Konstanze hatte nicht erwartet, dass ich ohne Anmeldung in der Galerie erscheinen würde. Wir hatten seit meiner Rückkehr einmal telefoniert, doch ich hatte mich nur über den aktuellen Stand in der Galerie informieren und nichts über meine weiteren Pläne verlauten lassen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich nach meiner Auszeit nicht mehr in mein altes Leben zurückkehren wollte.

Meine frühere Assistentin saß an dem teuren Bauhaus-Schreibtisch, telefonierte, kaute dabei gedankenverloren auf einem Bleistift herum und sah überrascht auf, als ich hereinkam. Alles an ihr, vom blassgrünen Chanelkostüm über die Perlenkette bis zu den gepflegten Händen, strahlte aus, dass sie hier zweifellos am richtigen Platz war. Normalerweise hätte dieser Habitus bei mir Brechreiz hervorgerufen, doch heute würde mir ihre überhebliche Attitüde sehr nützlich sein.

Konstanze beendete schnell das Telefongespräch, das offenbar privater Natur gewesen war, und wandte sich mir zu.

»Vera van den Broek!«, rief sie mit gespielter Freude. »Wie schön, Sie zu sehen.«

Sie stürmte auf mich zu, wollte mir auf beide Wangen ein Luftküsschen geben, doch ich streckte ihr schnell meine Hand entgegen und sagte: »Linke.«

Irritiert zuckte sie zurück. »Was?«

»Linke. Ich habe meinen Geburtsnamen wieder angenommen«, erklärte ich. »Ich heiße nun wieder Vera Linke.«

Zwar würde ich erst am Nachmittag zum Standesamt gehen und den Namen meines Ex-Mannes wieder gegen meinen schlichten alten Namen eintauschen, aber Konstanze konnte ruhig schon davon erfahren.

Meine ehemalige Assistentin kräuselte abschätzig ihre Lippen. »Na, Sie müssen wissen, was Sie tun.«

»Genau. Übrigens war mein Name nie adlig, sondern nur ein … Aber lassen wir das.« Es war sinnlos, sich jetzt noch auf Statusdiskussionen einzulassen.

Konstanze setzte sich wieder auf ihren Chefsessel und wies mir den Platz gegenüber zu. Ein Affront, den ich aber eher amüsiert als verärgert zur Kenntnis nahm.

»Aber Sie sind doch sicher nicht hier, weil Sie mir das mitteilen wollten«, meinte meine frühere Assistentin. Sie hatte wieder den Bleistift in die Hand genommen und spielte ungeduldig damit herum. Ich wunderte mich zunächst über ihre Nervosität, begriff dann aber, dass sie meine sofortige Rückkehr in die Galerie befürchtete.

»Nein, es geht um unseren Vertrag«, antwortete ich daher rätselhaft. »Aber zunächst wollte ich Ihnen sagen: Die Frau am Nebentisch im thailändischen Restaurant vor ein paar Wochen, das war ich.«

»Was meinen Sie?«, fragte sie ehrlich überrascht. Sie hatte mich wohl tatsächlich nicht gesehen.

»Als Sie mit Esposito geheime Deals an mir vorbei einfädeln wollten«, half ich ihr weiter.

Konstanze legte den Bleistift ab und lehnte sich zurück.

»Aber das habe ich schon selbst geklärt. Schöne Grüße von Herrn Laiss übrigens.«

Meine frühere Assistentin wurde leichenblass. Sie schluckte und sah mir ernst in die Augen. »Was wollen Sie?«

»Ich will Ihnen die Galerie verpachten«, antwortete ich und lächelte süffisant.

Damit hatte sie nicht gerechnet. In ihrer Welt gab es nur Sieg oder Niederlage, oben oder unten, und sie hatte eindeutig erwartet, dass ich sie für ihren Verrat hinauswerfen würde. Normalerweise hätte ich das auch getan, denn die ohnehin dünne Schicht des Vertrauens zu ihr war inzwischen vollkommen abgeschmolzen. Aber da ich nicht vorhatte, noch einmal in die Galerie zurückzukehren, war es kaum von Bedeutung, wie gut Konstanzes Verhältnis zu mir war. Ich nutzte ihren Zustand der Verwirrung und zog einen vorbereiteten Vertrag aus der Tasche, der wenig Rechte, aber dafür eine unverschämte Pachthöhe beinhaltete, die dauerhaft die Seniorenresidenz meiner Mutter und mir ein kleines Einkommen sichern würde.

