Meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich auf besagte Truhe im Flur fallen lassen musste. Dabei entfuhr mir ein so lauter Schrei, dass er selbst die gekränkten Ohren meines Sohnes erreichte. Er kam zögernd die Treppe herunter und fand mich in desolatem Zustand im Flur vor.
»Mama, geht’s dir nicht gut?«, fragte er mit überzeugend besorgter Stimme und beugte sich zu mir herab.
Normalerweise hätte ich jetzt spöttisch geantwortet: Doch, es geht mir ausgezeichnet. Ich sitze nur zitternd auf der Truhe, weil ich mal ausprobieren wollte, wie sich das anfühlt, wenn man total am Ende ist.
Aber jetzt waren meine Nerven derart ruiniert, dass ich ihm stattdessen um den Hals fiel. Mein Sohn zögerte, dachte wohl kurz darüber nach, ob er doch noch beleidigt war, und umarmte mich dann halbherzig.
»Die haben mich … die sind …«, stammelte ich zusammenhanglos, während das Zittern auf meinen ganzen Körper überging. Julian tätschelte mir beruhigend den Rücken. Einen panischen Moment lang blitzte in mir die Sorge auf, ob dies nun der Moment war, in dem sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern umdrehte und von dem an die Kinder für die Eltern sorgen mussten. Dann erschien mir der Zeitpunkt für diese Umkehr doch zu früh, und ich beruhigte mich wieder ein wenig.
Der Hund war die ganze Zeit verunsichert neben mir sitzen geblieben, hatte es nicht gewagt, die Beute aus dem Maul zu lassen oder sich überhaupt nur zu regen. Ausgerechnet jetzt stupste er mich jedoch an und legte mir stolz die prall gefüllte Tüte auf den Schoss.
Julian löste sich etwas von mir, strich Pablo über den Kopf und entdeckte dann die perforierte Packung, aus der einige Geldscheine herauslugten.
Er pfiff anerkennend durch die Zähne. »Was ist das denn?«
Ich klammerte mich schnell noch fester an meinen Sohn, womit ich hoffte, ihn von der Tüte abzulenken.
»Au, du tust mir weh!«, beschwerte sich Julian und versuchte, sich gänzlich von mir zu lösen. Ohne es zu merken, hatte ich ihm meine Fingernägel in den Rücken gegraben.
Rasch entschuldigte ich mich und starrte entsetzt auf die Tüte, die Julian nun voller Interesse untersuchte. Ich war geliefert. Jetzt hatte mein Sohn mich für immer und ewig in der Hand. Seine Mutter, eine Bankräuberin! Fast wäre es mir lieber gewesen, die Kommissarin hätte die Beute entdeckt.
»What’s that?« Julian riss den Beutel gänzlich auf und schüttete die Geldscheine entzückt auf den Fliesenboden im Flur. »Das ist ja megaviel Kohle!«
Dann sah er abwechselnd auf Pablos dreckige Pfoten und mein entsetztes Gesicht – und begriff. »Das ist Geld aus dem Bankraub, oder?«
Ich schloss die Augen und wollte am liebsten unsichtbar sein, doch die Frage meines Sohnes stand unbeantwortet im Raum. Ich seufzte noch einmal tief auf und nickte ergeben.
Julian sah mich verblüfft am, fing an zu lachen, zunächst leise, dann immer lauter, und krümmte sich schließlich vor Vergnügen. »Ich fass es nicht! Meine Mom ist eine Bankräuberin! Meine Mom!«
Ich ließ ihm seinen Spaß und schwieg einfach. Nachdem er sich endlich genug amüsiert hatte, erklärte ich ihm, dass ich nicht am Bankraub beteiligt gewesen war, sondern an das Geld gekommen war, weil der Bankräuber die beiden Stoffbeutel vertauscht hatte.
