Wenn ich frühmorgens aus dem einfachen Holzbett kletterte, um auf die Weide zu gehen und die Kühe zu holen, fühlte ich einen tiefen inneren Frieden. Wie selbstverständlich mistete ich inzwischen den Stall aus, streute frisches Stroh ein, fütterte und reinigte die Kühe, kümmerte mich um Kinder und Haushalt, half Sanne beim Waschen der Käselaibe und ließ am Abend die Tiere wieder auf die Weide. In den zwanzig Jahren meiner Galeriearbeit hatte ich nie eine solche Erfüllung empfunden. Verstärkt wurde das Gefühl natürlich dadurch, dass ich die Beute und damit auch die Bedrohung durch den Bankräuber losgeworden war. Ich schlief wie ein Murmeltier und hätte den ganzen Tag über singen und tanzen können. Auch auf Pablo übertrug sich mein Glückszustand, er war viel ausgeglichener und entspannter als zu Hause.

Wie dumm war ich bloß gewesen, zu glauben, dass Geld meine Probleme lösen würde? Stattdessen hatte es mir eine Menge neuer Schwierigkeiten beschert. Leider konnte ich auf der Alp nicht herausfinden, ob die Beute im Spital inzwischen entdeckt und der Bankräuber somit enttarnt worden war, da es nach wie vor keinen Handyempfang gab.

Also meldete ich mich freiwillig, als es eines Morgens wieder darum ging, wer den nächsten Wocheneinkauf und das Abholen der Post unten im Ort übernehmen würde. Rosa zwinkerte mir am Küchentisch zu, denn sie ahnte natürlich, warum ich unbedingt ins Tal hinunterwollte.

Ich bretterte also mit dem Familienkombi die Bergstraße hinab, erledigte in Windeseile die Einkäufe, holte die Post und setzte mich dann in ein Café, um meine Nachrichten und die Onlinezeitungen zu checken.

Als Erstes ploppte eine Nachricht meines Sohnes auf.

B. ist verschwunden! Fucking Shit! Bitte SOFORT melden!!!!!

Die Nachricht war vom Vortag. Ich freute mich, dass er in der Zwischenzeit etwas geschmort hatte, schließlich hatte er sich heimlich an dem Geld bedient. Dann schrieb ich zurück: B. ist dort, wo sie sein soll. Stay cool!

In einer zweiten SMS fragte ich: Hast du wirklich meinen Aufenthaltsort verraten?

Und in einer dritten schrieb ich: Übrigens war B. nicht mehr vollständig.

Die erste Antwort erfolgte prompt: Puh, Glück gehabt!

Dann die zweite: What??? Verraten? Ich?

Das waren jedoch nur die Reaktionen auf meine ersten beiden SMS. Die dritte ließ, wenig verwunderlich, auf sich warten.

Ich bestellte mir bei einer freundlichen Bedienung einen Kaffee und genoss den Blick auf die vorbeiflanierenden Menschen. So lieb mir die Kühe als Gesellschaft waren, war es doch auch schön, wieder einmal andere Gesichter als die meiner Alpkolleginnen und der Kinder zu sehen.

Während ich eine Ewigkeit auf meine Tasse Kaffee warten musste, durchforstete ich im Internet die infrage kommenden Zeitungen mithilfe der Suchworte »Bankräuber«, »Beute« und »Spital« und »Frutigen«. Doch ich wurde nicht fündig. Enttäuscht ließ ich das Smartphone sinken. Hatte Rosas Plan etwa nicht funktioniert? Oder war ein kleiner deutscher Bankräuber den Schweizer Medien einfach keine Meldung wert?

Ich nahm einen Schluck von meinem endlich servierten Kaffee, der unverschämt teuer war, dafür aber herrlich schmeckte. Dann versuchte ich es noch einmal mit der Lokalzeitung meines Heimatorts.