Konstanze unterschrieb unter Schock, ohne auch nur zu versuchen, den Preis zu drücken.

 

Nach diesem für mich äußerst günstigen Abschluss verließ ich gut gelaunt die Galerie und verspürte nicht das geringste Bedauern über den Verlust meiner beruflichen Existenz. Ich lenkte den Wagen zum Zuhause meiner Freundin Nike, die ich zuletzt vor meinem Almaufenthalt gesehen hatte. Damals hatte sie mich für komplett verrückt erklärt und mir prophezeit, dass ich bald reumütig zurückkehren würde.

Sie öffnete die Tür ihrer Penthousewohnung mit einem strahlenden Lächeln. »Vera! Du kommst genau richtig! Ich habe neu dekoriert!«

Das ließ Schlimmes erahnen. Nike ließ mich herein und schob mich regelrecht durch den geräumigen Flur bis in ihr Wohnzimmer. Wie immer war ich beeindruckt, als ich den offenen Raum betrat, der auf der einen Seite aus einer drei Meter hohen Fensterfront bestand. Beim letzten Mal war die Wand hinter der Wohnlandschaft noch komplett mit einem psychedelischen Sechzigerjahremuster tapeziert gewesen. Doch was ich nun sah, verschlug mir wirklich den Atem.

»Ist es nicht wunderschön?«, rief Nike entzückt. »Du selbst hast mich zu meinem neuesten Entwurf inspiriert.«

Die komplette Wand war mit dem riesigen Foto einer Schweizer Berglandschaft bedeckt. Vor einer schicken Alp weideten friedlich ein paar Kühe, während eine attraktive Sennerin mit einer sehr sauberen Milchkanne glücklich lächelnd aus dem Stall trat.

Ich musste schlucken und ließ mich auf das Sofa fallen.

»Da verschlägt es dir die Sprache, was?« Meine Freundin lachte. »Das ist mein neuer Verkaufsschlager. Die Leute wollen nicht mehr das Artifizielle, sondern zurück zur Natur, zur Einfachheit. Das ist der neue Trend!«

Ich sah mich in ihrer exklusiven Wohnung um, in der nichts einfach oder natürlich war. Dann blickte ich wieder auf die Wand mit der Berglandschaft und wurde augenblicklich von einer seltsamen Melancholie befallen.

»Wie findest du es?«, wollte Nike wissen. »Aber warte, ich hole uns erst mal einen Prosecco und zwei Gläser.« Mit diesen Worten war sie schon in der Küche verschwunden.

Während sie dort geschäftig herumhantierte, saß ich auf dem riesigen Sofa, starrte auf das Bild und fühlte mich verloren. Zum Glück kehrte Nike keine zwei Minuten später wieder zurück, sodass ich nicht gänzlich in Depressionen versinken konnte.

»Ich hab noch ein paar Sushi gefunden.« Auf den Designer-Couchtisch vor mir stellte sie zwei mit einer perlenden rosa Flüssigkeit gefüllte Gläser und einen Teller mit japanischen Reishappen. »Jetzt lass uns erst mal darauf trinken! Und dann musst du mir unbedingt sagen, was du davon hältst.«

Sie drückte mir ein Sektglas in die Hand, und wir stießen an. Während sie einen beherzten Schluck von dem Prosecco nahm, nippte ich nur achtlos daran.

»Also?«, forderte sie mich lächelnd auf und schob sich ein Sushi-Häppchen in den Mund.

Ich zögerte. »Wenn alle zurück zur Natur wollen, warum gehen sie dann nicht einfach hin?«

Nikes Lächeln gefror, und sie hatte sichtlich Mühe, ihren Sushi-Happen herunterzuschlucken. »Nun, es hat nicht jeder die Möglichkeit dazu … Außerdem würde ich dann ja keine Tapeten verkaufen!«

Anscheinend lebten die Leute ein Leben, das ihnen nicht guttat, und kauften sich zum Ausgleich eine teure Tapete mit einer Berglandschaft darauf, um sich besser zu fühlen. Genau wie ich also.

»Zurück zur Natur ist nicht so wie deine Tapete«, sagte ich.

»Wie ist es dann?«, fragte Nike irritiert.

