Der letzte Tag auf der Alp begann besonders schön, ganz so, als hätte sich das Kandertal vorgenommen, uns den Abschied außergewöhnlich schwer zu machen. Das Firmament leuchtete enzianblau, die Luft war frisch und klar, und die Sonne brannte nicht ganz so erbarmungslos vom Himmel herab wie die Tage zuvor. Die Almwiesen und Berge strahlten in satten Farben wie in einem Werbefilm über die Großartigkeit der Schweizer Alpen. Doch mein Herz war beklommen, und so hatte ich keinen rechten Blick für diese Schönheit.
Jede Arbeit, die ich auf der Alp erledigte, erinnerte mich an den bevorstehenden Abschied. Ich holte zum letzten Mal die Kühe von der Weide. Ich bürstete ein letztes Mal das Hinterteil meiner Lieblingskuh Mokka. Ich bereitete nur noch dieses eine Mal das Mittagessen für die Familie zu. Ich wusch die letzten Käselaibe ab. Ich mistete ein letztes Mal den Stall. Ich ließ zu guter Letzt die Kühe auf die Weide und freute mich nur noch ein Mal über ihre lustigen Bocksprünge.
Obwohl all das Aufgaben waren, die für einen Außenstehenden wenig verlockend klingen mochten, hatten sie mich doch mit tiefer Befriedigung erfüllt.
Als am Abend die Sennerin auch noch angesichts unserer Abreise und der Aussicht auf die nicht zu bewältigende Arbeit in Tränen ausbrach, fühlte ich mich so elend, dass ich beinahe selbst mitgeheult hätte.
»Ich frage im Bekanntenkreis, ob jemand Zeit hat«, versprach Rosa. Ich nickte ebenfalls. Allerdings konnte ich mir nicht vorstellen, dass meine verwöhnten Freundinnen dazu bereit waren, einen Stall auszumisten und Käselaibe abzubürsten.
»Ich helfe neben der Käserei so viel es geht«, meinte Sanne, wobei sie versuchte, Zuversicht auszustrahlen. Aber ihr sorgenvoller Blick sprach eine andere Sprache. Sie wusste genau, dass die Stallarbeit neben Haushalt, Kinderbetreuung und Käserei kaum zu bewältigen war.
»Und ich pflücke jeden Tag einen Blumenstrauß«, verkündete die Kleine strahlend.
Alle lachten. Solange Blumen auf dem Tisch standen, war alles gut. So einfach konnte es aus Kindersicht manchmal sein.
Dennoch waren meine Beine schwer wie Blei, als ich an meinem letzten Abend die Treppe zu meiner Dachkammer hinaufstieg. In der Nacht schlief ich schlecht und wachte am Morgen nach wenigen Stunden Schlaf wie zerschlagen auf.
Meine wenigen Habseligkeiten hatte ich schon am Abend gepackt und konnte zum Frühstück gleich meinen Rucksack mit nach unten nehmen. Natürlich ließen Rosa und ich es uns nicht nehmen, noch einmal den Stall vorzubereiten und die Kühe von der Weide zu holen. Mehr konnten wir nicht mehr tun.
Ich streichelte wehmütig Mokkas weiche Schnauze und versprach ihr, im nächsten Sommer ganz bestimmt wiederzukommen. Falls ich dazu überhaupt in der Lage sein würde und nicht stattdessen hinter Gittern saß.
Frau Stocker verabschiedete uns mit einem knappen Händedruck und ebenso kurzem Dank, was, wie ich mittlerweile wusste, weniger ihrer mangelnden Herzlichkeit, sondern vielmehr ihrer Überlastung geschuldet war. Die Kinder hingegen klebten wie Kletten an uns, bis wir und die Hunde zu Sanne ins Auto gestiegen und traurig winkend davongebraust waren.
