Zu Hause angekommen war ich nicht nur klatschnass, sondern auch von einer seltsamen Erschöpfung befallen.

Doch auf dem Sofa, zu dem es mich, nachdem ich die nasse Kleidung gegen trockene getauscht hatte, magisch hinzog, saß schon mein Sohn in überaus aufgekratzter Stimmung und war allzu bereit, mir ausgiebig von seiner Großtat zu berichten. Nachsichtig hörte ich ihm zu, während ich dagegen ankämpfte, dass mir die Augen zufielen.

»Natürlich war an der Stelle, die du mir beschrieben hast, kein Beutel mehr zu finden! Aber Pablo hatte die coole Idee, es etwas weiter flussabwärts zu versuchen! Er ist echt ein mega Hund!«

An dieser Stelle seiner Rede fing mein rechtes Augenlid an zu zucken. Davon unbeeindruckt redete Julian einfach weiter. Pablo hatte im Körbchen seinen Namen gehört, trottete heran und legte seine Schnauze auf mein Knie.

»Zum Glück ist das Wasser nicht so tief im Moment. Und das Ding hing echt in einem Ast fest. Der bescheuerte Bankspruch war gut lesbar, weil der Beutel aus dem Wasser rausschaute! Steine waren gar keine mehr …«

»Und wo ist der Beutel jetzt?«, unterbrach ich ihn.

Mein Sohn machte ein überlegenes Gesicht. »Den habe ich natürlich nicht mit hierhergebracht, sondern gleich im Müllcontainer eines großen Wohnblocks entsorgt. Ich bin ja nicht bekloppt.«

»Sehr gut«, lobte ich. Ich sollte ihn überhaupt mehr bestätigen, vielleicht würde er daraus das nötige Selbstbewusstsein entwickeln, um seinen beruflichen Weg zu finden.

»Wenn du denkst, du kannst mich mit mehr Lob zum Erfolgstypen machen, irrst du dich«, durchschaute mich mein Sohn. »Meine Generation ist nicht so karriereversessen wie deine. Wir sind da viel gechillter.«

Hätte ich jetzt fast gar nicht gemerkt, wollte ich sagen, verkniff mir die Bemerkung aber gerade noch rechtzeitig.

»Und du bist sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«, lenkte ich das Gespräch zurück zum eigentlichen Thema.

»Hundertpro! Ich habe so viele Haken geschlagen, dass jedem Verfolger übel geworden wäre.«

Ich musste lachen. Anschließend erzählte ich von meinem Erlebnis am Bahnhof, inklusive meiner vermeintlichen Sichtung eines blonden Hinterkopfzöpfchens. Die Möglichkeit, dass der Bankräuber wieder hier herumschlich, fand Julian im Gegensatz zu mir »cool«, und er versicherte mir gleich, dass er auf mich aufpassen würde.

Ich seufzte. »Und wo verstecken wir jetzt den Schlüssel vom Schließfach?«

Julian sah sich suchend im Wohnzimmer um. »Keine Ahnung. Vielleicht in einem Blumentopf?«

»Ich habe schlechte Erfahrungen mit Pflanzen gemacht«, lehnte ich seinen Vorschlag ab. Dann fiel mir wieder ein, dass ich ihn ja positiv verstärken wollte. »Aber ein Topf ist vielleicht gar keine schlechte Idee!«

»Es muss auf jeden Fall etwas Ekliges sein. Etwas, in das kein Polizist und schon gar keine Polizistin gern reinfasst«, meinte Julian grinsend. Er stand auf und ging in der Wohnung umher. Als er in der Küche angekommen war, öffnete er die Kühlschranktür und rief nach kurzer Inspektion des Inhalts: »Ich hab’s!«

Dann tauchte er triumphierend mit einer Dose Hundefutter in der Hand wieder auf.

»Genial«, sagte ich, diesmal ehrlich begeistert. »Das ist das absolut sichere Versteck. Niemand will in stinkendem Hundefutter herumwühlen.«

»Schon gar nicht, wenn es die Sorte Schweineleber-Pansen ist«, amüsierte sich Julian.

