1. KAPITEL
Gegenwart
Shaw
Mir zittern die Hände. Mein Magen rebelliert. Pure Angst lässt Säure meine Magenschleimhaut verätzen. Die Säure kommt mir immer wieder hoch, und ich schlucke sie wieder hinunter.
Ich bemühe mich, nicht überzureagieren. Ich will Annabelle einen Vertrauensvorschuss gewähren, aber … sollte
ich das? Sie ist nicht gerade Schneewittchen, und noch vor vier Jahren hätte sie nicht weiter vom Status einer Märchenprinzessin entfernt sein können.
Ihre Drogensucht hatte sie geschwächt, sie verändert, sie uns fast genommen. Hätte ich sie damals nicht gerettet, hätte sie nicht selbst gemerkt, dass sie den Tiefpunkt erreicht hatte, wäre sie schon lange verloren. Würde in einem Crackhaus vor sich hin vegetieren oder auf dem Friedhof neben meinem jüngeren Bruder ruhen, der zwei Tage nach seiner Geburt verstarb.
Ich wiederhole immer wieder die Worte des Arschlochs, das scharf auf meine Frau ist, und wünschte, es seien andere. Ich bete, dass sie nicht wahr sind.
»Bin ich im Spiel, Shaw?«, höhnt er. »Sie haben Ihre Schwester in jener Nacht vom Polizeirevier abgeholt. Haben es auf wundersame Weise geschafft, dass die Anklage wegen Kokainbesitzes fallen gelassen wurde. War sie nicht nass bis auf die Knochen? Vollkommen
außer sich? Welchen Schwachsinn hat Ihnen Ihre drogenabhängige Schwester aufgetischt, den Sie ihr mit der Gutgläubigkeit eines Fünfjährigen abgekauft haben?«
Rechts von mir hupt es laut. Erschrocken reiße ich das Steuer nach links, weil ich auf die rechte Spur geraten bin.
»Pass doch auf, du Arsch«, schreit eine Frau mit drei Kindern auf dem Rücksitz aus ihrem Autofenster, das sie extra heruntergelassen hat, um mich zu beschimpfen. Sie zeigt mir den Stinkefinger, bevor sie über eine gelbe Ampel rast, die auf Rot springt, während ich anhalte.
Super Vorbild. Tretet nicht in ihre Fußstapfen, Kids.
Während der Motor im Leerlauf läuft, schweifen meine Gedanken ab, und ich erinnere mich widerwillig an die Nacht, die sich mir für immer ins Gedächtnis eingebrannt hat.
»Merc, du musst herkommen.«
»Was ist los?« Mir wird ganz übel. Ich kenne die Antwort schon.
»Es ist deine Schwester. Sie ist ziemlich von der Rolle.«
Scheiße. Annabelle, was hast du jetzt wieder angestellt? Ich schnappe mir meine Schlüssel und bin schon zur Tür raus. Ich gleite auf den Fahrersitz und lasse den Motor des Wagens an. Die Bluetooth-Übertragung übernimmt. »Hast du meine Eltern angerufen?«
»Das hätte ich tun sollen, aber …«, weicht Bull aus, dessen raue Stimme aus den Lautsprechern dröhnt.
Erleichterung überkommt mich. »Danke, Mann. Bin gleich da.«
Ich rufe sofort Noah an, und eine halbe Stunde später treffen wir uns vor dem Polizeirevier von Seattle. Als wir aufgrund des Starkregens klatschnass eintreten, begrüßt uns Captain Ryan. Captain Cade Ryan, oder Bull, wie wir unseren besten Linebacker an der Highschool liebevoll nannten, ist ein guter Freund von Noah und mir
.
»Was ist los, Bull?«, frage ich und versuche mich zusammenzureißen.
Er schüttelt den Kopf und biegt in den Gang links von uns. Wir folgen ihm schweigend durch einen Korridor nach dem anderen, bis wir vor einer geschlossenen Holztür stehen bleiben. Erst dann richtet Bull das Wort an uns. Nun, an mich.
»Deine Schwester braucht dringend Hilfe, Merc. Eine professionelle Therapie. Einen Entzug. Ich könnte sie sofort wegen Drogenbesitzes verhaften. Bei einer Verurteilung kriegt sie dafür fünf Jahre.«
Ich schließe die Augen und lasse verzweifelt den Kopf hängen. »Was hatte sie bei sich?«, frage ich, während ich mit leerem Blick auf den verfilzten Teppichbodenbelag starre, der vor zwanzig Jahren einmal hellbraun gewesen war. Jetzt ist er nur noch ein verfilztes Meer aus Dreck, schlechten Entscheidungen und verkorksten Leben.
