In den folgenden Tagen ergriff eine seltsame innere Unruhe von mir Besitz, die es mir schier unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich tigerte rastlos durch das Haus und wusste nichts mit mir anzufangen. Wenn ich aus dem Fenster sah, fiel mein Blick auf den japanischen Ziergarten, der keine andere Funktion hatte, als zu gefallen. Dagegen erschien mir das karstige Gelände rund um die Schweizer Alm wie das reinste Paradies. Ich würde alles herausreißen und stattdessen einen nützlichen Gemüsegarten anlegen.

Doch selbst diese Aussicht stimmte mich nicht froher. Denn auch das Haus in seiner großspurigen Modernität wirkte auf mich kalt und abweisend. Alles darin war auf Wirkung bedacht, nicht darauf, wie sich seine Bewohner darin fühlten. Nein, es war meinem Ex-Mann hauptsächlich darum gegangen, dass Besucher beim Anblick seines Hauses in Bewunderung verfielen. Warum hatte ich das nicht schon früher bemerkt? Oder besser gesagt: Warum hatte ich nichts dagegen unternommen?

Einzig die Spaziergänge mit Pablo, die wir nicht im nahen Stadtpark, sondern in weiter entfernten Wäldern und Wiesen unternahmen, verschafften mir ein wenig Ruhe und Befriedigung. Währenddessen dachte ich allerdings oft daran, wie es jetzt wohl auf der Alp zugehen mochte, und sah stets das verzweifelte Gesicht der Sennerin vor mir, was meine Stimmung nicht unbedingt verbesserte.

Julian war mir seit dem Vorfall mit der Party weitgehend aus dem Weg gegangen, und ich wartete auf eine gute Gelegenheit, mit ihm zu sprechen. Die bot sich, als er eines Mittags aus seinem Zimmer nach unten geschlurft kam und nach einem Blick in den Kühlschrank monierte, dass keine Milch da sei.

»Dann geh in den Supermarkt, und kauf dir welche«, antwortete ich unfreundlich. »Die wächst nämlich nicht im Kühlschrank.« Sondern in wunderschönen Kühen, die dafür harte Arbeit leisten, dachte ich.

»Boah, du bist ja schon wieder drauf«, stöhnte mein Sohn.

»Ich bin nicht schon wieder drauf, sondern immer noch«, korrigierte ich ihn spitz.

Julian sah mich überrascht an. »Du bist immer noch sauer wegen der Party?«

»Nicht wegen der Party.«

Julian wandte sich schnell ab, wie immer, wenn es schwierig wurde, holte sich eine Tasse aus dem Schrank und machte sich einen Kaffee – ohne Milch. Ich dachte an den blubbernden Espressokocher auf dem Holzofen und glaubte fast, den wunderbaren Geruch des dortigen Kaffees zu riechen.

Mein Sohn setzte sich an den Tisch und sah mich mit seinem Dackelblick an, von dem er immer noch glaubte, dass er unwiderstehlich war. Mich machte dieser Blick jedoch nur noch wütender.

»Du hast mich in Lebensgefahr gebracht, als du meinen Aufenthaltsort preisgegeben hast«, warf ich ihm vor. »Für ein bisschen Gras …«

Verwundert sah Julian von seiner Tasse auf, in die er sich inzwischen versenkt hatte. »Lebensgefahr?«

Er hatte tatsächlich nicht das geringste Schuldbewusstsein.

»Mitten in der Nacht stand die Blitzbirne auf der Almweide und hat mich mit einer Pistole bedroht.«

Julian sah ehrlich entsetzt aus. »Die Blitzbirne? Ich verstehe nicht …«

Plötzlich schlug er sich die Hand vor die Stirn.

»Ich Trottel! Der Typ hat sich als Künstler ausgegeben und wollte dringend wegen einer Ausstellung mit dir sprechen. Er sagte, es gehe um sehr viel Geld!«

»Und außerdem hatte er so guten Stoff dabei, dass es dir letztlich egal war, ob er ein Künstler war oder nicht«, merkte ich bitter an. »Mal davon abgesehen, dass ich gar nicht mehr in der Galerie arbeite.«

Julian überhörte die Anspielung auf seine Bestechlichkeit und verteidigte sich grimmig: »Du hast gesagt, die Blitzbirne hätte ein Zöpfchen! Der Mann, der hier war, hatte aber kaum Haare auf dem Kopf.«

»Das Zöpfchen hat er sich natürlich abgeschnitten, damit man ihn nicht erkennt.«

Ertappt blickte Julian auf seine Füße. »Shit«, sagte er dann.