Er schüttelte ungläubig den Kopf und meinte: »Und du regst dich auf, dass Oma mit einem Zuhälter zusammen ist?«
»Das ist doch wohl etwas ganz anderes«, wagte ich zu protestieren. »Das bei mir war eine Kurzschlusshandlung.«
»Bei Oma vielleicht auch«, meinte Julian lachend. »Und du hättest es doch zurückgeben können!«
Ich fand, dass er seine Überlegenheit ein bisschen zu sehr auskostete. Aber vielleicht hatte er sich mir gegenüber so oft unterlegen gefühlt, dass er es jetzt für sein Seelenheil dringend brauchte, einmal moralisch über mir zu stehen.
Während er den Haufen Geld anstarrte, bemerkte ich plötzlich ein feines Glitzern in seinen Augen. Ich glaubte zu wissen, was er jetzt dachte. Vermutlich überlegte er, wie viel von dem Geld ihm aufgrund seines Mitwissens nun zustehen würde.
»Ich habe laufende Kosten«, sagte ich schnell. »Das Haus, Omas Seniorenresidenz, die Kreuzfahrt, meine Auszeit.«
»Aber ein bisschen bleibt für mich auch noch übrig«, antwortete er. »Für die Jobfindungsphase.«
Fast hätte ich laut aufgelacht. Dann nahm ich ein Bündel Geldscheine und zählte ihm dreitausend Euro ab.
»Das ist aber ein bisschen wenig für so eine intensive Zeit«, protestierte er.
Ich legte noch fünfhundert Euro dazu.
»Vier«, meinte er. »Und du machst mir keinen Stress mehr wegen Zukunft und so.«
Ich seufzte und erhöhte auf die gewünschte Summe.
Feixend zählte Julian seine viertausend Euro noch einmal durch und steckte das Geld dann in die Hosentasche seiner Jeans. Den Rest der Beute schob er zu drei etwa gleich großen Stößen zusammen und sah mich an.
»Das Geld muss an einen sicheren Platz gebracht werden, hier im Haus kann es nicht bleiben. Die Tussi von der Polizei kommt bestimmt bald wieder.«
Ich nickte. »Und den Stoffbeutel müssen wir auch aus dem Fluss holen. Den habe ich nämlich dort versenkt und aus Versehen der Kommissarin das Versteck verraten.«
Julian verdrehte theatralisch die Augen, stopfte das Geld in die Überbleibsel der Tüten zurück und stand auf. »Dann komm, wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Er streckte mir die Hand entgegen, und ich ließ mich hochziehen. Verwundert stellte ich fest, dass er sehr aktiv werden konnte, wenn ihn etwas interessierte. Dennoch war es einigermaßen erschreckend, dass es anscheinend erst einer kriminellen Tat bedurfte, um ihn in Bewegung zu bringen.
Womöglich lag der Hang zu Verbrechen (und Verbrechern) doch in unseren Genen, ohne dass es mir die ganzen Jahre über bewusst gewesen war?
Mama, ich und mein Sohn – meine wunderbar kriminelle Familie.
»Dann sind wir jetzt also Komplizen«, sagte ich, während ich Julian vorsichtshalber die Tüte mit dem Geld abknöpfte. Es war wichtig, gleich zu Beginn unserer kriminellen Vereinigung klarzumachen, wer das Heft in der Hand hatte. Auch wenn ich gerade noch ein überaus jämmerliches Bild abgegeben hatte. Oder gerade deswegen.
Wir gingen in die Küche, ich immer noch mit zitternden Knien, er mit nach wie vor erstaunlicher Tatkraft, und machten uns zur Stärkung einen Kaffee. Mit den verheißungsvoll dampfenden Tassen setzten wir uns an den großen Tisch mit Blick in den Garten und beratschlagten, wie wir die Beute am besten verstecken konnten. Ich spürte plötzlich, wie gut es tat, endlich mit jemandem offen über all die Heimlichkeiten der letzten Wochen sprechen zu können. Das ausgebuddelte Loch unter dem Azaleenbusch versuchte ich für den Moment zu ignorieren. Mir war klar, dass ich es schleunigst zubuddeln musste, falls es der Kommissarin einfallen sollte, noch einmal hierherzukommen.