Und tatsächlich! »Bankräuber in der Schweiz mit Beute gefasst!«, stand dort gleich auf der Startseite. Es hatte also ein paar Tage gedauert, bis das Geld im Schrank entdeckt worden war.

Fieberhaft las ich die kurze Notiz.

Bankräuber Béla F., der vor einem knappen halben Jahr mit einem Komplizen die örtliche Filiale der Genossenschaftsbank überfallen und dabei eine Geisel genommen hat, wurde überraschend in einem Schweizer Krankenhaus festgenommen, wo er nach einem Bergsturz mit schweren Verletzungen lag. Er stritt bei einer ersten Vernehmung durch die Schweizer Polizei jedoch jegliche Tatbeteiligung ab und behauptete, zum Wandern im Kandertal gewesen zu sein. Doch alle Indizien sprechen gegen ihn. Sobald der Mann transportfähig ist, wird er in ein deutsches Gefängniskrankenhaus verlegt, wo weitere Befragungen stattfinden werden.

 

Ich legte das Smartphone zur Seite. Obwohl das an sich eine gute Nachricht war, störte ich mich etwas an dem Wort Kandertal. Genau das war nämlich der Schwachpunkt an Rosas Plan: die örtliche Verbindung zwischen dem Bankräuber und mir, die auch die Kommissarin ganz leicht würde herstellen können.

Irritiert nahm ich einen Schluck meines Kaffees und dachte nach. Die Kommissarin wusste zwar nicht, dass ich mich im Kandertal aufhielt, doch sie würde problemlos feststellen können, wo ich gerade war, zumal meine Bergkollegin Rosa die Alpine Rettung gerufen hatte.

Die Sonne kletterte über die gegenüberliegende Bergwand und gemahnte mich, dass ich auf der Alp gebraucht wurde. Doch vorher wollte ich lieber selbst die Initiative ergreifen. Also wählte ich die Nummer des Kommissariats und ließ mich verbinden.

Frau Ritter meldete sich mit ihrer durchdringenden Stimme, die in mir bekanntlich den Wunsch weckte, alles zu gestehen, selbst Dinge, die ich gar nicht getan hatte. Umso wichtiger war es, dass ich gleich die Gesprächsführung übernahm.

»Sie haben den Bankräuber«, begann ich ohne weitere Gesprächseinleitung.

»Richtig«, antwortete die Kommissarin gedehnt. »Ich wollte Sie auch noch anrufen deswegen.«

»Er war in meiner Nähe, auf der Alp«, gestand ich, bevor sie selbst es feststellen konnte.

»Das dachte ich mir«, meinte Frau Ritter nur. Also hatte sie die Verbindung bereits hergestellt.

Ich versuchte, auch die Deutungshoheit für die Anwesenheit des Bankräubers zu besetzen, bevor sie es selbst tun konnte. »Das heißt, er war tatsächlich hinter mir her.«

»Das kann man so ausdrücken«, bestätigte Frau Ritter. »Die Frage ist nur nach wie vor: warum?«

»Was glauben Sie?«, versuchte ich, den Spieß umzudrehen.

Die Kommissarin räusperte sich. »Ich denke mittlerweile, er wollte seine Beute holen.«

Das war ein ziemlich direkter Angriff auf mich. Jetzt durfte ich bloß keinen Fehler machen.

»Aber ich habe diese Beute nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Das Wort »Beute« spuckte ich aus, als ob es ein zu saures Bonbon wäre.

Frau Ritter lachte höhnisch auf. »Das stimmt. Wir haben sie ja auch im Krankenhaus bei Herrn Fabanyi gefunden.«

Dass sie versehentlich den Nachnamen des Täters nannte, verriet mir, dass sie keineswegs so cool war, wie sie es vorgab zu sein.

»Dann ist doch alles gut«, meinte ich gespielt fröhlich, doch Frau Ritter ließ sich von meiner guten Laune nicht anstecken.

Für den Rest des Gesprächs lieferten wir uns einen absurden Schlagabtausch, jede in der Hoffnung, dass die andere endlich einen Fehler machen würde.

