Eine halbe Stunde später kam mein schlechtes Gewissen angekrochen wie dichter Nebel über eine nordische Moorlandschaft. Ich war an sich zwar überzeugt davon, dass solch ein Ausbruch auch einmal dazugehörte, wenn man sich als Person neu erfand, aber ich war dabei nicht gerade zimperlich gewesen. Und ich wusste, dass Julian sehr nachtragend sein konnte. Als Kind hatte er einmal zweieinhalb Tage lang nicht mit mir gesprochen, weil ich seinen verschmutzten Lieblingsbären in die Waschmaschine gesteckt hatte und dieser bis zur Unkenntlichkeit verfilzt wieder herausgekommen war.
Also ging ich ohne große Erwartungen nach oben, stellte den Teller vor seiner Tür ab, klopfte und rief: »Ich habe Spaghetti mit Hackbällchen gekocht.«
Dann ging ich betont geräuschvoll die Treppe hinunter und freute mich diebisch darüber, dass mein Sohn, noch ehe ich den Treppenabsatz erreicht hatte, die Tür öffnete und sich den Teller schnappte.
Leider hielt meine Freude nicht lange an, denn als ich unten angekommen war, klingelte das Telefon. Ich sah an der Nummer, dass es die Kommissarin war, und nahm mit bangem Gefühl ab. Sie verschwendete keinerlei Zeit mit gesprächseinleitenden Floskeln, sondern kündigte gleich ihren Besuch für den Nachmittag an, ohne mich zu fragen, ob ich überhaupt Zeit hatte.
»Haben Sie den zweiten Bankräuber geschnappt?«, wollte ich wissen, bevor sie womöglich wieder auflegte. Zugleich fragte ich mich, ob das eine gute oder schlechte Nachricht wäre.
»Leider nicht«, antwortete sie. »Aber wir haben da noch ein paar Fragen.«
Warum war es im Leben immer so, dass man, wenn es gerade einmal gut lief, sofort einen Dämpfer bekam? War da irgendeine Macht im Spiel, der es Spaß machte, uns immer wieder umzuwerfen wie eine Spielfigur auf dem Schachbrett? Es war mir schleierhaft, wie manche Menschen unter diesen Umständen immer noch an einen liebenden Gott glauben konnten, der es im Prinzip gut mit ihnen meinte.
Ich versuchte jedoch, mir nichts anmerken zu lassen, und wir verabredeten uns für den Nachmittag. Die Zeit bis dahin verbrachte ich hauptsächlich damit, mir Sorgen zu machen, was die Kommissarin wohl von mir wollen könnte.
Hatte der andere Bankräuber ihr von der verschwundenen Beutehälfte erzählt?
Vielleicht war aber alles auch nur ganz harmlos, und sie interessierte sich einfach noch für ein paar Details zum Banküberfall? Aber hätte sie das nicht gleich am Telefon klären können?
Was aber war, wenn die Kommissarin doch Verdacht geschöpft hatte? Prüfend sah ich in den Garten, wo das Gras unter dem Azaleenbusch schon so weit nachgewachsen war, dass man die Stelle nicht mehr erkennen konnte, an der ich gegraben hatte. Ich nahm mir jedoch vor, auf Dauer ein Versteck außerhalb meines Grundstücks zu suchen.
Um mich abzulenken, lief ich mit Pablo eine Runde spazieren, spülte danach das Geschirr ausnahmsweise von Hand ab und ging, als all das immer noch nicht gegen meine Nervosität geholfen hatte, in den Garten, um ein paar Qigongübungen zu machen. Pablo folgte mir und schnupperte aufgeregt im Rasen an den Stellen herum, wo sich Schostakowitsch aufgehalten hatte.
Ich machte gerade die Übung »Fliegen wie eine Wildgans«, bei der man mit ausgebreiteten Armen in die Knie ging, als die Türglocke schrillte. Meine mühsam erarbeitete Entspannung war auf einen Schlag dahin, denn ich wusste ja, wer vor der Tür stand.
Die Kommissarin schlüpfte grußlos an mir vorbei ins Haus und ging, ohne meine Einladung abzuwarten, schnurstracks ins Wohnzimmer durch. Sollte diese Unverfrorenheit Teil ihrer Taktik sein, so hatte sie bei mir schon gewirkt. Irritiert schloss ich die Haustür und schlich hinter ihr her. Zum Glück wusste ich da noch nicht, dass alles viel schlimmer kommen würde, als ich es mir in diesem Moment vorstellte.
