NOVE

Bologna, Freunde, amici

Giacomo düst auf seinem Motorrad vorweg, lotst uns durch Bologna, durch die aus rotem Ziegelstein gemauerte Altstadt; in den Gängen der Arkaden sitzen Männer und Frauen, die Ersten gehen schon zum aperitivo über.

Ein paar Wochen zuvor saß ich noch mit Giacomo am Comer See, er ist Fotograf, ich durfte ihn für einen Auftrag kennenlernen; wir aßen Tortellini – und ich erzählte ihm von unserem Vorhaben. Da sagte er: „Marco, du musst nach Bologna kommen – mit uns Ragù essen.“ Sofort wusste ich, er hat recht. Denn was wir als Spaghetti Bolognese kennen, in Bologna aber nie so genannt werden darf, ist hier zu Hause.

Bologna liegt inmitten einer Landschaft, die auf der einen Seite von der Gebirgskette des Apennins, auf der anderen von einem Fluss, dem Po, geprägt ist. Sein Wasser erzeugt den grünen Übermut der Emilia-Romagna, auf deren Wiesen Rinder weiden, von deren Feldern Schweine dick werden, wo das Gemüse wächst und gedeiht. Das wichtigste Utensil der Bologneser Küche sei die eiserne Bratpfanne, sagte mir Giacomo – und dass Bologna drei Namen habe.

La dotta, die Gelehrte, Sitz der ältesten Universität Europas.

La rossa, die Rote, ihrer roten Mauern und ihrer politischen Färbung wegen.

La grassa, die Fette, weil das Essen hier auf die Bauchregion zielt, gehaltvoll ist.

Wegen ihres dritten Namens haben wir den Abstecher unternommen, sind in Zeitnot geraten, sind nicht auf der Landstraße gefahren. Uns geht es allein um das Ragù – und um eine Nacht in Bologna, una notte a Bologna.

Erst schlug mir Giacomo eine Trattoria vor, die bekannt ist für ihr Ragù, die Trattoria da Me, doch nun sagt er, Ragù esse man unter Freunden – und ein enger Freund von ihm sei der beste Ragù-Koch, den er kenne.

Andrea, stellt sich heraus, ist nicht irgendein Hobbykoch. Er, Giacomo und sechs weitere Freunde, junge Männer, haben einen Club gegründet, die Amici della Petroniana, die Freunde der Petroniana.

„Petrowas?“, fragte ich Giacomo am Comer See.

Er meinte, das sei eine Spezialität Bolognas, im Grunde sei es die bolognesische Variante des Wiener Schnitzels.

Jedes Jahr würden sie sich auf die Suche nach der besten Cotoletta alla bolognese machen – so ein anderer Name dafür – und ihre Recherchen teilen, weshalb die Amici ein paar tausend Fans in den sozialen Medien haben.

In ihrer Satzung heißt es, sie seien eine „gemeinnützige Kulturorganisation mit Sitz in Bologna. Gegründet als kulinarische Vereinigung zur Förderung der Petroniana, bemüht sich die Organisation, die das Terrain im wöchentlichen Rhythmus unerbittlich absucht, eine persönliche Rangliste zu erstellen, die sich vor dem traditionellen Rezept verneigt, aber dennoch für Variationen offen ist.“

Nebenbei, sagte mir Giacomo, hielten die Freunde auch stets Ausschau nach dem besten Ragù der Stadt, ihrem zweiten Lieblingsgericht. Der Präsident dieser Vereinigung ist Andrea.

„HA DETTO NOODLES?“,

ob ich Nudeln gesagt habe, fragt Andrea mit leicht gespielter Empörung in die Runde. Auf seiner Dachterrasse, unter uns das unwirklich rot glimmende Bologna, sitzen noch seine Freunde Giacomo und Francesco, außerdem Daniel und ich, der ich ihn gerade gefragt habe, ob ich noch eine zweite Portion Nudeln bekommen könnte.

„Marco, du darfst hier nicht Nudeln sagen – und Spaghetti auch nicht. Tagliatelle mit Ragù!“

Dass Spaghetti nicht die passende Pasta zum Ragù sind, habe ich schon gelernt. Sie seien zu glatt, sie würden beim Aufwickeln mit der Gabel das Ragù nicht mitaufnehmen, sagt Andrea. „Sie sind völlig ungeeignet.“

Zum ersten Mal taucht 1891 in dem Kochbuch La Scienza in cucina e l’Arte di mangiar bene – in etwa: Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst, gut zu essen – ein Gericht namens Maccheroni alla bolognese auf; Maccheroni, weil bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts jede Art von Pasta so hieß. Im Rezept schreibt der Autor des Kochbuchs, Pellegrino Artusi, der mit seinem Standardwerk die italienische Nationalküche begründete, dass die Bologneser eine Pastasorte namens denti di cavallo, Pferdezähne, verwendeten, was den heutigen ziti entsprechen dürfte, einer kleinen hohlen Teigware, die gebrochen werden muss.

