An besagtem Tag strapazierte Julian schon am frühen Morgen mein angeschlagenes Nervenkostüm mit dem Hinweis, dass er sich wegen seiner Gehirnerschütterung wieder schonen müsse und daher keine körperlichen Arbeiten im Garten übernehmen könne.
Ich ging seufzend nach draußen, um mich ohne Julian dem zunehmenden Wildwuchs in meinem japanischen Garten zu widmen, wobei Pablo fröhlich um mich herumsprang und offenbar alles, was ich tat, als Teil eines heiteren Spiels auffasste.
Es war der erste richtig warme Maitag des Jahres, die Mittagsluft roch nach Sommer und Grillkohle, und die Vögel überboten sich in einem Wettbewerb um das schönste Zwitschern. Bald vergaß ich meinen Ärger und entspannte mich zusehends.
Doch gerade als ich dachte, dass Gartenarbeit sich doch wohltuend auf den menschlichen Organismus auswirkte, stemmte Pablo plötzlich seine Hinterbeine in den Rasen, stellte seine Nackenhaare auf, begann zu knurren und starrte wie hypnotisiert in Richtung Hecke.
Der Schreck fuhr mir in die Glieder. War der Bankräuber zurückgekehrt und schlich gerade um mein Grundstück herum? Beobachtete er mich womöglich schon die ganze Zeit? Sofort richtete ich die Heckenschere auf die Stelle, die mein Hund nicht mehr aus den Augen ließ.
Ich sah panisch zur geöffneten Terrassentür des Hauses, doch mein Sohn, der sich drinnen auf dem Wohnzimmersofa schonte, hatte nichts mitbekommen, da er Kopfhörer trug, die die Ohren dicht umschlossen, sehr laut Musik hörte und dabei heftig mit dem Kopf wippte. Das war anscheinend mit seiner Gehirnerschütterung problemlos vereinbar.
Ich sah zurück zur Hecke und bemerkte zu meinem noch größeren Schrecken, dass deren Zweige sich bewegten.
Frau Dr. Klingenberg besaß einen dicklichen, silberfarbenen Kater von meiner Meinung nach etwas schlichtem Gemüt, natürlich eine teure Rassekatze. Seine Besitzerin hatte mir auf der Straße einmal einen Vortrag über die Vorzüge von Britisch-Kurzhaar-Katzen gehalten, die angeblich zu den gemütlichsten und gutmütigsten Katzen überhaupt gehören. Genau diese Eigenschaften wurden dem Kater, den seine Besitzerin nach niemand Geringerem als dem Komponisten Schostakowitsch benannt hatte, in diesem Moment zum Verhängnis. Besagter Kater brach nämlich gerade durch die von Pablo anvisierte Hecke und spazierte völlig unbeeindruckt von dem knurrenden Hund mit einer geradezu provozierenden Langsamkeit über den Rasen.
Ich war zugleich erleichtert und alarmiert. Immerhin war nicht der Bankräuber die Ursache von Pablos aggressivem Verhalten gewesen, was an sich gut war. Aber offenbar hatte mein Hund eine bisher unentdeckte Abneigung gegen Katzen. Oder zumindest gegen diesen Kater. Das war allerdings schlecht, sehr schlecht.
Denn Schostakowitsch spazierte oft durch meinen Garten, um eine Abkürzung nach Hause zu nehmen. Und Pablo machte nicht den Eindruck, als ob er diesen Eindringling in seinem neuen Revier freudig begrüßen würde.
Entschlossen warf ich die Heckenschere beiseite und rannte zu meinem Hund, um ihn am Halsband zu packen und festzuhalten. Doch es war bereits zu spät. Pablo hatte zu einem großen Sprung angesetzt, stürzte sich auf den ahnungslosen Kater, warf ihn um und nagelte ihn mit beiden Vorderpfoten auf dem Rasen fest.