Ich lachte ebenfalls, stand auf und holte den Schlüssel aus meiner Handtasche. Das Hineindrücken ins Nassfutter überließ ich sehr gerne meinem Sohn. Danach stellte er die Dose wieder in den Kühlschrank zurück und wusch sich mit angeekelter Miene die Finger unter dem Wasserhahn.

»Jetzt müssen wir nur aufpassen, dass Pablo nichts mehr aus dieser Dose bekommt«, meinte Julian.

»Und dass hin und wieder die Dose gewechselt wird«, meinte ich.

»Na klar, das mach ich doch«, versprach Julian.

Es war wirklich gut, dass ich nun meinen Sohn an meiner Seite hatte, der in seiner jugendlichen Unbekümmertheit die Dinge ganz anders bewertete als ich. Vermutlich wurde ich langsam hysterisch, denn ich glaubte ja, in jeder Menschenmenge gleich einen Bankräuber zu erblicken. Dabei war die Blitzbirne bestimmt längst über alle Berge und machte es sich in der südlichen Sonne bequem. Vielleicht hatte er auf dem Weg dahin eine weitere Bank überfallen und brauchte mein Geld gar nicht mehr.

Ich beschloss, mich aufs Sofa zu legen, zu entspannen und endlich mal wieder etwas zu lesen, was nichts mit meinem Beruf zu tun hatte.

In diesem Moment hörten wir ein klirrendes Geräusch aus dem Eingangsbereich.

»Was war das?« Alarmiert sah ich meinen Sohn an und wollte sofort aufspringen.

Julian drückte mich in den Sessel zurück. »Du bleibst hier, ich sehe alleine nach!«

Pablo hielt ich am Halsband fest, damit er nicht wieder auf die Idee kam, irgendjemanden zu beißen. Julian pirschte sich wie ein Jäger an den Wänden entlang zum Eingang, was ich allerdings etwas übertrieben fand. Jedoch nur so lange, bis er bleich und fahl, einen Gegenstand in der ausgestreckten Hand haltend, wieder zurückkam.

»Was ist das?«, fragte ich mit belegter Stimme. Mir war gleich klar, dass es sich um etwas Unangenehmes handelte.

»Irgendjemand hat damit das kleine Fenster im Flur eingeworfen.« Julian zeigte mir anklagend einen handtellergroßen Stein, der mit einem Stück Zeitungspapier umwickelt war. Wen er mit »irgendjemand« meinte, musste nicht extra ausgesprochen werden.

Ich nahm den Stein, der ziemlich schwer war, legte ihn auf den Tisch und wickelte ihn aus der Zeitungsseite.

Ratlos sah ich zu meinem Sohn. »Was soll das?«

»Keine Ahnung«, meinte Julian, zuckte mit den Schultern, sah sich aber die Seite, die aus unserer Tageszeitung stammte, genauer an.

»Da sind einzelne Worte unterstrichen!«, meinte er auf einmal elektrisiert. »Sonst«, »Gibt«, Kohlebergbau«.

»Kohlebergbau?«, wiederholte ich verblüfft.

»Ja«, bestätigte Julian. Und »Bistum«, »heraus«, »verstorben«.

»Wie bitte? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!« Nun gab es keinerlei Zweifel mehr, dass diese merkwürdige Botschaft von niemand anderem als der Blitzbirne persönlich stammen konnte.

»Sonst … gibt … Bistum … sofortige.«

»Zeig mal her!«, forderte ich und zog die Zeitung zu mir. Über die ganze Seite verteilt waren Worte mit einem Kugelschreiber unterstrichen worden. Genauer gesagt waren nur Wortteile markiert. Ich sprang auf, holte mir Zettel und Stift aus der Küche und notierte die Wortfragmente untereinander auf einem Blatt.

Sonst.

Gib.

Kohle.

Sofort.

Du.

Her.

Verstorben.

Bist.

 

»Gib … Kohle … her …«, rätselte ich.

»Sonst … du … bist …sofort … verstorben«, ergänzte mein Sohn.