»Dreckiger, rauer und …« Ich stockte. »Wunderbarer, ja, viel wunderbarer als dieses Bild.«

Nike verzog bei meinen Worten das Gesicht, doch sie fing sich schnell wieder. »Genau, du musst unbedingt von deinem Almaufenthalt erzählen. Wie war es denn da oben?« Sie war sichtlich erleichtert, dass wir das Thema wechseln konnten.

Ich berichtete ihr von den Sennern, die vor lauter Arbeit nicht ein noch aus wussten, der kargen Landschaft, die keineswegs dem Bilderbuchidyll an ihrer Wand entsprach, von der Käserei mit den schweren Laiben und meinen geliebten Kühen, die immer schmutzig waren.

Nike hörte sich alles mit Interesse an, doch ich merkte, dass sie nicht verstand, was mir daran so gut gefallen hatte.

Bevor sie noch auf die Idee kam, eine weitere Fototapete mit einer Käserei zu entwerfen, verließ ich ihre Wohnung unter dem Vorwand, noch einen wichtigen Termin zu haben, was ja auch stimmte, nur dass dieser viel später stattfand. Den Prosecco und die Sushi hatte ich nicht weiter angerührt.

 

Ich fand mein Haus komplett verlassen vor. Nur der Hund war da und begrüßte mich frenetisch. Er mochte es einfach nicht, wenn er bei meinen Unternehmungen nicht dabei war. Doch bald spürte Pablo meine dumpfe Unzufriedenheit und verkroch sich lieber wieder in seinen Hundekorb. Eigentlich hätte ich doch glücklich sein können. Ich hatte meinen Kopf gerade noch aus der Schlinge gezogen und einen wichtigen Entschluss für meine Zukunft gefasst. Und trotzdem stellte sich bei mir einfach kein Gefühl des inneren Friedens ein.

Ich wandelte lustlos durch das leere Haus, ging von Zimmer zu Zimmer und ärgerte mich, dass ich nicht doch noch bei Nike geblieben war, um ihr von der Aufgabe meiner Galerie zu berichten. Sie war bei all ihrer Luxusverblendung doch ein netter und einfühlsamer Mensch.

Was sollte ich hier? Das Haus mitsamt einem Großteil der Einrichtung hatte ja mein Ex-Mann geplant, der sich ohnehin immer für den besseren Gestalter gehalten hatte. Kaum ein Gegenstand hier drinnen erzählte etwas über mich. Ganz zu schweigen von dem Garten, dessen Rodung ich ja bereits beschlossen hatte. Doch selbst wenn ich alles nach meinen Wünschen umgestalten würde, wäre es unmöglich, gegen die schroffe Kantigkeit dieser Architektur anzukommen.

Zudem lastete noch ein Schuldenberg auf dem Objekt, das zur Hälfte meinem Verflossenen gehörte, denn er hatte es mit einer Hypothek belastet, um mit seiner neuen Familie in einer geschmackvollen Altbauwohnung leben zu können.

Mein Blick fiel auf das Sofa und die Sessel im Wohnzimmer, die mir immer schon besonders verhasst gewesen waren. Sie sahen weder besonders gut aus noch waren sie bequem. Da sie von einem der führenden Möbeldesigner stammten, hatten sie damals ein Vermögen gekostet. An sich waren sie aber ein Demütigungsmöbel, denn wenn man darauf saß, sank man so weit nach unten, dass man danach große Mühe hatte, wieder aufzustehen.

Ich nahm eines der Sofakissen und warf es mit voller Wucht gegen die Wand hinter dem Polstermöbel. Es platzte an einer Naht auf, und die Entenfedern verteilten sich auf das halbe Sofa. Auf einmal bekam ich Lust, ein Messer zu holen und das schreckliche Möbelstück der Länge nach aufzuschlitzen. Doch zum Glück fiel mir rechtzeitig ein, dass ich meine Auszeit auch mit dem Ziel begonnen hatte, neue Wege zu finden, um meine Probleme zu bewältigen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, lachte und ging in den Garten, der immer noch sanft von der Sonne beschienen wurde.

Dort begab ich mich in Grundstellung, verband mich mit Himmel und Erde und absolvierte der Reihe nach alle Übungen, die ich bei Herrn Li gelernt hatte. Mit jedem Ein- und Ausatmen wurde ich ruhiger. Kurz vor Beendigung der letzten Übung klingelte das Telefon. Ich seufzte auf und nahm drinnen den Anruf entgegen.