Schostakowitsch sah überrascht aus, schien aber nicht zu begreifen, in welch prekärer Lage er sich befand. Allerdings brachten die geschätzten fünfundzwanzig Kilo Teilgewicht, mit denen Pablo gerade auf ihm lastete, ihn zunehmend in Atemnot.
»Das Tolle an Britisch-Kurzhaar-Katzen ist, dass sie kaum miauen«, erinnerte ich mich an die Lobeshymne meiner Nachbarin. Nicht einmal, wenn sie in Lebensgefahr sind, ergänzte ich in Gedanken, während ich zu Pablo hechtete und ihn von Schostakowitsch hinunterstieß.
Mein Hund und ich rollten einmal auf dem Rasen umeinander herum und blieben dann liegen wie zwei Preisringer. Wobei ich den unterlegenen Part übernahm, denn Pablo drückte nun mich mit seinem ganzen Gewicht auf den Boden.
»Geh sofort von mir runter«, herrschte ich meinen Hund an, wobei ich gleich zwei Gesetze der Hundeerziehung auf einmal brach, nämlich den Hund nicht anzuschreien und ihm keine Kommandos zu geben, die er nicht kannte. Verständlicherweise hatte der Hundepsychologe noch nicht thematisiert, wie Pablo von seinem Frauchen abzusteigen hatte. Entsprechend ahnungslos blickte er drein. Also nahm ich all meine Kraft zusammen und wuchtete den Hund gegen erheblichen Widerstand von meinem Körper.
Jetzt erst merkte ich, dass meine rechte Schulter von der ungünstigen Landung höllisch schmerzte. Ich bewegte sie vorsichtig, rollte sie vor und zurück und stellte fest, dass zumindest nichts gebrochen war. Mühsam richtete ich mich auf und sah mich nach Schostakowitsch um. Er lag immer noch völlig ungerührt da, sah aber zumindest nicht mehr ganz so platt aus und atmete wieder einigermaßen normal.
Mein Hund machte allerdings schon wieder Anstalten, sich auf ihn zu stürzen. Ich rollte mich unter Schmerzen zu ihm, streckte den nicht lädierten Arm aus und krallte meine Hand in sein Halsband.
»Sch!«, zischte ich dann. »Verschwinde, Schostakowitsch! Sch! Sch!«
Der Kater sah mich erstaunt an, erhob sich dann ohne große Hast und ging gemächlich über den Rasen auf die andere Heckenseite zu. Pablo drehte fast durch, jaulte und tobte, schaffte es aber nicht, meinem Klammergriff mit nun beiden Händen zu entkommen. Ein unbarmherziger Schmerz schoss bei jedem Zerren seinerseits durch meine versehrte Schulter.
»Julian!«, brüllte ich. »Hilf mir!« Doch mein Sohn lag weiter headbangend auf dem Sofa und bekam überhaupt nicht mit, welcher Kampf sich gerade in unserem Garten abspielte.
Schostakowitsch sah sich noch einmal gemächlich nach Pablo um, bevor er sich endlich durch die Hecke auf die Straße hinauszwängte. Ich löste meine Hände aus Pablos Halsband und ließ mich zurück auf den Rasen fallen, wo ich mich dem bohrenden Schmerz hingab.
Pablo galoppierte sofort an die Stelle der Hecke, wo Schostakowitsch verschwunden war, und knurrte wild. Darüber machte ich mir jedoch keine Sorgen. Die Hecke war dicht, der Nachbarskater in Sicherheit, und das war alles, was im Moment zählte.
Ich ließ den Hund geschlagene fünf Minuten knurren und bellen, ehe ich mich stark genug fühlte, wieder aufzustehen und Pablo von der Hecke wegzuziehen, was allerdings erneut auf erheblichen Widerstand stieß. Er wand sich wie ein Aal, schnappte gar nach mir und versuchte, sich loszureißen. Doch ich entwickelte noch einmal Mal Bärenkräfte, zerrte das jaulende Tier ins Haus und schloss mit letzter Kraft die Terrassentür hinter uns.