»Wir fragen uns nur, wie das Geld ins Krankenhaus gekommen ist«, begann die Kommissarin.

»Der Bankräuber hatte es vermutlich bei sich«, war meine Antwort.

»Um damit in die Berge zu fahren und mitten in der Nacht bei Ihnen aufzutauchen. Das ergibt keinen Sinn!«

»Vieles, was Menschen tun, ergibt keinen Sinn.«

»Der Bankräuber meinte, er habe keine Ahnung, wie das Geld ins Krankenhaus gekommen ist.«

»Das würde ich in seiner Lage auch behaupten.«

»Er wirkte dabei allerdings sehr glaubwürdig.«

»So glaubwürdig, wie es ein Gelegenheitsverbrecher eben sein kann.«

»Verbrechen gibt es in allen Gesellschaftsschichten.«

»Nur lässt man die Großen eben laufen.«

»Zählen Sie sich zu den Großen oder zu den Kleinen?«

»Weder noch. Ich bin überhaupt keine Verbrecherin.«

»Das habe ich ja auch nicht behauptet.«

»Indirekt schon.«

»Der Bankräuber meinte allerdings auch, Ihr Hund hätte ihn den Abhang hinuntergestoßen.«

Ich lachte spöttisch auf. »Pablo war im Hundetraining. Er würde nur Leute angreifen, die ihn wirklich bedrohen.«

Pablo konnte sie ja schlecht verhaften lassen.

Die Kommissarin schwieg. Sie wusste, dass sie mir nur schwerlich etwas nachweisen konnte. Offenbar hatte sich niemand am Bahnhof und in der Klinik an mich erinnert, ansonsten wäre sie ganz anders aufgetreten. Ich war mir sicher, dass sie das bereits überprüft hatte.

»Wir kriegen Sie noch«, schnaubte sie und legte erbost auf.

Erstaunlicherweise war mein Puls die ganze Zeit über vollkommen ruhig geblieben, und auch jetzt war ich weitgehend entspannt. Vor Gericht würde die Blitzbirne vermutlich aussagen, dass er seinen Beutel im Auto mit meinem verwechselt hatte. Denn er hatte seinen Fauxpas wohl kaum seinem Komplizen gebeichtet, der ihn ohnehin für komplett unfähig hielt, sondern hatte beschlossen, sich seinen Anteil unauffällig zurückzuholen.

Außer mir und meinem Sohn hatte niemand das Geld gesehen. Und letztlich war die Beute ja beim Bankräuber gefunden worden. Also, wem würde ein Richter glauben?

Julian! Ich beschloss, meinen Sohn auf den aktuellen Stand zu bringen, und wählte seine Nummer, doch er ging nicht ran. So ein Feigling!

Da ich ohnehin nur noch ein paar Tage auf der Alp war, konnte ich das Gespräch auch auf später verschieben. Jetzt musste ich zurück, damit meine Kolleginnen nicht die ganze Arbeit allein machen mussten. Ich bezahlte den Kaffee, kaufte in einer Bäckerei noch ein paar Obstwähen auf eigene Rechnung und fuhr dann mit der Familienkutsche zurück auf den Berg. Dort kam ich gerade noch rechtzeitig zum Mittagessen an. Es gab mal wieder mit Alpkäse überbackenes Kartoffelgratin. Wenn ich wieder zu Hause war, würde ich erst mal keinen Käse anrühren, so viel war sicher.

Ich warf Rosa einen verschwörerischen Blick zu, verstaute die Einkäufe und setzte mich zu allen an den Tisch. Gespannt warteten sie auf die neuesten Neuigkeiten aus dem Ort, doch zu ihrer Enttäuschung hatte ich gar nichts zu berichten, da ich möglichst schnell durch den Supermarkt gerauscht war. Immerhin konnte ich sie nach dem Essen mit den Obstwähen ein wenig für die entgangenen Nachrichten versöhnen.