»Hallo Liebes, ich bin wieder da.« Die Stimme meiner Mutter klang bedrückt und gar nicht mehr so euphorisch wie vor ihrer Abfahrt.

»Schon? Wie war deine Reise?«, bemühte ich mich, Interesse zu zeigen.

»Dieser Hartmut ist ein Hornochse«, stieß meine Mutter hervor.

Ich prustete los, verkniff mir aber geflissentlich den Hinweis, dass ich dies schon vor ihrer Kreuzfahrt festgestellt hatte, und ließ sie einfach reden.

»Stell dir vor, er saß den ganzen Tag in der Bar herum und ließ sich volllaufen, und das auf meine Kosten.«

Also auf meine Kosten, korrigierte ich lächelnd in Gedanken.

»Und dann hat er auch noch mit so einer ordinären Person angebandelt, du glaubst es nicht! Ständig hat er an ihr rumgefingert. Ich habe ihn nicht wiedererkannt!«

Ich schon, dachte ich nur.

»Ich habe ihn selbstverständlich sofort aus der Kabine geworfen und ihm seinen Koffer vor die Tür gestellt. Der Rest der Reise war der reinste Horror für mich. Überall bin ich auf dieses Turtelpärchen gestoßen. Ich bin dann in Puerto Rico vorzeitig ausgestiegen und zurückgeflogen. Du glaubst nicht, wie froh ich bin, wieder zu Hause zu sein.«

Mühsam versuchte ich zu verbergen, wie froh ich war, dass ihre Liaison mit dem Zuhälter beendet war. Dafür stimmte ich ihr in allen Punkten zu und ließ sie noch ein bisschen über ihren verflossenen Liebhaber schimpfen.

»Und was machst du Schönes?«, wollte meine Mutter schließlich wissen.

»Ach, nichts Besonderes, ich bin gerade knapp dem Gefängnis entronnen.«

»Na, dann ist ja alles in Ordnung. Und die Arbeit?« Es war einfach bewundernswert, wie gut meine Mutter zwischen wichtigen und unwichtigen Dingen unterscheiden konnte.

»Ich habe die Galerie jetzt dauerhaft an Konstanze verpachtet.«

Meine Mutter schnappte nach Luft. »Was? Die schöne Galerie? Was soll ich dann in Zukunft sagen, wenn mich jemand in der Stadt fragt, was du beruflich machst?«

Wie immer war es ihr am wichtigsten, wie etwas nach außen wirkte, und nicht, wie jemand sich dabei fühlte. Kein Wunder, dass ich jahrelang einen Job gemacht hatte, der zwar Ansehen hatte, den ich aber eigentlich nicht ausstehen konnte. Doch ich war nicht zornig auf meine Mutter wie sonst, sondern verspürte eine tiefe Nachsicht ihren Schwächen gegenüber.

»Mach dir keine Sorgen, mir wird schon etwas einfallen. Aber jetzt muss ich auflegen, ich muss noch den Garten umpflügen.«

»Okay, dann viel Spaß«, antwortete meine Mutter völlig ungerührt und legte auf.

Erstaunlicherweise hatte sie mir mit ihrem unbedachten Geplapper die Augen geöffnet, dass ich radikale Schritte unternehmen musste, um nicht mehr in die alte Falle vom falschen Leben zu tappen. Ich wusste jetzt endlich, was zu tun war.

Als Erstes rief ich meinen Ex-Mann an und eröffnete ihm, dass ich seine Zustimmung zum Verkauf des Hauses brauchte. Als er Anstalten machte, diese zu verweigern, atmete ich tief durch und erinnerte ihn mit sanfter Stimme daran, dass er die Hypothek auf das Haus ebenfalls ohne meine Zustimmung aufgenommen hatte und mir die Unterschrift dafür quasi in betrügerischer Absicht entlockt hatte, ohne mich über sein Vorhaben zu informieren. Und ob dies vor Gericht nicht als Betrug gewertet würde?

Gleichmütig lächelnd nahm ich seine zähneknirschende Zustimmung entgegen. Es war schon erstaunlich, wie viel man mit der Kraft der Gelassenheit erreichen konnte.