Im Wohnzimmer ließ ich mich erschöpft auf einen Sessel fallen und hielt mir mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter.
Da nahm Julian endlich seine Kopfhörer ab, sah mich gelangweilt an und fragte: »Was gibt’s heute eigentlich zu essen?«
Ich weiß nicht mehr jedes Wort, was ich daraufhin zu ihm gesagt habe. Aber es waren verletzende Dinge, Worte wie Egoist und Nichtstuer waren dabei, als ich ihm in den dunkelsten Farben ausmalte, dass Schostakowitsch hätte tot sein können, weil er mir nicht geholfen hatte. Ich warf ihm vor, dass er nie etwas erreichen würde, wenn er nur herumlag, und dass ich keineswegs vorhatte, ihn dabei durchzufüttern. Also lauter Sätze, die man von seiner eigenen Elterngeneration gehört und bei denen man sich damals geschworen hatte, sie nie bei seinen eigenen Kindern einzusetzen. Doch seltsamerweise tat es mir überhaupt nicht leid. Meine ganze angestaute Wut und Enttäuschung mussten aus mir heraus, und es war fast wohltuend, dabei auf nichts und niemanden Rücksicht zu nehmen.
Das sah Julian offensichtlich ganz anders. Er war im Lauf meiner Raserei totenbleich geworden, und als ich endlich fertig war, erhob er sich abrupt vom Sofa und rauschte mit ungeahnter Geschwindigkeit nach oben in sein Zimmer.
Ich blieb seltsam zufrieden zurück. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, wenn mein Sohn auf diese Art etwas in Schwung kam. Einen Moment lang genoss ich noch die abklingende Welle meiner Wut, bis diese schließlich ganz verebbt war.
Bevor mir noch irgendwelche Zweifel an meiner Brandrede kommen konnten, beschloss ich, dem Tag noch eine schöne Schlusspointe zu geben, holte mein Handy aus der Tasche und wählte die Nummer von Herrn Laiss, dem Schweizer Sammler. Warum sollte ich bis nächsten Mittwoch warten, wenn man die Dinge auch gleich erledigen konnte?
Reto Laiss meldete sich mit einem erfreuten: »Grüezi, Frau van den Broek!«
Wir tauschten zunächst einige Höflichkeitsfloskeln über die Familie und unser Wohlbefinden aus, bevor ich zur Sache kam. »Wir haben in all den Jahren doch immer sehr gut zusammengearbeitet«, begann ich scheinheilig.
»Aber sicher, Sie haben mir ein paar lohnende Investitionen vermittelt«, bestätigte Herr Laiss.
Ich schnaubte innerlich. Investitionen! Das war genau der Grund, warum ich in meiner Arbeit keinen Sinn mehr sah, weil Leute wie er die Kunst nur noch als Kapitalanlage ansahen.
»Genau darum geht es«, fuhr ich fort. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie beabsichtigen, einen Esposito zu erwerben. Und Sie haben ja sicher gehört, dass ich mir momentan eine Auszeit gönne.«
Herr Laiss bestätigte, dies von meiner Assistentin gehört zu haben, und bedauerte zugleich, dass er mich demnach am nächsten Mittwoch nicht antreffen werde.
»Das ist der Grund, warum ich mich bei Ihnen melde«, säuselte ich weiter. »Und natürlich auch aus alter Verbundenheit zu Ihnen als langjährigem Kunden, der, wenn ich das sagen darf, in den letzten Jahren auch zu einem Freund geworden ist.«
Ich hoffte, dass ich nicht zu dick auftrug, doch dies war offenbar nicht der Fall, denn ich hörte durchs Telefon, wie er geschmeichelt lachte.
»Der Esposito hat ja gerade einen richtigen Hype«, meinte er dann.
»Genau das ist ja das Problem«, unkte ich. »Einen Hype.«
»Was meinen Sie damit?«, sagte er verunsichert.
