2. KAPITEL
Shaw
»Ich hab nur was vergessen. Aber das kann warten«, antworte ich, als ich mich zu ihr umdrehe.
»Sicher? Du siehst« – sie kneift die Augen zusammen, legt den Kopf schief und mustert mich einen Tick zu genau – »merkwürdig aus.«
Was? Strömt mir die Panik, die in mir wie eine Flut anschwillt, aus den Poren? Macht sie mein Gesicht hager? Meinen Blick vor Angst wirr? Man stelle sich das vor!
»Du siehst mal wieder Gespenster, Bluebelle.«
Sie presst den Mund zu einer dünnen Linie zusammen. Mein Ablenkungsmanöver ist gescheitert. Erneut überlege ich kurz, ob ich abhauen soll, aber scheiß drauf. Dieses Gespräch zu verschieben, wird es nicht einfacher machen. Und es macht diesen Mist ganz sicher nicht ungeschehen.
Ich nehme sie sanft am Arm und dirigiere sie zu einer freien Bank unter einer großen Eiche am Gehweg. Der Herbst hat Einzug gehalten, und die Natur ist wehrlos gegen ihn. Die Blätter nehmen schon kupferrote und gelbe Töne an. Ein paar wenige sind bereits ausgetrocknet und früh abgefallen. Während wir schweigend gehen, rascheln sie unter unseren Füßen.
Ich setze mich hin und genieße die Wärme des Metalls, die durch meine Anzughose dringt. Ich habe Angst, dass sich mein Körper gleich so kalt wie Trockeneis anfühlen wird .
»Was ist los, Shawshank?«
Ich lasse den nervigen Spitznamen aus meiner Kindheit an mir abperlen, blicke stur geradeaus und beobachte das geschäftige Treiben auf dem Campus. Ich weiß noch, wie ich früher zwischen meinen Kursen draußen saß wie jetzt und die Studienanfängerinnen beobachtete, die tugendhaft und nichtsahnend an mir vorbeischwirrten, während ich sie sichtete, um die Schamlosen unter ihnen herauszufiltern, damit Noah und ich uns später mit ihnen amüsieren konnten.
Wäre Willow damals vorbeispaziert, wäre sie sofort aussortiert worden. Zu süß, zu bieder. Viel zu unschuldig. Und wie schade das gewesen wäre! Niemals ihre weichen Rundungen oder ihre seidigen Haare zu berühren. Nie zu spüren, wie sie unter meinen Liebkosungen dahinschmilzt, oder das Stocken ihres Atems zu hören, wenn sie unter meinem schweren Körper die Selbstkontrolle verliert. Himmel, der Gedanke, sie niemals wieder meinen Namen flüstern oder stöhnen zu hören, ist unerträglich. Sie hat mich so verändert, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Anscheinend ist sie die Frau, auf die ich gewartet habe, und ich hätte sie mit einem flüchtigen Blick aus genau dem Grund ausgemustert, aus dem ich mich heute zu ihr hingezogen fühle.
»Was hast du an dem Abend gemacht, als du wegen Kokainbesitzes aufgegriffen wurdest? Und diesmal will ich die Wahrheit, Bluebelle.«
Ich sehe sie nicht einmal an, als ich mit dieser Frage herausplatze, die mit der Wucht eines Mack Trucks von hinten in sie reinknallt. Ich weiß, dass es so ist, denn ich höre, wie der Atem aus ihrer Lunge entweicht, kurz bevor sie nach Luft schnappt.
Ich drehe den Kopf, um meine Schwester scharf anzusehen. Sie starrt mich schockiert an. Ich kenne den Grund. Das ist ein Tabuthema zwischen uns. Verdammt, für die gesamte verdammte Familie. Wir gehen alle wie auf Eiern und hoffen, dass sie unter unseren schweren Schritten nicht zerbrechen. Sprecht nie darüber, wie Annabelle außer Kontrolle geraten ist. Es könnte sie aufregen . Es ist, als sollten wir alle vergessen, dass sie eine Suchtkranke im Genesungsprozess ist. Dass sie immer eine genesende Suchtkranke sein wird.