Die Sennerin teilte uns beim Verzehren des Kuchens mit betrübter Miene mit, dass ihr Mann zwar erfolgreich operiert worden war, danach aber mindestens für drei Wochen zur Reha müsse und in dieser Saison nicht mehr einsatzfähig sei. Aber ihre Botschaft erreichte mich nicht richtig, da ich immer noch über das Gespräch mit der Kommissarin nachdachte und mir erst jetzt richtig bewusst wurde, in welch gefährlicher Lage ich mich gerade befunden hatte.

 

Meine letzten Tage auf der Alp rasten geradezu dahin. Fast mechanisch erledigte ich meine Pflichten und verdrängte den Gedanken daran, dass ich bald wieder zu Hause sein würde, wo die bekannten Probleme auf mich warteten. Wie würde mein Leben dort weitergehen? Hatte mein Sohn inzwischen irgendwelche Schritte unternommen, die seine berufliche Zukunft betrafen? Und wie konnte ich meine Mutter aus den Fängen ihres Liebhabers befreien?

An meinem vorletzten Abend saß ich mit Rosa vor dem Haus, genoss den fantastischen Sonnenuntergang und ein Glas Rotwein und verspürte eine seltsam melancholische Stimmung. Wir hatten beschlossen, zusammen zurückfahren, da auch Rosas Einsatz beendet war. Sie würde nach ihrer Rückkehr wieder als Köchin arbeiten.

»Und wer kommt dann auf die Alm?« Gedankenverloren blickte ich auf die gegenüberliegenden Berggipfel, die gerade in ein rosaorangenes Licht getaucht wurden. Das war wohl das, was man gemeinhin Alpenglühen nannte.

»Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet«, meinte Rosa. »Mein Chef hat sich ja, wie du weißt, leider nicht erweichen lassen, mir noch eine Woche Urlaub zu geben.«

»Ziemlich blöd für die Sennerin«, antwortete ich, aber ich war nicht richtig bei der Sache.

Meine Zuversicht, dass ich mit einem blauen Auge davonkommen würde, war der Sorge gewichen, dass ich letztlich doch auffliegen würde. Eventuell hatte mich jemand im Krankenhaus enttarnt, zum Beispiel der Pfleger, der mich nach den Waschlappen gefragt hatte. Oder gab es am Bahnhof von Frutigen vielleicht Überwachungskameras? Womöglich, und das war mir erst in der letzten, entsprechend schlaflosen Nacht eingefallen, war das Geld aus der Bank registriert, und mein Sohn war beim Bezahlen damit in die Falle getappt. Vielleicht hatte ich deshalb nichts mehr von ihm gehört. Dann war mir wieder eingefallen, dass ich hier oben ja gar keinen Empfang hatte und daher nichts von Julian hatte hören können.

Rosa schien Gedanken lesen zu können. »Machst du dir Sorgen, wie es mit deinem Fall weitergeht?«, fragte sie.

Ich nickte. »Ich war so blöd! All das hier«, ich zeigte auf die fantastische Bergwelt, »hätte ich auch ohne die Beute haben können.«

Rosa lachte. »Nimm es als Lektion fürs Leben. Und das mit der Beute war eben eine Kurzschlusshandlung.«

Das war sehr nett von ihr, aber ich wusste, dass es nicht ganz zutraf. Wenn ich ehrlich war, hatte auch mich der Reiz des Geldes in seinen Bann gezogen.

»Notfalls kannst du dich auf den Schock wegen der Geiselnahme herausreden«, fuhr Rosa fort.

»Dann hätte der Schock aber ziemlich lange angehalten«, meinte ich und seufzte niedergeschlagen.

»Du kannst es eh nicht mehr ändern.« Rosa nahm ihr Weinglas, leerte es in einem Zug und stand auf. »Jetzt komm. Morgen früh ist die Nacht rum.«

Wir pfiffen die beiden Hunde zu uns und kletterten schwerfällig die engen Stufen zu unseren Dachkammern empor.