Ich wusste, dass ich Laiss nun an der Angel hatte.
»Also, das ist jetzt für mich absolut geschäftsschädigend. Aber gerade Ihnen will ich auf keinen Fall einen Verlust bescheren. Nach dem Hype kommt eben oft der Absturz.«
»Der Absturz«, echote Herr Laiss. »Aber doch nicht bei Esposito.«
Ich senkte geheimnisvoll meine Stimme. »Das verrate ich Ihnen jetzt unter dem absoluten Siegel der Verschwiegenheit. Ich habe gestern mit Alice telefoniert.«
»Alice Walton?«
»Genau, die Kunstsammlerin und Walmart-Erbin.« Ich wusste, dass er einmal in ihrem Museum Crystal Bridges in Bentonville gewesen war und sie als Sammlerin sehr verehrte.
»Und was hat sie gesagt?«, fragte Laiss.
»Sie wissen ja, dass Alice nur amerikanische Künstler sammelt. Aber sie hat einen guten Überblick über den gesamten Kunstmarkt in den USA, auf dem Esposito ja gerade versucht, Fuß zu fassen. Und sie meinte, Esposito werde sich im Zuge der Me-too-Bewegung zu einem absoluten Ladenhüter entwickeln.«
Ich hoffte, Laiss würde nicht darauf kommen, dass eine so bedeutende Sammlerin wie Walton ein kleines Licht wie Esposito sicher nicht einmal kannte. Geschweige denn eine kleine Galeristin wie mich. Doch am anderen Ende war nur ein Grunzen zu hören, mit dem der Sammler seinen Unmut zum Ausdruck brachte. Ich wusste nicht, ob er damit den Wertverfall von Espositos Kunst oder den Widerstand der Frauen meinte.
Eine Sekunde später war ich klüger.
»Was haben die denn jetzt schon wieder? Man traut sich ja noch nicht mal mehr, jemandem ein Kompliment zu machen«, regte Laiss sich auf.
Ich kämpfte eine Weile gegen die aufsteigende Übelkeit. »Nun, manche Frauen tun sich vielleicht schwer damit, als Krake dargestellt zu werden«, antwortete ich dann zuckersüß. »Aber sagen Sie niemandem, dass Sie das mit Esposito von mir wissen, das ist topsecret.«
»Natürlich!« Laiss dachte eine Weile nach. »Unter diesen Umständen sage ich das natürlich ab«, meinte er schließlich. »Wenn das Zeug nachher nix mehr wert ist.«
Ich seufzte innerlich, bestätigte ihn aber in seiner Entscheidung. Er bedankte sich bei mir für meine Loyalität, dann beendeten wir ohne weiteren Austausch von Höflichkeiten das Gespräch.
Zu gerne hätte ich Konstanzes Gesicht gesehen, wenn Laiss bei ihr anrief, um sein Kaufvorhaben von Emily – New York abzusagen. Ich hoffte nur, dass er innerhalb der Sammlerwelt dichthielt, ansonsten würde sich mein kleiner Racheakt zu einem Bumerang entwickeln, und wir würden womöglich noch auf den Kraken sitzen bleiben.
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie widersprüchlich meine Galerietätigkeit doch war. Ich verkaufte Kunstwerke, die ich eigentlich verachtete, nur um ein gutes Geschäft zu machen. Auf Dauer konnte das für die seelische Gesundheit nicht von Vorteil sein, zumindest dann, wenn man noch einen gewissen moralischen Anspruch an sich selbst hatte.
Wenn ich wieder in die Galerie zurückkam, würde ich nur noch die Kunst verkaufen, die ich auch inhaltlich vertreten konnte. Das nahm ich mir fest vor.
Wenn ich wieder in die Galerie zurückkam, hallte es in mir nach, als ich in die Küche ging, um das Lieblingsessen meines Sohnes zuzubereiten.
Wenn ich wieder in die Galerie zurückkam.
Irgendetwas störte mich an diesem Satz.