Julian und ich einigten uns darauf, ein Schließfach am Bahnhof anzumieten und den Schlüssel dafür an einem ungewöhnlichen Ort im Haus aufzubewahren. Wo auch immer dieser sein sollte.
»Und ich mache mich gleich mit Pablo auf den Weg, um nach dem Stoffbeutel zu sehen. Da kann er mal so richtig im Wasser schnoddern«, beschloss Julian.
Er ließ sich von mir genau erklären, an welcher Stelle ich das Beweisstück im Fluss versenkt hatte, trank rasch seinen Kaffee aus und erhob sich. Nicht ein einziges Mal hatte ich ihn in den letzten Jahren so entschlossen gesehen.
»Achte darauf, ob dir jemand folgt«, warnte ich ihn. »Das Ganze könnte ja auch eine Falle sein.«
Er nickte und brach mit Pablo auf.
Ich ging nach draußen und schloss zunächst das auffällige Loch im Rasen, gab dann das Geld in eine frische Gefriertüte und versteckte es unter ein paar alten Kleidungsstücken in einer Tasche vom Roten Kreuz. Danach machte ich mich damit auf den Weg zum Bahnhof. Selbstverständlich kalkulierte ich ein, dass auch ich dabei von der Polizei beschattet werden könnte. Daher sah ich immer wieder in den Rückspiegel und fuhr ein paar Schlenker durch die Stadt, bis ich mir sicher war, dass keiner mir folgte.
Inzwischen hatte es zu tröpfeln begonnen. Als ich mein Ziel endlich erreicht hatte, war der Regen zu einer wahren Sintflut geworden. Natürlich hatte ich keinen Schirm dabei, und so presste ich, nachdem ich das Auto auf einem Parkplatz in einer Seitenstraße abgestellt hatte, den Altkleidersack mit dem Geld fest an mich, während ich in Richtung Bahnhof lief. Passenderweise standen auf dem Bahnhofsvorplatz wirklich ein paar Container vom Roten Kreuz. Falls ich mich doch beobachtet fühlen sollte, könnte ich also immer noch dorthin abbiegen. Alles machte jedoch einen unauffälligen Eindruck, weshalb ich in die Bahnhofshalle hineinging und mich auf die Suche nach den Schließfächern machte. Der Regen war bis auf meine Haut vorgedrungen, und ich fröstelte. Während ich mich suchend umsah, lief ein Tropfen von meinen Haaren über die Stirn, rann die Nase hinab und versickerte in meinem Mund. Er schmeckte nach Schwefel.
Seltsamerweise befanden sich die Schließfächer draußen im hinteren Abschnitt des ersten Gleises. Leider stellte ich dort fest, dass eine Benutzung länger als zweiundsiebzig Stunden nicht möglich war. Ich würde mir also bald wieder etwas Neues einfallen lassen müssen. Oder immer wieder ein neues Schließfach anmieten, was vielleicht ohnehin nicht verkehrt war.
Als ich den feuchten Altkleidersack gerade in das Fach stopfte und die passenden Münzen dafür in den Schlitz steckte, rauschte auf Gleis eins ein ICE ein und stoppte mit quietschenden Bremsen direkt vor mir. Ich registrierte beiläufig, dass der Zug aus Neapel kam, drückte mit einer entschlossenen Handbewegung die Tür des Fachs zu und zog den Schlüssel ab. Der Regen prasselte auf das Dach über dem Bahnsteig, und ich war froh, dass ich für den Moment im Trockenen war.
Schließlich versenkte ich den Schlüssel in meinem Portemonnaie und ging im Strom der angekommenen Passagiere ins Bahnhofsgebäude zurück. Dann überlegte ich, ob ich im Bistro noch einen Kaffee trinken sollte, bis der schlimmste Regen vorbei war, doch ich verwarf den Gedanken wieder, da mein Sohn sicher zu Hause auf mich wartete.