Pablo hatte ich draußen im Garten gelassen, da er so glücklich damit war, Schostakowitschs Geruchsspuren zu verfolgen. Fast wünschte ich mir jedoch, ihn jetzt bei mir zu haben, um der selbstsicheren Fassade von Frau Ritter wenigstens ein paar kleine Risse zufügen zu können. Immerhin war er ein imposanter Hund, vor dem viele zurückwichen, wenn sie ihm draußen begegneten. Auch wenn er bei den Spaziergängen immer seinen Maulkorb trug, solange ich noch nicht sicher war, dass das Angsthundetraining seine Wirkung zeigte.
Doch die Kommissarin hatte sich gleich mit dem Rücken zum Fenster auf einen Sessel gesetzt und bemerkte Pablo daher nicht einmal. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht wissen, dass dies letzten Endes meine Rettung sein würde.
Ich bot Frau Ritter einen Kaffee an, den sie fast so barsch ablehnte, als hätte ich ihr ein Bestechungsgeld offeriert. Also setzte ich mich noch verunsicherter ihr gegenüber hin.
»Wir haben uns im Kommissariat noch einmal Gedanken gemacht, warum der zweite Bankräuber Sie verfolgt«, begann Frau Ritter ohne Umschweife.
»Nun, ich denke, er hat Angst, dass ich ihn erkannt habe«, antwortete ich möglichst kühl.
»Er kommt zurück nach Deutschland und begibt sich in Gefahr, nur um festzustellen, ob Sie sein Gesicht gesehen haben?«, widersprach die Kommissarin vehement. »Das ist doch widersinnig!«
Natürlich hatte sie recht. Um Zeit zu gewinnen, blickte ich in den Garten hinaus und bemerkte zu meiner Verwunderung, dass Pablo nun unter dem Azaleenbusch herumschnüffelte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass Schostakowitsch sich am Morgen dort aufgehalten hatte.
»Der zweite Bankräuber war nicht gerade eine Geistesgröße«, erklärte ich, während ich mich wieder Frau Ritter zuwandte. »Ich hatte mich schon gewundert, dass Sie nicht ihn geschnappt haben, sondern den Intelligenteren der beiden.«
»Das mag sein«, gab die Kommissarin zu. »Aber selbst bei einem Minimum an Intelligenz würde man doch einer drohenden Verhaftung instinktiv aus dem Weg gehen.«
Sie schwieg, sah mich aber auffordernd an. Mir war klar, dass sie nun eine Erklärung erwartete, die ich ihr nicht bieten konnte. Als ich erneut in den Garten hinausblickte, stockte mir der Atem. Pablo hatte genau an der Stelle, wo das Geld vergraben war, begonnen, mit den Vorderpfoten zu scharren und freudig das Laub beiseitezufegen, und war nun dabei, die pure Erde freizulegen. Mir fiel ein, dass Hunde Dinge riechen konnten, die drei Meter unter der Erde verborgen waren. Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, doch mein Herz begann unkontrolliert zu rasen.
»Was weiß ich denn, was in so einem Bankräuber vorgeht«, sagte ich barscher als beabsichtigt.
»Wir haben uns natürlich gefragt, was Sie eigentlich bei der Bank wollten«, gab die Kommissarin zurück, ohne auf meinen vorigen Satz einzugehen.
Zu meinem Entsetzen bemerkte ich, dass es Pablo bereits gelungen war, eine kleine Kuhle in den Rasen zu graben.
»Das wird Ihnen Herr Andresen sicher verraten haben«, antwortete ich, Gelassenheit vorspielend, während meine Nerven tatsächlich zum Zerreißen gespannt waren. »Ich brauchte einen Kredit für meine Auszeit.«
»Den er Ihnen nicht gewähren wollte«, rief Frau Ritter fast triumphierend.
Ich schwitzte und schielte möglichst unauffällig nach draußen. Bei meinem Hund war nun sichtlich das Jagdfieber ausgebrochen. Hatte der Tierpfleger nicht gesagt, Pablo habe vorwiegend die Eigenschaften eines Hütehundes? Er hatte die Schlagzahl seiner Grabearbeiten deutlich erhöht, sodass die Zweige des Azaleenbusches wild umherwackelten. Die ausgebuddelte Erde flog geradezu durch die Luft.
Ich schloss entsetzt die Augen.
»Ist Ihnen nicht gut?«, fragte die Kommissarin scheinheilig. Ich konnte ihrer Stimme anhören, dass sie davon ausging, den entscheidenden Zug gegen mich getan zu haben.
»Doch, doch«, antwortete ich schnell. »Es ist nur die Erinnerung …«
Leider lösten meine Worte bei der Kommissarin kein Mitgefühl aus. »Daran, dass Sie in finanziellen Schwierigkeiten waren?«
»Meine derzeitige Ausstellung verkauft sich hervorragend«, setzte ich patzig dagegen.