»Sofort verstorben?«, wunderte ich mich.

»Gib sofort Kohle her, sonst bist du verstorben«, fasste Julian den Drohsatz richtig zusammen.

»Das Wort ›tot‹ gab es wahrscheinlich nicht«, mutmaßte ich. »Und auf korrekte Grammatik hat er wohl auch nicht viel Wert gelegt.«

Julian und ich sahen uns an. Geraume Zeit verging, während die Wohnzimmeruhr immer lauter zu ticken schien und eine verirrte Fliege vergeblich versuchte, den Rückweg aus dem Wohnzimmerfenster zu finden.

Julian fand als Erster seine Sprache wieder. »Du musst hier weg.«

Noch ehe ich ihm antworten konnte, schrillte mitten in die Stille hinein das Telefon. Ich zuckte zusammen und stieß vor Schreck einen kleinen Schrei aus, woraufhin Julian mich noch besorgter ansah.

»Die Kommissarin«, flüsterte ich, als ob sie mich sonst hören könnte.

»Ich geh ran«, entschied mein Sohn, während er bereits nach dem Telefon langte, das auf dem Wohnzimmertisch lag. Es war mir nur recht, denn ich hatte wenig Lust, mir die neuen Ideen von Frau Ritter anzuhören.

Die Person am anderen Ende redete auf Julian ein, sodass er nicht viel sagen musste, außer gelegentlich »okay«. Ich beobachte dies mit wachsender Sorge. Versuchte die Kommissarin, Julian schonend beizubringen, dass seine Mutter nun für einige Jahre im Gefängnis verschwinden würde?

Doch irgendwann reichte er mir mitten in einem Redestrom seines Gegenübers das Telefon, grinste und meinte: »Es ist Oma«, ohne sich von ihr zu verabschieden.

»Hallo Mama«, sagte ich erleichtert.

»Schatz, es ist so weit«, kündigte meine Mutter an.

Jetzt heiratet sie den Typen auch noch, schoss es mir durch den Kopf. Die Stimme meiner Mutter klang am Telefon genauso aufgekratzt wie bei meinem letzten Besuch. Es war aber auch kaum zu erwarten gewesen, das sie in der Zwischenzeit zur Vernunft gekommen war.

»Mama, das kannst du nicht machen! Denk an deine Witwenrente!«

Verdutzt unterbrach meine Mutter ihren Redefluss. »Wieso? Du bezahlst doch alles, oder hast du es dir etwa anders überlegt?«

»Ach, du meinst die Kreuzfahrt.« Ich stieß einen hörbaren Seufzer der Erleichterung aus. Gleich darauf dachte ich, dass man es durchaus als seltsam bezeichnen konnte, dass ich schon froh darüber war, etwas bezahlen zu müssen. »Ja, natürlich«, sagte ich also. »Schick mir einfach die Rechnung. Die Anzahlung ist schon raus.«

»Du bist ein Schatz«, flötete meine Mutter. »Ich muss jetzt auch auflegen, morgen geht’s ja los, und ich habe immer noch nicht alles gepackt. Ich brauche von casual bis zur Abendgarderobe praktisch die ganze Palette. Schließlich ist es kein Nullachtfünfzehn-Schiff, was Hartmut ausgesucht hat.«

Warum hat er es dann nicht auch gleich bezahlt, wenn er solch einen exklusiven Geschmack hat?, schoss es mir durch den Kopf. Doch ich verkniff es mir, dies auszusprechen, schließlich hatte ich genug Probleme.

»Dann viel Spaß und sei vorsichtig mit deinem …«, wollte ich sie noch mal vor ihrem Zuhälter warnen, doch da hatte sie bereits aufgelegt.

»Oma lässt es echt krachen«, meinte Julian amüsiert. »Die weiß, wie man’s macht!«

»Na ja, das würde ich nicht so sagen«, antwortete ich. Doch ich hatte keine Lust auf eine Diskussion über die richtige Lebensführung im Alter und im Allgemeinen und versagte mir ebenso den Hinweis darauf, dass das Amüsement schließlich auf meine Kosten ging.