Doch ich habe es nie vergessen. Und sie sollte das auch nicht. Das sollte keiner, dem sie wichtig ist. Anscheinend hat das auch ein Außenstehender nicht getan, der jetzt ganz versessen darauf ist, mir wegzunehmen, was mir gehört, indem er meine Liebe zu meiner Familie gegen mich verwendet. Er kann ja nicht ahnen, dass es genau diese Liebe zu meiner Familie ist – und dazu gehört inzwischen auch Willow –, die mich antreiben wird, ihn zu zerstören.
»Beantworte die Frage, Bluebelle.« Ich dämpfe meinen Ton nur unwesentlich, und meine heisere Stimme verrät meine Anspannung. Sie verheimlicht mir etwas. Ich sehe das glasklar in ihren eindrucksvollen blauen Augen. Sie versuchen, unter die Oberfläche zu tauchen und versteckt zu bleiben.
Tja, ich ziehe sie wieder nach oben. Es ist an der Zeit, die alten Gespenster zu Tage zu fördern, egal wie laut sie heulen.
»Warum …?« Sie hält inne, um zu schlucken, und das Schuldgefühl, das mich immer beschleicht, wenn ich meine kleine Schwester aufrege, wird größer, als ihre Augen feucht werden. Ich kämpfe gegen meinen Instinkt an, ihr eine Ausweichmöglichkeit zu eröffnen. Ich brauche diese verdammte Antwort. Für mich, für Willow, aber ehrlich gesagt … hauptsächlich für sie. Dieses Wahlkampf-Arschloch hat etwas gegen sie in der Hand, und ich muss herausfinden, was es ist, und es aus dem Weg räumen. Vielleicht kann ich es sogar zu Grabe tragen, bevor Willow überhaupt davon erfährt .
»Warum fragst du mich das jetzt?«, fragt sie mit belegter Stimme.
Das Gewicht dessen, was sie nicht gesagt hat, wiegt so verdammt schwer, dass meine Halsmuskeln erschlaffen und ich den Kopf senken muss. Ich falte meine Hände und lasse sie zwischen meinen Beinen nach unten hängen, während ich mich bemühe, meine Atmung und mein Temperament unter Kontrolle zu halten.
Ich stehe an einer der größten Wegscheiden meines Lebens. Verrate ich mich und frage sie einfach rundheraus, oder manipuliere ich sie mit Fragen wie in einem gottverdammten Kreuzverhör und hoffe, dass sie sich selbst ein Bein stellt und ich sie bei einer Lüge ertappe?
Das ist unerträglich.
Ich war nie der Typ, der um den heißen Brei herumredet. Ich komme sofort auf den Punkt und habe keine Zeit für Bullshit. Zumindest bei allen außer ihr. Meiner seelisch fragilen kleinen Schwester, für die ich mein Leben hingeben würde. Doch das hat heute ein Ende. Das muss es. Ich muss wissen, was auf mich zukommt. Ich kann nicht im Dunkeln tappen und hoffen, blind eine Rettungsleine zu fassen zu bekommen.
Ich hebe den Kopf wieder und drehe mich zu ihr. Der Brunnen aus Tränen in ihren Augen ist kurz davor, überzufließen. »Ich frage dich jetzt, weil es jetzt wichtig ist. Warst du in jener Nacht auf der Schultz Bridge?«
Aus ihren Wangen entweicht alle Farbe, und der Damm, der das Wasser zurückhält, bricht. Tränen strömen über ihre blasse Haut, während sie mich weiterhin unverwandt anstarrt.
Und da weiß ich es.
Meine Schwester hat etwas mit dem frühzeitigen Tod von Charles Blackwell zu tun .
Himmel Herrgott.
Meine Schwester hat mitgewirkt in jener Nacht, die das Leben eines Menschen beendete: des Vaters der Frau, die ich liebe. Mir ist, als hätte ich Steine verschluckt. Meine Lunge zieht sich zusammen, als hätte jemand einen Strick drum herum geschlungen und würde mit aller Kraft daran ziehen. Mir ist speiübel.
Als sie leise antwortet: »Ich weiß nicht«, flippe ich aus.
»Du weißt es nicht?«, brülle ich, woraufhin ein paar Passanten erschrocken stehen bleiben. »Oder soll ich nur nicht wissen, dass du den Tod eines unschuldigen Menschen verursacht hast, während du mit Kokain zugedröhnt warst?«
»Wovon sprichst du, Shaw?«, fragt sie mit erstickter Stimme.