»Kokain.«
»Scheiße«, fluchen Noah und ich laut.
»Hör zu, ich weiß nicht mal, ob es ihres war. Sie streitet es natürlich ab. Neben dem Wagen lag ein kleines Plastiktütchen, und sie saß mit noch drei Mädchen drin, aber es ist offensichtlich, dass sie was genommen hat.«
»Wo habt ihr sie gefunden?«
»In der Holsteen Road. Sie und die drei anderen Mädchen. Sie saß nicht am Steuer, aber es war ihr Wagen. Sie wurden wegen Geschwindigkeitsüberschreitung und unberechenbarer Fahrweise angehalten.«
Ich fixiere ihn mit einem verzweifelten Blick. Annabelle wird in Kürze siebzehn, und eine strafrechtliche Verurteilung würde ihr die Zukunft versauen. Dann könnte sie sich Stipendien und das College abschminken. Normalerweise kommt man bei einer Anklage wegen Drogenbesitzes mit einer Bewährungsstrafe davon … wenn man zum ersten Mal mit dem Gesetz in Konflikt gerät, und vor al
lem wenn man die besten Anwälte hat, zu denen ich zufällig Zugang habe. Doch das ist nicht ihr erstes Mal. Und das hier ist viel schlimmer als ein paar Portionsbeutel mit Gras. Sie könnte in echten Schwierigkeiten stecken.
»Und was jetzt?«
Aufgrund meiner unausgesprochenen und unlauteren Bitte an einen verdammten Police Captain herrscht große Anspannung.
Wie kriege ich diesen Mist geregelt?
Nachdem er mich, wie mir scheint, qualvoll lang hat warten lassen, unterbreitet er mir einen Vorschlag. »Sie tritt auf der Stelle eine stationäre Entziehungskur an. Dreißig Tage mindestens.«
»Das kriege ich hin.« Ich weine fast angesichts dieses Geschenks, das er Annabelle macht, doch sie wird es nicht so sehen. Sie wird es schlimmer finden als eine Gefängnisstrafe.
»Besorg ihr Hilfe, Merc. Wenn ich sie noch einmal hier drin sehe, kann ich nichts mehr für sie tun. Und wenn einer von euch auch nur ein Sterbenswort sagt, bin ich meine Dienstmarke los.«
Ich habe vor Rührung einen Kloß im Hals. Ich nicke stumm, weil ich nicht antworten kann. Das tut Noah für mich. »Wir haben verstanden. Danke, Bull. Wir geben dir Deckung.«
Als Bull die Tür öffnet, erstarre ich beim Anblick des winzigen, fragilen Geschöpfs, das auf einem Metallstuhl an einem entsprechenden glänzenden rechteckigen Tisch sitzt. Annabelles Wangen sind mit Mascara verschmiert. Vom Weinen gerötete Augen, ruheloser Blick. Zerzauste blonde Haare. Ein geschwollener Cut an der Lippe. Ihre Kleider sind verrutscht, ihr Oberteil zerrissen. Ein Arm ist völlig zerkratzt. Ihre gesamten fünfundvierzig Kilo sind vollkommen durchnässt.
Sie sieht aus, als könnte sie durch einen schlichten Atemzug entzweibrechen.
»Bluebelle, was hast du dir angetan?«, stoße ich hervor und kann die Träne nicht zurückhalten, die mir übers Gesicht läuft
.
In Zeitlupe blickt sie auf. Mir stockt der Atem, als ihre abgestumpften, eisblauen Augen sich auf meine heften. Sie braucht mehrere Sekunden, bis ihr klar wird, dass ich es bin, und als sie mich erkennt, springt sie vom Tisch auf und wirft sich in meine Arme wie früher als kleines Mädchen. Sie umschlingt mich mit Armen und Beinen und schluchzt hemmungslos.
»Was ist passiert, Belle?«
Sie antwortet nicht. Ihr winziger Körper zittert stumm an meinem.
Ich erinnere mich deutlich, dass ich eine halbe Stunde brauchte, bis ich sie so weit beruhigt hatte, dass ich sie aus dem Polizeirevier wegschaffen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Während ich Annabelle zu beruhigen versuchte, bemühte sich Noah, eine Klinik für sie zu finden. Als wir gingen, hatte er einen Aufenthalt in einer kleinen luxuriösen Einrichtung in Portland für sie arrangiert. Das Letzte, was wir brauchen konnten, war eine Klinik hier vor Ort, wo die Presse davon Wind bekommen konnte.