Artusi empfiehlt, sein Rindfleisch-Sugo auch mit Dörrfleisch, getrockneten Pilzen, Trüffeln und Geflügelleber anzureichern.

All das wird dem Ragù heute eher nicht mehr beigemengt, obwohl auch Varianten mit Wild- und Lammfleisch gekocht werden, sagt Andrea. Eigentlich gebe es auch gar kein Originalrezept. Die meisten hätten sich auf ein paar Zutaten und eine Zubereitungsweise geeinigt, die eine abgespeckte Version des Rezepts von Artusi ist und eher demjenigen ähnelt, das Anfang der achtziger Jahre durch die Accademia Italiana della Cucina in der Handelskammer von Bologna hinterlegt wurde. „Wenn du einen Freund von mir besucht hättest, hätte er das Ragù anders gemacht. Wieder eine Freundin hätte es wieder anders gemacht – aber am Ende beziehen wir uns alle auf unsere Nonnas.“

Das Ragù müsse sanft, ein wenig süß, aber auch intensiv schmecken und nicht zu fettig sein.

Die perfekte Beschreibung für das, was ich gerade gegessen habe – Rinderpesto.

Andrea habe von seinem Vater Claudio kochen gelernt, der es wiederum von Andreas Großmutter Cesarina – Mutter von drei Kindern, wie er und sein Vater in Bologna geboren – beigebracht bekommen hatte. Später habe sein Vater zusammen mit einem Freund, für dessen Restaurant Andrea als Koch gearbeitet hat, eine Kochschule eröffnet. Heute arbeitet Andrea für eine Versicherung, „doch im Grunde genommen bin ich Koch – mein zweiter Job“.

Das Ragù ist ein einfaches Gericht, erfordert wenig Zutaten, die aber von guter Qualität. Am Herd mussten die Bäuerinnen früher oft das teure Fleisch, ähnlich wie das beim Gulasch der Fall ist, verlängern, ohne dass es gestreckt wirkte. Manchmal mussten sie auch primo und secondo, Vorspeise und Hauptgericht, verbinden. Essen für die guten Tage, sagt Andrea, für sonn- und feiertags. Eine seiner klarsten Erinnerungen stamme aus dem Haus seiner Großmutter. Sonntagmorgens, das köchelnde Ragù, vielleicht der schönste Geruch, den er im Leben gerochen habe. Er erinnere sich auch gern an die Laune seiner Großmutter an diesen Sonntagen. Gab es Ragù, war sie – aufgewachsen in einer Zeit des Krieges, in der Fleisch knapp war – immer sehr vergnügt.

Meine Großmutter summte, sie tänzelte fast um die Röhre, in der seit Stunden der Braten stand. Es war sonntags, immer wieder sonntags.

Die Dachterrasse von Andrea ist ein magischer Ort, sie liegt direkt an der Piazza Maggiore, dem zentralen Platz Bolognas, unter uns reihen sich die wichtigsten Bauwerke der Stadt aneinander, die nie zu Ende gebaute Basilika San Petronio, eine der größten Kirchen der Welt, und nur ein paar Momente zu Fuß entfernt die beiden wie Brüder wirkenden viereckigen, sich in den Himmel streckenden Türme, der knapp hundert Meter hohe Asinelli und der knapp halb so hohe Garisenda, le Torri; man kann sagen: Wolkenkratzer. Als ich Bilder des frühen Bologna sehe, damals gab es zweihundert solcher Türme, muss ich an Fritz Langs Metropolis oder gleich an New York denken; gebaut von wohlhabenden Familien – sie waren repräsentativ und boten Schutz vor Angriffen.

Am faszinierendsten finde ich aber die portici, die Arkadengänge. Giacomo erzählt, dass er sie liebe, weil Bologna eine der wenigen Städte sei, in denen man bei Regen nicht nass werde. Schon vor rund tausend Jahren erweiterten die Bewohner Bolognas ihre Wohnungen; als später immer mehr Studierende und Wissenschaftler in die Stadt drängten und der Wohnraum knapp wurde, bauten sie die portici noch weiter aus; so entstanden Gänge, die sich über eine Gesamtlänge von knapp vierzig Kilometern durch die ganze Stadt ziehen. In den Geschäften, die sie beherbergen, werden Käselaibe in allen erdenklichen Größen verkauft, baumeln Schinken von den Decken, werden Balsamico aus Modena und Trüffeln aus den Wäldern der Emilia-Romagna angeboten, und frische Pasta liegt eierteiggelb und spinatgrün in den Auslagen.