Seine echte Zerknirschtheit stimmte mich gleich etwas milder. Letzten Endes war ich einfach froh, dass Julian mich nicht absichtlich verraten hatte. Mit so wenig war ich schon zufrieden.

»Und was ist passiert?«, fragte mein Sohn kleinlaut.

»Pablo hat sich auf ihn gestürzt, woraufhin der Bankräuber den Hang hinuntergerutscht ist. Jetzt liegt er in der Schweiz im Krankenhaus.«

Julian riss die Augen auf. »Wirklich? Das hat Pablo gemacht?«

»Ja. Und ich habe dem Bankräuber seinen Anteil an der Beute zurückgegeben. Das Geld wurde im Krankenhaus gefunden, und der Mann kommt jetzt ins Gefängnis.«

Julian kniff wissend die Augen zusammen. »Das habe ich mir irgendwie schon gedacht, als das Geld nicht mehr da war. Aber … dann ist ja alles cool, oder?«

Ich seufzte. »Leider nicht. Die Kommissarin verdächtigt mich trotzdem. Wahrscheinlich werde ich nie zur Ruhe kommen.« Ich konnte nicht verhindern, dass mir bei diesen Worten Tränen in die Augen schossen.

Julian sah mich betroffen an. »Was willst du jetzt machen?«

Ich atmete tief ein und langsam wieder aus, wie ich es im Qigong gelernt hatte. Dann formulierte ich einen Entschluss, der mich in seiner Klarheit selbst am meisten überraschte. »Ich werde mich stellen.«

Plötzlich wusste ich, dass es die einzige Möglichkeit war, um jemals wieder Frieden zu finden. Ansonsten würde Frau Ritter mich nie in Ruhe lassen. Bis jetzt hatte ich zwar noch nichts von ihr gehört, aber das machte mich eher misstrauisch, als dass es mich beruhigte. Rosas Rettungsplan war zwar gut gemeint gewesen, doch letztlich musste ich mir eingestehen, dass ich vor allem fliehen konnte, nur nicht vor mir selbst.

Julian nickte, stand auf, ging nach oben in sein Zimmer und kam drei Minuten später wieder mit einem Häufchen Geld zurück. Seinem Anteil. Beziehungsweise dem Rest davon.

»Mir hat das Geld auch nicht so viel Spaß gemacht, wie ich geglaubt habe«, meinte er und reichte mir das Geld. »Ich besuche dich auch im Gefängnis.«

Erschrocken zuckte ich zusammen. An die Möglichkeit, dass ich im Gefängnis landen würde, hatte ich bisher nicht ernsthaft geglaubt. Meine Vorstellung hatte bisher damit geendet, dass ich mich vor einem Gericht für meine Tat verantworten musste.

Julian bemerkte, was er angerichtet hatte, doch seine Versuche, mich zu trösten, machten es auch nicht viel besser. »Eventuell wirst du als Ersttäterin ja auch nur auf Bewährung verurteilt. Vielleicht sollte ich Jura studieren und dich da raushauen.«

Ich lachte bitter. »So lange kann ich nicht warten. Aber du wirst dir einen Job suchen müssen.«

Dann erhob ich mich von meinem Stuhl.

»Wo willst du hin?«, fragte Julian irritiert.

Ich klaubte die Restbeute vom Tisch und steckte sie in meine Handtasche. »Ich bringe es lieber gleich hinter mich, bevor ich es mir wieder anders überlege. Und kein Wort zu irgendjemandem, schon gar nicht zu Saskia.«

»Geht klar. Ich kümmere mich solange um Pablo, versprochen.« Julian stand auf und nahm mich in den Arm.

Seine Fürsorge und die Tatsache, dass ich meinen Hund zurücklassen musste, trieben mir schon wieder die Tränen in die Augen. Julian konnte mich ja immerhin besuchen. Ich löste mich von meinem Sohn und ging in den Flur, um mir eine Jacke anzuziehen. Pablo verstand dies natürlich als Aufforderung zum Spaziergang und tänzelte freudig um mich herum.

»Du musst leider hierbleiben«, sagte ich, während ich gegen ein aufsteigendes Panikgefühl ankämpfte. Schnell schlüpfte ich in meine Jacke, streichelte Pablo noch ein letztes Mal über seine weiche Nase und verließ rasch das Haus, bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte.