Während der Fahrt nach unten hingen Rosa und ich schweigend unseren Gedanken nach. Am Bahnhof nahm Sanne uns in den Arm, sah uns ernst an und meinte: »Schickt uns jede Arbeitskraft, die ihr kriegen könnt. Die Sennerin klappt mir irgendwann noch zusammen.«
Wir nickten betreten und fühlten uns wie Matrosen, die das sinkende Schiff zuerst verlassen.
»Ich gehe gleich noch im Ort rum und frage, ob jemand Zeit hat«, meinte Sanne und versuchte, Zuversicht auszustrahlen. »Aber viel Hoffnung habe ich nicht, die haben alle selbst genug Arbeit.«
Dann drehte sie sich ohne ein weiteres Wort um und ging in Richtung Bäckerei davon.
In diesem Moment fuhr der Zug ein. Erst als wir auf unseren Plätzen saßen, hatten wir Gelegenheit, uns auszutauschen.
»Ich komme mir richtig schlecht vor, weil wir jetzt wegfahren«, gestand ich.
»Aber wir haben doch beide unser eigenes Leben«, meinte Rosa. »Ich habe keinen Urlaub mehr, und du musst jetzt erst mal deine Angelegenheiten klären.«
Mein eigenes Leben – was war das bloß? Wollte ich wirklich nach Abschluss meiner Auszeit in die Galerie zurückkehren und so weitermachen wie bisher? Es würde sehr viel zu klären geben die nächsten Tage und Wochen.
Den ersten Teil der Fahrt verbrachten wir weitgehend schweigend und sahen aus dem Fenster, um noch einmal die Schönheit der Gegend in uns aufzusaugen. Irgendwann lehnte ich mich ins Sitzpolster zurück, schloss die Augen und ließ mich vom Schaukeln des Zuges in den Schlaf wiegen. Die letzten Nächte waren nicht gerade erholsam gewesen. Kurz vor Basel weckte mich Rosa, da wir dort umsteigen mussten.
Den Rest der Strecke sprachen wir über unverfängliche Dinge, aßen unsere letzten Käsebrote von der Alp, die nun schon wie Relikte aus einer längst vergangenen Zeit wirkten, und stiegen schließlich gemeinsam an unserem Heimatbahnhof aus.
»Melde dich mal wieder«, sagte Rosa, umarmte mich kurz und machte sich ohne großes Pathos davon. Ich sah ihr nach, wie sie und Mallory im Strom der Reisenden verschwanden.
»Wir treffen uns mal zum gemeinsamen Spaziergang«, rief ich ihr hinterher. »Und danke noch mal für alles!« Rosa winkte nur freundlich, ohne sich noch einmal nach uns umzudrehen.
Ich wartete kurz, bis die beide wirklich nicht mehr zu sehen waren. Dann ging ich mit Pablo, der den Trubel am Bahnhof nach der Ruhe in den Bergen sichtlich anstrengend fand, zum Taxistand und ließ mich nach Hause bringen. Ich hatte Julian nichts von meiner Ankunft mitgeteilt, daher erwartete ich auch kein Empfangskomitee, und meine Mutter war nach wie vor auf dem Schiff.
Zu Hause angekommen bezahlte ich den Taxifahrer, ließ Pablo in den Garten und schloss mit einem unguten Gefühl die Tür zu meinem Haus auf. Dass dieses Gefühl nicht unbegründet war, bemerkte ich schon beim ersten Blick in den Hausflur.
Dort stapelten sich fremde Schuhe und Jacken, alles lag wild durcheinander. Der Zustand des Fußbodens ließ darauf schließen, dass hier lange nicht geputzt worden war.
Ich atmete tief durch, schob das Durcheinander mit dem Fuß beiseite und ging weiter in Richtung Wohnzimmer. Schon von Weitem konnte ich durch die Glastür sehen, dass es dort nicht viel anders aussah. Mit angehaltenem Atem öffnete ich die Tür.