Zwischen diesen Ladenzeilen führen Treppen und Aufzüge in die Wohnungen der Bologneser. Schaue ich, es dürfte jetzt gegen acht Uhr abends sein, auf die Dächer und Mauern der Stadt, also nach rechts und links: rot; sehe ich nach oben, ist der Himmel aufgeladen von der untergehenden Sonne: rot. Und sehe ich nach unten – rot, meine zweite Portion Ragù. Diese Farbe, questo rosso, ein seltsames Rot, Nicht lehmrot, nicht terrakottarot – bolognarot.

„Machst du die Tagliatelle selbst?“, habe ich Andrea ein paar Stunden zuvor in der Küche gefragt.

„Wenn ich für meine Freundin koche – immer. Das ist ein Weg, ihr zu zeigen, dass ich sie liebe.“

Heute hatte er dafür keine Zeit. Er habe frische Pasta gekauft, das gehe ausnahmsweise, fühle sich aber merkwürdig an.

Am meisten hat mich überrascht, dass Andrea ein Glas Milch in das Ragù gibt, um die Säure abzufedern. Außerdem benutzt er fast zwei Tuben Tomatenmark – weder conserva noch frische Tomaten. Andrea fragte mich, wie ich bisher mein Ragù zubereitet habe.

„Mit Dosentomaten“, antwortete ich.

„Eine gute Alternative“, sagte er.

„Bisschen frischem Thymian.“

„Hmm.“

„Knoblauch“, sagte ich daraufhin zögernd.

„Oh“, er verzog das Gesicht, Knoblauch überdecke den Geschmack. Andrea sagte, seine Großmutter streue noch in Olivenöl gebratene Steinpilze über das fertige Ragù, das verleihe ihm zusätzlich eine nussig-erdige Note. Aber das wichtigste sei das stundenlange Köcheln des Fleischs auf kleiner Flamme.

Andreas Ragù alla bolognese

Olivenöl50 g Butter1 große Zwiebel1–2 Karotten
2 Stangen Staudensellerie150 bis 200 g Pancetta
400 g Rinderhackfleisch (falls möglich: Cartella di Manzo)Muskatnuss
1 Glas Rotweinetwa 280 g dreifach konzentriertes Tomatenmark oder
500 g San-Marzano-Conserva
1 Glas Milch
Für die Tagliatelle: siehe Rezept Seite
72

Zuerst das Soffritto, also die Aromabasis des Ragù, herstellen. Dafür reichlich Olivenöl und das Stück Butter in eine schwere Pfanne geben, Herd auf höchster Stufe, erst die Zwiebeln, dann die Karotten und 2 Stangen Staudensellerie, jeweils sehr fein gewürfelt, anbraten. Nach 5 bis 7 Minuten die klein geschnittene Pancetta dazugeben, weitere 5 Minuten später das Hack hinzufügen, immer rühren, nun salzen und pfeffern. Ganz Bologna tut es, es gehört aber nicht ins klassische Rezept: Muskatnuss darüberreiben. Wenn kein Fett mehr zu sehen ist, Rotwein dazugeben; ein Chianti oder ein perlender Lambrusco di Sorbara passt später auch gut zum Ragù. Sobald der Wein verdampft ist, Herd auf kleine Stufe stellen. Das dreifach konzentrierte Tomatenmark oder die Tomaten-Conserva hinzugeben, umrühren und die Milch ins Ragù, sie macht es cremiger und gleicht die Säure der Tomaten aus. Deckel drauf – und 3 bis 4 Stunden köcheln lassen. Immer wieder einen Blick in die Pfanne werfen, fehlt Feuchtigkeit, einen Schuss Wasser nachgeben. Wenn sich das Fett von der Sauce trennt, ist das Ragù fertig. Mit der gekochten Pasta vermengen. Frisch geriebenen Parmesan dazu servieren.

Andreas Bauch buchtet sein schwarzes Polohemd leicht aus, das sich beim Kochen sanft über die Arbeitsplatte der Küche wölbt. Zu Anfang sagte er den Satz: „Ragù ist nicht gesund. Das ist ein Problem in Bologna. Im Grunde essen wir hier nur Fleisch.“ Auf Brusthöhe ist ein weißer Schriftzug auf den Stoff des Polohemds gestickt, Amici della Petroniana. Ich frage ihn, was sie mit ihrem Club bezwecken wollen.

