Bankräuber lag, der in mein Haus eingedrungen war. Dass er auch noch die Frechheit besaß, hier in aller Ruhe seinen Mittagsschlaf abzuhalten, empörte mich dabei ganz besonders.
Es war zu spät, um den Rückzug anzutreten, denn Pablo knurrte nun so laut, dass Bewegung in die Füße des Mannes kam. Das Einzige, was mir jetzt noch half, war, dass ich einen kleinen Vorsprung hatte. Ich musste handeln, und zwar schnell!
Mit beiden Armen hob ich den Schirm in die Höhe, rannte zur anderen Seite des Sofas und stürzte mich, während Pablo laut bellend um mich herumsprang, mit Gebrüll auf den Eindringling.
In dem Moment, als der Schirm auf den Hinterkopf des Bankräubers niederging, bemerkte ich, dass irgendetwas gerade vollkommen falsch lief, war aber nicht mehr in der Lage, den Schlag noch wesentlich abzufangen.