Ich war heilfroh, dass die Beute aus meinem Haus verschwunden war. Jetzt erst bemerkte ich, wie sehr es mich doch belastet hatte, dass sie die ganze Zeit über so nah bei mir im Garten gewesen war. Doch wie immer, wenn ich gerade dabei war, mich etwas zu erholen, tauchte auch schon der nächste Schock am Horizont der Katastrophen auf.
In der Menge der Hinterköpfe, die sich vor mir herbewegten wie ein Vexierbild, glaubte ich auf einmal, einen kleinen, mir sehr bekannt erscheinenden blonden Zopf auszumachen. Ich blieb so unvermittelt stehen, dass eine junge Frau im grünen Parka auf mich prallte und ihr eine Tüte mit Obst, das sie wohl gerade im Feinkostladen am Bahnhof erstanden hatte, aus den Händen fiel.
»Mensch, pass doch auf«, schimpfte sie und bückte sich nach der aufgeplatzten Tüte am Boden. Ich entschuldigte mich, bückte mich ebenfalls und schnappte nach einer wegkullernden Orange. Als ich wieder nach oben kam, war der Hinterkopf mit dem Zöpfchen natürlich verschwunden. Falls er überhaupt jemals da gewesen war und ich nicht schon halluzinierte.
»Da kaufe ich schon teures Bio«, schimpfte die Frau weiter, »und jetzt liegt es hier im Dreck.«
Wütend kickte sie mit dem Fuß gegen eine auf dem Boden liegende Banane, deren Zustand dadurch nicht besser wurde, dass sie noch einmal über die feucht schmutzigen Fliesen geschubst wurde.
Ich ließ die zeternde Frau einfach stehen, lief durch die Halle ins Freie hinaus, sah mich hektisch nach rechts und links um, ob der Mann mit dem Zöpfchen wirklich der Bankräuber gewesen war, doch er war bereits verschwunden. Vielleicht steckte er unter einem der Schirme, die sich vom Bahnhof fortbewegten, denn der Regen hatte keineswegs nachgelassen, im Gegenteil.
Womöglich hatten mir auch meine angekratzten Nerven einen Streich gespielt? Jedenfalls sah ich auf dem Bahnhofsvorplatz keinen einzigen Mann, der auch nur im Geringsten Ähnlichkeit mit der Blitzbirne hatte.
Schließlich gab ich auf und ging nachdenklich zu meinem Auto zurück. Dort brauchte ich vier Anläufe, bis es mir gelungen war, den Schlüssel ins Türschloss zu stecken. Bis auf die Knochen nass, ließ ich mich erschöpft auf den Sitz sinken.
Während ich das Auto durch den Feierabendverkehr nach Hause steuerte, wurde mir auf einmal bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte.
Weder meine Abwesenheit in der Galerie noch der Qigongkurs oder mein Hund hatten mich wirklich zufriedener gemacht. Ganz im Gegenteil.
Das lag natürlich vor allem an der Bedrohung, die mir mittlerweile gleich von zwei Seiten zuteilwurde. Wenn das so weiterging, würde ich mein Jahr nicht in geistiger und seelischer Freiheit, sondern in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie verbringen.
Doch was sollte ich tun? Natürlich konnte ich nicht zur Kommissarin gehen und ihr das Geld zurückgeben. Den richtigen Zeitpunkt dafür hatte ich definitiv verpasst. Ich wollte auf keinen Fall im Gefängnis landen! Die Mitgefangenen waren vermutlich nicht viel angenehmer als mein vorheriger Kundenkreis, und ich würde sie mir noch nicht einmal aussuchen können.
Ebenso wenig konnte ich mich an meinen Bankberater wenden, der im Übrigen, wie ich gehört hatte, immer noch krankgeschrieben war. Anscheinend hatte der Bankraub ihn doch mehr mitgenommen, als ich zunächst gedacht hatte. Oder er nutzte ihn für eine längere, von der Allgemeinheit finanzierte Auszeit. Jeder würde natürlich dafür Verständnis haben, dass er nicht so schnell an den Ort seines Traumas zurückkehren wollte.
So oder so: Ich musste mir etwas einfallen lassen, und zwar bald.