Oh Scheiße nein. Wir tun das nicht hier. Ich hätte dieses Gespräch niemals in aller Öffentlichkeit beginnen dürfen.
Ich ziehe sie am Ellbogen hoch und führe sie zum Wagen. Als wir beide drin sitzen, ist sie stinksauer.
»Ich habe niemanden umgebracht, Shaw«, schreit sie mit wirrem Blick. Sie pult abwesend an einer verschorften Wunde an ihrem Arm, die zu bluten beginnt. »Ich schwöre es. Ich schwöre es.« Sie wiederholt diese drei Worte immer wieder.
Sie hat in meinem Beisein einen Zusammenbruch.
Ich halte den Finger fest, der sich in ihre Haut bohrt. Unter meinen Fingerspitzen verschmiert warmes Blut. Sie zittert. Ihre angsterfüllten Augen treten hervor und fixieren mich so, dass es fast schmerzt. Ich kneife mich in den Nasenrücken, atme mit geschlossenen Augen langsam ein und aus und überlege mir meinen nächsten Schritt.
»Erzähl mir alles, was du von dieser Nacht noch weißt.«
Sie blinzelt mehrmals, bevor sie ihre Aufmerksamkeit auf die Frontscheibe richtet. Mit jeder Sekunde, die vergeht, verliere ich nicht nur die Geduld, sondern auch meinen verdammten Verstand.
»Annabelle«, knurre ich.
»Ich weiß nicht mehr viel«, sagt sie tonlos.
»Definiere nicht viel
In der Hoffnung, ihr Starthilfe zu geben, da sie jetzt in ihrer eigenen Gedankenwelt verloren zu sein scheint, drücke ich sanft ihre Hand. Ich zähle die Sekunden, denn ich bin kurz davor, aus der Haut zu fahren.
Als sie endlich spricht, klingt es monoton, als hätte sie sich von diesen Ereignissen abgekoppelt. »Ich war mit Hannah, Emily und Lia aus. Wir haben ein bisschen gekifft, bevor wir zu einer Party im Valley gegangen sind.« Ich rolle im Geist mit den Augen. Rainier Valley gehört nicht gerade zu den attraktivsten Stadtteilen Seattles. »Es war immer noch ziemlich früh, aber als wir dort ankamen, war richtig was los.«
Wenn sie mit »richtig was los« meint, dass es nach gekochtem Meth, fettigen Haaren und tagealten Orgien stank, dann kann ich mir ziemlich gut vorstellen, wo sie hineingeraten war. Als Annabelle fünfzehn war, musste ich sie einmal von einer dieser Partys wegholen. Der Gedanke, dass sie sich an einem solchen Ort aufgehalten und ihre Zukunft das Klo runtergespült hat, versetzt meinen Magen in Aufruhr.
»Als wir reinkamen, reichte mir jemand einen Woolie und ein Bier. Wir haben rumgehangen und ein paar Typen beim Gitarrenspielen zugehört.« Sie hält kurz inne, bevor sie leise hinzufügt: »Sie waren gut. Einer war süß.«
Mir geht die Geduld aus. Und zwar schnell. »Können wir vielleicht zu der Stelle kommen, an die du dich nicht erinnerst? Denn du klingst, als wüsstest du noch ganz schön viel.«
Sie wirft mir einen wütenden Blick zu, bevor sich ihre Mundwinkel einen Tick heben, doch sie gehen so schnell wieder nach unten, dass es Einbildung gewesen sein kann. Mit ihrer freien Hand fängt sie an, systematisch an ihrer Jeans zu zupfen, und da weiß ich, dass es jetzt richtig schlimm wird.
»Ich musste mal aufs Klo, deshalb musste ich mich durch den Flur schlängeln. Da hab ich ihn gehört. Eddie.« Sie verstummt.
Scheiß Eddie Lettie. Ihr Drogendealer, ihr vermeintlicher Freund, der Fluch ihres Lebens.