»Das konnten Sie zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht wissen«, erwiderte Frau Ritter.
Pablo hatte inzwischen schon ein so beachtliches Loch ausgehoben, dass sein Kopf ganz im Erdboden verschwand, wenn er ihn hineinsteckte. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er bei den Tüten mit der Beute angekommen war.
Ich wurde fast hysterisch bei dem Gedanken, dass er womöglich mit seiner Beute hier ins Wohnzimmer kommen würde, um von mir für seinen Fund gelobt zu werden. Also entschloss ich mich, alles auf eine Karte zu setzen, um Kommissarin Ritter möglichst schnell loszuwerden.
»Was wollen Sie mir eigentlich unterstellen?«, fragte ich scharf. »Dass ich eine Komplizin der beiden gewesen bin? Meinen Sie wirklich, dass der Überfall dann derart dilettantisch geplant worden wäre? Die beiden hatten ja noch nicht einmal ein Fluchtfahrzeug! Oder haben Sie irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass ich die Bankräuber vor dem Raub gekannt hätte?«
Frau Ritter atmete aus und sah nachdenklich auf den Couchtisch, auf dem ein paar Tabakkrümel herumlagen. Vermutlich hatte mein Sohn sich hier auch noch einen Joint gedreht. Zum Glück schien sie sich dafür aber nicht weiter zu interessieren. Rauschgift war wohl nicht ihr Dezernat.
»Nein, das haben wir nicht«, gab die Kommissarin schließlich zu. »Aber Sie haben sich bei der ersten Vernehmung ziemlich seltsam verhalten.«
»Wie würden Sie sich verhalten, wenn Sie gerade Opfer eines Banküberfalls geworden sind?«
Frau Ritter nickte. Nun hatte ich endlich wieder etwas Oberwasser gewonnen. Aber der kurze Moment meiner Überlegenheit sollte nicht allzu lange währen.
Fürs Erste hatte Frau Ritter mir zwar zugestimmt, sodass ich mich schon als Siegerin unseres Wortgefechts wähnte. Doch dann sah ich wieder in den Garten, wo Pablo gerade vehement an der Tüte zerrte, die schon zu einem Teil sichtbar geworden war. Mir wich alles Blut aus dem Gesicht.
»Dann würde ich Sie jetzt bitten, mich in Ruhe zu lassen. Ich muss mich weiter schonen. Schließlich bin ich durch das Ganze noch ziemlich traumatisiert.«
Den inflationären Gebrauch dieses Wortes mochte ich eigentlich nicht. Traumatisiert war heutzutage jeder schon, wenn er ein wenig Kritik verkraften musste. Ich musste an Julian denken, der immer seine Gehirnerschütterung hervorholte, wenn es ihm gerade weiterhalf. So wie ich jetzt meine angebliche Traumatisierung.
Doch bei Frau Ritter zeigte das Wort offenbar Wirkung, denn sie antwortete: »Natürlich, entschuldigen Sie bitte.«
Ich hatte keine Ahnung, ob ihre Freundlichkeit Taktik war oder ob sie wirklich Reue empfand. Aber ihre Einsicht schien etwas plötzlich zu erfolgen. Außerdem traute ich ihr einfach nicht.
Während die Kommissarin sich langsam erhob, verfolgte ich mit angehaltenem Atem weiter das Geschehen im Garten. Pablo versuchte gerade, die Beute vollständig aus dem Erdloch zu zerren, doch die Tüten hingen an irgendetwas fest. Auf einmal löste sich diese Verankerung abrupt, und er schleuderte die Beute wie ein Diskuswerfer über den Rasen. Das Plastik hatte, vermutlich durch Pablos scharfe Eckzähne, bereits Schaden genommen, sodass ein paar Geldscheine durch die Luft flatterten. Die Tüte selbst landete vom Wohnzimmer aus gut sichtbar auf dem Rasen. Wenn die Kommissarin sich jetzt umdrehte, war ich geliefert. Ich war einem Herzinfarkt nahe, versuchte aber immer noch, es mir nicht anmerken zu lassen.
»Ich begleite Sie zur Tür«, sagte ich mit trockenem Mund.
»Gut«, meinte Frau Ritter, zögerte kurz und ging dann langsam ein paar Schritte in Richtung Ausgang. Entsetzt beobachtete ich, wie Pablo frohgemut über den Rasen galoppierte, dann die Beute mit den Vorderpfoten fixierte und knurrend mit den Zähnen an der Plastikumhüllung zu zerren begann.