Anschließend machte ich Nägel mit Köpfen, rief bei einigen Maklern an und entschied mich für den, der versprach, sofort vorbeizukommen.

Als dieser das Anwesen besichtigt hatte, vereinbarte ich mit ihm, das Haus möbliert zu verkaufen oder, wie er mit irritiertem Blick auf das federbedeckte Sofa korrigierte, teilmöbliert, und vereinbarte eine Verkaufssumme mit ihm, bei der nach Abzug der Hypothek nicht mehr viel übrig bleiben würde. Ich wollte meinen Ex für seine Mauscheleien auf keinen Fall auch noch belohnen. Dann gab ich dem Makler einen Zweitschlüssel, damit er jederzeit mit Interessenten das Haus betreten konnte. Eine unglaubliche Last fiel von mir ab, als die Tür hinter dem Mann ins Schloss fiel.

Nichts war wertvoller als der eigene Seelenfrieden.

Wie befreit fuhr ich danach zu meinem Termin ins Bürgeramt und trennte mich leichten Herzens von meinem ungeliebten Nachnamen van den Broek.

 

Als Julian nach Hause kam und erfreut feststellte, dass er mich in der nächsten Zeit nicht im Gefängnis würde besuchen müssen, teilte ich ihm mit, dass er sich bald ein Zimmer suchen müsse und, um dies zu bezahlen, auch einen Job, da ich sein Leben leider nicht mehr finanzieren könne.

Er überraschte mich seinerseits mit der Eröffnung, dass er sich in der Zwischenzeit nach Ausbildungsmöglichkeiten zum Möbeltischler umgesehen habe, selbstverständlich mit ausgeglichener Work-Life-Balance, bereits ein Praktikum absolviert habe und ohnehin plane, bald mit seiner Freundin zusammenzuziehen. Zu meiner Erleichterung handelte es sich dabei nicht um Saskia aus dem Nachbarhaus, sondern um das andere bekiffte Mädchen, das ich jedoch kaum gesehen hatte, da es an jenem Abend unter dem Couchtisch gelegen hatte.

Mein Sohn staunte über meine rasanten Entschlüsse, die Galerie abzugeben und das Haus zu verkaufen, und sah mich prüfend an. Vermutlich dachte er darüber nach, ob er meine geistige Gesundheit untersuchen lassen sollte.

Bevor er auf die Idee kam, dies in die Tat umzusetzen, ging ich gleichmütig lächelnd nach oben und packte in aller Ruhe meine Sachen. Wenn meine Gelassenheit in diesem Tempo zulegte, würde ich mich noch in eine Art weiblichen Buddha verwandeln.

 

Am nächsten Morgen legte ich meinem Sohn einen Zettel auf den Küchentisch, fuhr danach mit Pablo, der wie immer, wenn etwas Aufregendes bevorstand, freudig neben mir hertänzelte, zum Bahnhof und stellte mich am erstbesten Schalter an. Die Schlange war lang, und so dauerte es eine Ewigkeit, bis ich an der Reihe war.

Was hatte ich mir zu Beginn meiner Auszeit alles vorgenommen? Eine lange Liste mit verschiedenen Aktivitäten, die mich alle meinem Ziel näherbringen sollten, ein zufriedenes Leben zu führen.

Doch nun wusste ich, dass ich keinen Aufenthalt in einem Ayurveda-Resort in Sri Lanka oder Indien brauchte. Ich brauchte auch keine Kreativkurse und keine weiteren Selbstfindungsseminare. Alles, was ich brauchte, waren eine sinnvolle Aufgabe, meinen Hund, frische Luft und Menschen, die es nicht darauf abgesehen hatten, mir die Nerven zu ruinieren.

»Bitte schön?«, wollte die Bahnangestellte wissen, als ich endlich zu ihr an den Schalter vorgerückt war.

Jetzt war der letzte Moment, in dem ich es mir noch anders überlegen konnte.

Ich holte tief Luft. »Einmal Reichenbach in der Schweiz«, verlangte ich dann mit fester Stimme.

Die Frau am Schalter nickte und begann, mein Ziel in ihren Computer einzutippen. Ohne die Augen von ihrem Bildschirm abzuwenden, vergewisserte sie sich routiniert: »Hin und zurück?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Einfach, bitte. Es ist doch eigentlich ganz einfach.«