Er antwortet, die Cotoletta alla bolognese sei das einzige Hauptgericht der Stadt. Ihr Ziel sei es, sie über Bologna hinaus bekannter zu machen.

La Petroniana di Bologna degli Amici

Für die Cotoletta: 4 Scheiben Kalbsschnitzel (oder -kotelett)Mehl
2 Eier120 g ParmesanZitronePaniermehl4 dünne Scheiben roher
Schinken
ButterRinderbrüheBratensauceSalzPfeffer
Für den Friggione: 2 kg weiße Zwiebeln
1 TL PuderzuckerMeersalz
2 TL Schmalz (oder Olivenöl)400 g reife, blanchierte und enthäutete
Tomaten
schwarzer Pfeffer

Für den Friggione Zwiebeln schälen und in dünne Scheiben schneiden, mit dem Zucker und dem Salz gut vermischen. Damit sie Wasser verlieren und an Süße gewinnen, mindestens 2 Stunden ruhen lassen. Die Zwiebeln mit der gewonnenen Flüssigkeit und dem Schmalz in einen großen Topf mit dickem Boden geben. Bei schwacher Hitze 2 Stunden köcheln lassen, gelegentlich umrühren. Die Zwiebeln dürfen nicht am Boden kleben bleiben. Sobald sie sehr weich und haselnussbraun sind, die blanchierten, gehackten Tomaten und den frisch gemahlenen Pfeffer dazugeben. Mindestens 1,5 Stunden weiterköcheln lassen, bis der Friggione cremig geworden ist.

Die Kalbsfleisch – in Bologna werden eher Schnitzel verwendet als Koteletts – säubern und dünn klopfen, erst durch Mehl, dann durch eine Mischung aus Eiern und ein wenig Parmesan ziehen, mit Zitronensaft beträufeln, salzen und pfeffern, schließlich im Paniermehl wenden, andrücken.

Reichlich Butter erhitzen, Koteletts goldgelb braten, auf jedes eine Scheibe Schinken legen und darauf den geriebenen Parmesan verteilen. 2 Esslöffel Brühe und, falls vorrätig, ein wenig Sugo di carne, Bratensauce, in die Pfanne geben. Zugedeckt auf kleiner Flamme stehen lassen, bis der Käse geschmolzen ist. Zur Cotoletta alla bolognese und dem Friggione, der auch als Antipasto gegessen werden kann, Thymian-Backofenkartoffeln servieren.

Am nächsten Morgen, ein Sonntag, sieben Uhr, hole ich uns einen caffè bei einem panificio unter den Arkadengängen. Als wir die Tiefgarage erreichen, fragt mich der Parkwächter am Kassenhäuschen: „Welches Auto?“ „Die Giardiniera“, antworte ich. Plötzlich beginnen seine Augen zu leuchten. Er stellt sich als Roberto vor, sagt, dieses Auto habe auch sein Vater, ein Gemüsehändler aus Messina, gefahren. Schon bei unserer Ankunft in Bologna hatte uns ein Mann angesprochen, wir warteten gerade auf Giacomo. Erst dachten wir, wir hätten den Wagen des Mannes zugeparkt, da wir in zweiter Reihe standen. No, no, no, sagte er uns zeigefingerschüttelnd; sein Vater habe auch so einen gefahren. Dann machte er ein Foto von unserer Erinnerungsmaschine.

Die Bewohner Bolognas werden oft als offen beschrieben. Auch mir fiel sofort auf, wie unbekümmert sie auf einen zugehen. Giacomo bot mir bereits am Comer See an, uns in Bologna bei seinen Freunden einzuquartieren. Andrea öffnete sofort seine Dachterrasse und seine Küche für uns, er dürfte einer der hilfsbereitesten Menschen sein, die ich kennengelernt habe. Nein sagt er nur zum Knoblauch im Ragù. Bei den meisten Restaurants der Stadt, das fiel mir auf, wenn ich durchs Fenster hineinsah, liegt die Küche, gut einzusehen, direkt am Eingang.

Vielleicht, denke ich, färbt die Offenheit der portici auf ihre Bürger und Bürgerinnen ab? Vielleicht leben in der Hochburg des linken Italiens die glücklichsten Menschen? Vielleicht sollte Bologna einen weiteren Namen tragen, la gioiosa, die Glückliche. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein Song über Bologna diese offene Art ebenfalls anspricht, wenn jemand fragt, wofür du stehst, sag für Amore, Amore.