 

Frau Ritter sah mich überrascht an, als ich ohne Ankündigung ihr Büro im Kommissariat betrat und mit zitternden Knien und trockenem Mund vor ihr stehen blieb – wild entschlossen, alles zu gestehen und mein ganzes weiteres Schicksal in ihre Hände zu legen.

»Frau van den Broek! Das ist ja ein Zufall! Ich wollte sie heute auch noch anrufen. Setzen Sie sich doch!«

Ihre plötzliche Freundlichkeit irritierte mich, und so blieb ich lieber stehen.

»Möchten Sie einen Kaffee?«

Ich sah die Thermoskanne auf ihrem Schreibtisch und lehnte dankend ab. Ich wollte mich jetzt durch nichts mehr aufhalten lassen, schon gar nicht durch einen abgestandenen Maschinenkaffee.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Frau Ritter zu meiner Überraschung.

Verdattert setzte ich mich nun doch hin. »Warum?«

»Wir haben noch einmal die These überprüft, dass Sie Komplizin waren oder einen Teil der Beute an sich genommen haben.«

Ich schluckte. »Und?«

»Dazu haben wir die Aufnahmen der Überwachungskamera hier am Bahnhof überprüft. Der zweite Bankräuber hatte auf seiner Flucht eindeutig einen Stoffbeutel bei sich. Auch der andere Bankräuber hat auf erneute Befragung ausgesagt, den Beutel mit dem Geld noch bei ihm im Zug gesehen zu haben.«

Verdutzt starrte ich Frau Ritter an. Vermutlich konnte man auf den Aufnahmen nicht erkennen, ob der Stoffbeutel den neuen Aufdruck der Bank »Mit uns werden Träume wahr« trug oder nicht. Oder die Kommissarin wusste gar nicht, dass es ein neues Modell gab.

Anscheinend hatte der Bankräuber seinem Komplizen tatsächlich nicht gestanden, dass er den falschen Beutel mitgenommen hatte, um vor ihm nicht als totaler Volltrottel dazustehen.

Ich holte tief Luft. »Und was bedeutet das jetzt?«

»Das bedeutet, dass ich mich in Ihnen offenbar getäuscht habe. Der zweite Bankräuber war erstaunlicherweise wohl doch hinter ihnen her, weil er sie als Zeugin ausschalten wollte. Es tut mir aufrichtig leid. Aber wir können bei unserer Arbeit oft keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten Einzelner nehmen, das verstehen Sie doch?«

Ich suchte im Gesicht der Kommissarin nach Anzeichen der Durchtriebenheit, fand aber nur ein leichtes Bedauern gemischt mit professioneller Gleichgültigkeit.

»Schon … schon gut.«

»Damit ist der Fall für uns abgeschlossen«, fügte Frau Ritter zufrieden hinzu.

Ihre Bereitschaft, den Fall ad acta zu legen, verblüffte mich. Schließlich hatte ich sie immer als besonders hartnäckig erlebt. Doch ihre folgenden Sätze erklärten einiges.

»Ohnehin wartet auf mich schon wieder neue Arbeit. Haben Sie von dem Mord im Bahnhofsviertel gehört?« Sie wies auf eine Akte, die aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag. »Der Fall führt in ganz hohe Kreise!«

Ich schüttelte mechanisch den Kopf. Meine Handtasche mit der Restbeute schien plötzlich zentnerschwer.

»Gut, ich muss dann auch weitermachen. Wir haben reichlich Druck vom Polizeipräsidenten bekommen. Der Tote ist ein bekannter … Aber das führt jetzt zu weit. Auf Wiedersehen, Frau van den Broek, alles Gute!«

Ich stand wie ferngesteuert auf, umklammerte meine Handtasche und ging mit steifen Beinen zur Tür. So lief das also bei der Polizei. Wenn es um jemand Wichtigen ging, rückten andere Fälle schnell in den Hintergrund. Was mir allerdings nur recht war.

Als ich die Tür fast erreicht hatte, rief die Kommissarin mich noch einmal zurück.

»Frau van den Broek?«

Ich blieb wie vom Blitz getroffen stehen und drehte mich in Zeitlupe um. War die plötzliche Freundlichkeit der Kommissarin doch nur ein Trick gewesen, der mich in Sicherheit wiegen sollte, damit sie anschließend umso leichter ein Geständnis aus mir herauspressen konnte?

»Ja?«, sagte ich mit trockenem Mund.