Annabelle hat mir nie viel von dieser Nacht erzählt, sodass ich bis zum heutigen Tag keine Details kenne. Wenn ich sie bedrängte, zog sie sich zurück, weshalb ich beschloss, dass es sich nicht lohnte, die Sache wiederaufzuwärmen, da ihr Leben eine ganze Weile auf der Kippe stand und ich ihr nicht durch ein Verhör den letzten Stoß versetzen wollte. Sie erlitt mitten in der Behandlung einen Rückfall, verließ die Klinik, kam wieder zurück. Aber sie hat es durchgestanden und es geschafft, clean zu bleiben, bis sie letztes Jahr einen Fehltritt beging und auf eigenen Wunsch in die Klinik zurückkehrte.
Drogensucht ist für alle Beteiligten eine herzzerreißende Erfahrung, den Suchtkranken eingeschlossen. Hoffnungen platzen, Loyalitäten werden zerstört, Vertrauen ausgehöhlt, bis
es nicht mehr vorhanden ist. Es braucht ein ganzes Leben, um all das zurückzugewinnen, wenn das überhaupt möglich ist. Und ein Fehler … ein einziger
Fehler kann dazu führen, dass auf dem Spielbrett alle aufs Startfeld zurückgehen müssen, verärgert darüber, von vorne anfangen zu müssen.
Auch wenn es ihr in letzter Zeit gut ging, gebe ich ohne Scham zu, dass ich es mit ihr nie viel weiter als bis aufs Startfeld geschafft habe. Als ich jetzt am Eingang der Allen Library stehe und meine Schwester, die ihre Nase in ein Buch gesteckt hat und ganz gelehrt, glücklich und jugendlich-frisch aussieht, beobachte, erstarre ich.
Kann ich ihr auch nur ein Wort glauben?
Werde ich Antworten auf Fragen finden, von denen ich nicht einmal sicher bin, dass ich sie wissen will?
Meine ganze Zukunft hängt von meiner kleinen Schwester ab. Ist das nicht die totale Ironie? Vor ein paar Jahren hing ihre ganze Zukunft von mir ab. Ein einziges Mal im Leben brauche ich von einem anderen Menschen etwas und fühle mich im Stich gelassen. Bei der Vorstellung, Willow nicht mehr in meinem Leben zu haben, zieht sich meine Brust zusammen.
Vielleicht sollte ich lieber bei Bull anklopfen, um herauszufinden, wie zum Teufel Reid »Arschgesicht« Mergen überhaupt von einem Fall wissen kann, dessen Akte angeblich »verlegt« wurde. Vielleicht sollte ich das Problem aus einer ganz anderen Richtung angehen und Reid Mergen dabei so tief vergraben, dass er nie wieder Tageslicht sieht. Seinen Ruf so beschmutzen, dass ihm niemand mehr auch nur eins der bösartigen Worte glaubt, die er absondert.
Ja. Neuer Plan.
Ich bin schon halb an meinem Wagen, als ich hinter mir Annabelles melodische Stimme höre. »Hey, wo willst du hin?
«
Für den Bruchteil einer Sekunde erwäge ich, so zu tun, als hörte ich sie nicht. Einfach nur in den Wagen zu steigen, zum Polizeirevier zu fahren und herauszufinden, wer Bulls Spitzel ist. Wenn ich mich zu ihr umdrehe, wenn ich mit meiner Anschuldigung einen Keil zwischen uns treibe, kann ich es nicht mehr zurücknehmen. Wenn die Katze einmal aus dem Sack ist, werde ich das haarige Ungeheuer nie mehr zurückstopfen können.
Vielleicht ist das genau das, was Mergen will. Vertrauen zerstören. Zweifel säen. Eine Falle stellen, in der ich mich selbst anzünde, während er mit dem Feuerlöscher dabeisteht, den er nicht zu benutzen beabsichtigt.
Doch als ich an seinen Hohn zurückdenke, weiß ich, dass darin etwas lag, das ich nicht wahrhaben wollte, während ich mit dem Gedanken spielte, ihn zu erwürgen.
Feste Überzeugung.
Er war sich so verdammt sicher, dass seine Behauptungen wahr waren.
Sei kein Weichei, Merc
. Ich kann vor der Sache nicht davonlaufen, selbst wenn ich es wollte. Ich muss wissen, was in jener Nacht geschah, jetzt erst recht. Und wenn etwas passiert ist, rausfinden, wie ich die Konsequenzen abmildern kann, ohne dabei einen Menschen zu verlieren, den ich liebe.