»Wo waren wir stehen geblieben?«, lenkte ich das Gespräch lieber auf ein anderes Thema.

»Dabei, dass du hier wegmusst. Die Kommissarin, der Bankräuber … dir sind etwas zu viele Leute auf den Fersen. Am besten fährst du mit Oma auf der Kreuzfahrt mit.«

Vor meinem geistigen Auge entstand ein Bild von lauter spaßbereiten Senioren auf einem überfüllten Vergnügungsdampfer, darunter ein ständig meine Mutter tätschelnder Greis, der mir zweideutig zuzwinkerte. Ich lehnte dankend ab.

»Aber ich glaube, ich habe eine andere Idee«, meinte ich, holte mein Handy und wählte die Nummer von Rosa, meiner Verbündeten aus dem Qigongkurs, der seit einer Woche beendet war. Leider hatte es bisher mit dem gemeinsamen Hundespaziergang nicht geklappt, doch ich hörte an ihrer Stimme, dass sie sich aufrichtig freute, von mir zu hören. Und sie fragte als Erstes, ob wir uns noch diese Woche zusammen mit den Hunden treffen wollten.

»An sich gern. Aber ich habe vorher noch eine Bitte«, antwortete ich. »Könntest du mir die Adresse der Alm geben, auf der du im Sommer immer aushilfst? Meinst du, die können vielleicht jetzt schon jemanden brauchen?«

»Klar, die freuen sich über jede helfende Hand. Ich fahre in zwei Wochen auch wieder hin. Wenn du willst, können wir zusammen fahren, falls sie noch eine zweite Person aufnehmen. Manchmal ist noch eine Frau aus Norwegen da. Ein älterer Mann aus der Pfalz ist früher ab und zu gekommen, aber der hat letztes Mal schon gesagt, dass es ihm langsam zu viel werde.«

Ich dachte kurz nach. Zwei weitere Wochen unter der Bedrohung von Bankräuber und Kommissarin erschienen mir extrem lang.

»Ich würde am liebsten sofort fahren. Ich muss mal für eine Weile von hier verschwinden«, erklärte ich, ohne weiter auf die Gründe einzugehen.

»Verstehe«, antwortete sie. Natürlich verstand sie gar nichts, doch ich rechnete es ihr hoch an, dass sie auch diesmal keine Fragen stellte und mir stattdessen die Kontaktadresse der Sennerin gab.

»Dann sehen wir uns dort in zwei Wochen«, meinte sie. »Falls es bei dir klappt. Aber ich warne dich: Der Job dort ist nicht zu unterschätzen. Vor allem, wenn man körperliche Arbeit nicht gewohnt ist.«

»Das schaffe ich schon«, widersprach ich zuversichtlich. Ein paar Wochen auf einer Alm zu verbringen, erschien mir im Gegensatz dazu, was mich hier erwartete, traumhaft einfach.

Wir verabschiedeten uns, und ich versprach, ihr am nächsten Tag Bescheid zu geben, ob es geklappt hatte.

»Du willst stinkende Kühe melken?«, prustete Julian los, kaum, dass ich aufgelegt hatte. »Du kannst doch noch nicht mal einen Schlüssel in Hundefutter drücken.«

»Warum nicht?«, verteidigte ich mich. »Vielleicht schlummern in mir Talente, von denen bisher noch niemand was geahnt hat? Außerdem gibt es für so was Maschinen.«

Da es inzwischen schon recht spät war und Bauern früh aufstehen, weil sie ihr Vieh melken müssen, beschloss ich, den Anruf in der Schweiz auf den nächsten Morgen zu verschieben.

Ich ging in die Küche, öffnete eine Flasche Weißburgunder, goss mir und Julian ein Glas ein und ging damit zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Esstisch lag immer noch die Zeitungsseite der Blitzbirne.

Gib sofort Kohle her, sonst bist du verstorben.

Der Satz hörte sich schon viel weniger bedrohlich an, wenn man einen Plan hatte.