»Was wollten Sie eigentlich bei mir?« Da war schon wieder dieser Blick, der selbst schwere Kaliber zu geständigen kleinen Jungs machen konnte. Ich dachte noch einmal kurz darüber nach, warum ich wirklich gekommen war und wie es sein würde, im Gefängnis zu sitzen, keine frische Luft mehr atmen und meinen Hund nicht mehr sehen zu können. Dann entschloss ich mich, die irrwitzige Chance zu nutzen, die das Schicksal mir in letzter Minute geboten hatte.

»Ich … äh … wollte mich nur zurückmelden. Ich bin wieder runter von der Alm.«

Frau Ritter sah mich zweifelnd an, beschloss aber wohl, dass sie auch ohne mich genug Arbeit hatte.

»Schön, das freut mich«, sagte sie also und versenkte sich wieder in die Akte mit dem nächsten dringenden Fall. »Und lassen Sie sich nicht so schnell wieder als Geisel nehmen.«

Ich nickte ihr mit verkrampftem Lächeln zu und verließ das Büro.

Erst im Auto merkte ich, dass ich vor lauter Anspannung klatschnass geworden war. Meine Tasche mit dem Restgeld lag auf meinem Schoß und erinnerte mich daran, dass ich soeben ganz knapp einem unangenehmen Schicksal entronnen war. Das Beste war, möglichst schnell von hier zu verschwinden, bevor Frau Ritter die Aufnahmen aus der Überwachungskamera doch noch einmal genauer prüfen ließ.

Ich startete den Motor, lenkte den Wagen zurück auf den Stadtring und dachte nach. Offenbar vermutete die Polizei, dass die Blitzbirne das fehlende Geld im Bordell verprasst hatte, und vermisste es daher nicht. Ich aber wollte mit dem Restgeld nichts mehr zu tun haben, mein Sohn sollte es aus pädagogischen Gründen allerdings auch nicht zurückbekommen.

Ich konnte es natürlich verbrennen oder in einen Mülleimer im Stadtpark stopfen, in der Hoffnung, dass es jemand fand, der es brauchen konnte. Doch vielleicht gab es noch eine andere Möglichkeit, das Geld sinnvoll auf die Reise zu schicken?

Auf die Reise schicken. Plötzlich wusste ich, was zu tun war. Ich wendete den Wagen und fuhr in die Nähe meiner Galerie, wo ich in einer Seitenstraße parkte, um nicht von Konstanze gesehen zu werden. Dann schnappte ich mir meine Handtasche und ging noch einmal den Weg, den ich in jener kalten Januarnacht gegangen war, in der ich meine Galeriekarriere in bester Absicht zerstört hatte.

 

Die Hafenkneipe ohne Meer war bereits geöffnet, und wieder stieg mir der seltsame Geruch aus abgestandenem Rauch, Bier und Schuhcreme in die Nase, als ich die Tür nach innen aufstieß. Es dauerte eine Weile, bis ich durch den dichten Qualm überhaupt etwas erkennen konnte. Tatsächlich saßen Locke, Adam und Francesco genauso an der Theke, als wären sie nie woanders gewesen. Vielleicht waren sie das auch nicht, sondern gingen überhaupt nie nach Hause. Weitere Gäste waren nicht zugegen, was mir ganz recht war.

Locke drehte sich neugierig um und begrüßte mich erfreut: »Ah, hoher Besuch!«

Vermutlich hoffte er, dass ich wieder ähnlich spendabel sein würde wie beim letzten Mal. Doch nach einem Trinkgelage war mir heute absolut nicht zumute.

Die anderen beiden sahen ebenfalls auf und musterten mich gespannt, als ich mich zu ihnen an die Theke stellte.

»Manchmal werden Träume eben doch wahr«, verkündete ich. Dann drehte ich meine Tasche um und kippte das ganze Geld auf die abgewetzte Oberfläche der Theke.

Ungläubig starrten die drei Männer und der Wirt auf die vielen Scheine.

»Versprecht mir, dass ihr davon wirklich auf die letzte große Fahrt geht und nicht alles für Alkohol ausgebt«, sagte ich mit gespielter Strenge, denn mir war klar, dass die drei zumindest einen Teil des Geldes verflüssigen würden.

»Hast du eine Bank überfallen?«, wollte Adam wissen, der als Erster die Sprache wiederfand.

»So was Ähnliches«, antwortete ich.

Dann winkte ich kurz zum Abschied, drehte mich um und verließ die Kneipe so schnell wieder, wie ich gekommen war, bevor die drei womöglich noch auf die Idee kamen, mir für irgendetwas dankbar sein zu müssen.