Hier hatte offensichtlich eine Party stattgefunden, deren Teilnehmer wie achtlos verstreute Gegenstände in meinem Wohnzimmer drapiert waren. Ein Mädchen schlief mit dem Gesicht nach unten, ein Junge hing halb auf ihr drauf, ein weiterer lag mit dem Oberkörper auf dem Boden und den Schuhen auf dem Sofa. Ein anderes Mädchen ruhte unter dem Couchtisch. Alle waren in einen beneidenswert tiefen Schlaf verfallen. Insgesamt zählte ich sieben Gäste, meinen Sohn hatte ich noch nirgends entdeckt. Eine kleine, aber offenbar sehr effektive Party.
Jemand hatte sich in den Ficus erbrochen, überall standen leere Champagnerflaschen, und in Kartons auf dem Couchtisch lagen halb aufgegessene Pizzastücke, von Fruchtfliegen umschwirrt. Julian entdeckte ich schließlich mit einer Wolldecke über dem Kopf auf einem umgedrehten Sessel. Tabakkrümel und kleine Pfeifchen auf dem Tisch verschafften mir eine Ahnung davon, dass hier noch andere Substanzen im Spiel gewesen waren, die ich indirekt mitfinanziert hatte. Ein Wutballon stieg in mir auf.
»Wenn ihr freundlicherweise aus meinem Wohnzimmer verschwinden könntet? Die Party ist vorbei!«
Ich zog Julian die Decke vom Körper und rüttelte ihn wach. Er öffnete mühsam seine verklebten Augen: »Hi Mom, du bist schon wieder da?«
»Ja, allerdings. Und du sorgst bitte dafür, dass hier wieder alles in Ordnung kommt!« Mit angehaltener Luft ging ich zur Terrassentür und riss sie auf. »Was für ein Mief!«
Pablo nutzte die Gelegenheit, um wieder ins Haus zu schlüpfen, und schnupperte aufgeregt um das Sofa herum. Er wollte gleich nach einem angebissenen Pizzastück schnappen, doch ich zog ihn am Halsband in die Küche und füllte ihm lieber seinen Napf. Dann kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. In der Zwischenzeit war etwas Bewegung in die besinnungslose Feiergesellschaft gekommen.
»Was ist denn los?«, fragte das Mädchen, das mit dem Gesicht im Sofapolster lag. Da sie ihren Kopf nur halb gedreht hatte, klang es dumpf.
»Meine Mom«, erklärte Julian knapp.
»O Mann«, stöhnte der Junge, der auf dem Mädchen gelegen hatte und sich nun mühsam aufsetzte. Er sah aus wie ein Geist. »Du hast gesagt, sie ist weg.«
»Nein, ihr seid weg«, korrigierte ich schon etwas weniger gereizt. »Aber vorher wird das Wohnzimmer noch in seinen Urzustand gebracht, verstanden?«
Ein tiefes Stöhnen war die Antwort.
Ich schüttelte entnervt den Kopf und stapfte mit meinem Rucksack die Treppe hinauf, streifte mir die Kleider vom Leib, deren Stallgeruch ich nun deutlich wahrnahm, und stellte mich eine Viertelstunde lang unter die Dusche. Das einzig Gute an der Zivilisation, seit ich wieder zurückgekommen war.
Von unten hörte ich das Klirren von Flaschen und dumpfes Türenschlagen. Ich schlüpfte in einen Bademantel, der Julian gehörte und mir entsprechend zu groß war, stopfte die Kleidung aus meinem Rucksack in die Waschmaschine und stellte sie an. Danach ging ich ins Schlafzimmer, um mir etwas Frisches zum Anziehen zu holen.
Unten schleppte sich das Mädchen, das mit dem Gesicht im Sofapolster gelegen hatte, gerade in Richtung Ausgang.
»Tschüss, Frau van den Broek, und schöne Grüße von meiner Mutter!«
Ich blieb wie angewurzelt stehen, sah mir das Mädchen nun endlich genauer an und erkannte, dass es die Tochter von der Zahnärztin aus der Nachbarschaft war. Die würde sich die Gelegenheit für neuen Tratsch natürlich nicht entgehen lassen.
»Tschüss, Saskia«, antwortete ich seufzend, doch das Mädchen war bereits verschwunden.