Ich schubste Frau Ritter geradezu aus dem Wohnzimmer, was mit viel Wohlwollen wie eine etwas aus der Form geratene freundliche Geste wirken konnte, und schloss schnell die Tür hinter uns.
Schweißgebadet folgte ich der Kommissarin durch den Flur. Kurz vor der Haustür drehte sie sich noch einmal um. »Da wäre allerdings noch eine Sache …«
Ich seufzte und blieb stehen. Dank des geriffelten Glaseinsatzes der Wohnzimmertür war nun schemenhaft zu erkennen, dass Pablo durch die Terrassentür hereinkam. Gut, dass ich die Wohnzimmertür geschlossen hatte! Ob der Hund etwas im Maul trug, war in diesem Moment nicht zu erkennen. Gleich würde er aber an der Glastür anschlagen, und man würde sehen, ob er eine Tüte bei sich trug, aus der womöglich noch Geldscheine herauslugten.
»Mein Hund ist hinter Schostakowitsch her«, sagte ich zur Erklärung, was Frau Ritter zu einem prüfenden Blick veranlasste, zum Glück allerdings nicht zur Tür, sondern in mein Gesicht.
»Der Nachbarkater«, ergänzte ich schnell.
Die Kommissarin nickte wissend und spielte dann ihren letzten Trumpf aus. »Der Beamte, der Sie nach Hause gebracht hat, glaubte, durch die geöffnete Tür einen Stoffbeutel erkannt zu haben. Einen Stoffbeutel von ihrer Hausbank.«
Ohne meine Reaktion abzuwarten, ging sie siegessicher ein paar Schritte auf die Truhe im Eingangsbereich zu. »Er hing nach seinen Angaben genau aus diesem Möbel heraus.«
Panisch überlegte ich, ob ich den verräterischen Beutel wirklich entsorgt hatte oder ob er sich nicht doch noch in der Truhe befand. In meinem aufgelösten Zustand konnte ich mich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, was ich damit gemacht hatte.
Aus den Augenwinkeln sah ich, dass Pablo nun an der Wohnzimmertür hochsprang und tatsächlich etwas in der Schnauze hatte. Nun hatte ich also die Wahl zwischen zwei Übeln. Entweder entdeckte die Kommissarin jetzt die Beute in Pablos Maul, oder sie sah den eventuell doch noch vorhandenen Stoffbeutel in der Truhe.
In einem wahren Kamikazeakt setzte ich alles auf eine Karte, ging zur Truhe, riss vehement den Deckel auf und rief: »Bitte, sehen Sie selbst nach.«
Ich starrte selbst mit wirrem Blick in das Truheninnere. Zu meiner Erleichterung entdeckte ich nur einen kaputten alten Regenschirm, meine lang vermissten Winterhandschuhe und zwei Plastiktüten, nicht aber den Beutel aus der Bank.
Jetzt fiel mir auch wieder ein, dass ich ihn ja gleich nach meiner Heimkehr mit Steinen beschwert und im nahe gelegenen Fluss versenkt hatte.
Die Kommissarin warf ebenfalls einen prüfenden Blick in die Truhe und stellte fest, dass kein Beutel darin lag. Aber das reichte ihr nicht. »Den können Sie ja auch im Garten verbrannt haben«, meinte sie provozierend.
Ich lachte irr. »Oder im Fluss versenkt!«
»Gute Idee! Das werden wir nachprüfen.«
Ich war wirklich dämlich! Womöglich lag der beschwerte Stoffbeutel noch genau an der Stelle, an der ich ihn versenkt hatte. Gelassenheit vortäuschend zuckte ich mit den Schultern.
Im gleichen Moment wurde mir klar, dass die Polizei inzwischen fest davon ausging, dass ich den zweiten Beutel hatte und nicht die Blitzbirne. Und ich demnach tatsächlich eine Komplizin der beiden Bankräuber war.
Wussten sie doch schon, dass der zweite Bankräuber versehentlich die beiden Taschen vertauscht hatte und ich sie also an mich genommen haben musste? Mir wurde schwarz vor Augen.
»Nun gut«, sagte die Kommissarin und zog schon wieder eine Augenbraue hoch. »Sie hören von uns.«
Sie wandte sich zur Haustür und zog diese entschlossen auf. Bevor sie verschwand, drehte sie sich noch einmal um. »So oder so.«
In genau diesem Moment gelang es Pablo, mit seinen Vorderpfoten die Türklinke herunterzudrücken und stolz mit der gut sichtbaren Beute im Maul in den Flur zu traben.
»Auf Wiedersehen«, sagte ich schnell und schob die Haustür mitsamt der Kommissarin zu, bevor mein Hund ihr die Beute vor die Füße legen konnte.