»Ich wusste, ich sollte nicht hinschauen. Ich wusste, ich sollte einfach weitergehen und vergessen, dass ich etwas gehört hatte. Aber ich konnte es nicht. Es war nicht das erste Mal, dass er mich mit irgendeiner mit Koks zugedröhnten Schlampe betrogen hat.« Sie hält inne und leckt sich die Lippen. Ihre Stimme ist völlig emotionslos, als sie sagt: »Er hatte eine Mini-Orgie am Laufen – hatte einen Dildo im Arsch, während er irgendeine Hure fickte.«
»Herrgott, Annabelle.«
Sie ist meine kleine Schwester. Ich habe sie gewickelt, ihr das Fläschchen gegeben. Ihre Schürfwunden verbunden und ihr die Nase geputzt, wenn sie krank war. Ich habe mir von ihr die Nägel knallrosa lackieren lassen und sie zu mir ins Bett kriechen lassen, wenn sie schlecht geträumt hatte. Ich bin mir verdammt sicher, dass ich die Worte »Orgie«, »gefickt« oder »Dildo« nicht aus ihrem süßen Mund hören will. Und ich will auch ganz sicher nichts über Eddies Sexualleben wissen.
»Was denn?«, fragt sie und sieht mich endlich mit feuchten Augen an. »Du wolltest doch hören, was in jener Nacht passiert ist. Das ist passiert.«
»Er ist es nicht wert, Bluebelle.« Ich wische ihr eine Träne von der Wange.
»Ich weiß«, antwortet sie und fährt mit den Fingern über dieselbe Stelle. »Jetzt weiß ich das, doch in jener Nacht hatte ich wieder einen Streit mit Mom und Dad. Ich fühlte mich so allein und brauchte das Gefühl, von jemandem gebraucht zu werden. Egal von wem.« Sie blinzelt mehrmals und senkt die Stimme ein wenig. »Gott, er war so ein arroganter Scheißkerl. Ich hätte einfach weggehen sollen, aber das tat ich nicht.«
Ihr Blick geht an mir vorbei. Ich warte ab, während sie in ihren Erinnerungen kramt.
»Ich stand da wie ein unschuldiges kleines Mädchen, das nicht weiß, was es mitansieht. Er bemerkte mich. Er war zugedröhnt, das konnte ich sehen. Er lachte und stieß in die Frau, die er fickte, bis sie aufschrie. Dann würgte er sie, bis ihre Augen in ihren Hinterkopf rollten. Er sagte mir, ich sei als Nächste dran. Dass es an der Zeit sei, dass er mich gut zuritt, weil er es hart und schmerzhaft mochte. Er sagte, ich solle mir eine Line ziehen, dann wäre ich schön gefügig, wenn er und sein Kumpel sich damit abwechselten, mich in den Arsch zu ficken und mich zum Bluten zu bringen. Er sagte mir, er wolle mich dazu bringen, dass ich weinen und um mein Leben betteln würde, während er mich so lange würgte, bis ich käme.«
Je mehr sie sagt, desto getrübter wird mein Blick. Es wird dunkel. So verdammt dunkel, dass ich glaube, vor Wut zu erblinden. Ich will schlucken und kann nicht. Meine Kehle ist vor Rachegelüsten zugeschwollen. Hat er es getan? Hat er es durchgezogen? Hat er meiner kleinen Schwester nach seinen kranken und verdorbenen Drohungen Gewalt angetan? War sie in jener Nacht deshalb so von der Rolle?
Wenn es so war, wenn ich nur einen Hinweis finde, dass er ihr auch nur ein Haar gekrümmt hat, ist Eddie Lettie tot. Scheiß drauf. Er ist sowieso tot, weil er bloß daran gedacht hat.
»Was noch?« Gott, das herauszupressen tat weh. Bitte sag um Himmels willen nicht, dass er etwas getan hat, sonst frage ich jede einzelne Person in meinem Bekanntenkreis, bis ich jemanden finde, der die richtigen Leute kennt, die ihn im Schlaf ausweiden und seine Leiche für immer verschwinden lassen. Noah kennt bestimmt jemanden.
Sie beißt sich die Lippe auf, bevor sie mich unbehaglich ansieht. Mein Bauch fühlt sich an, als würde er ausbluten. »Dann sagte er zu mir, er wüsste, dass es mir gefallen würde, weil er gehört hätte, dass Abartigkeit bei uns in der Familie läge.«
Das war’s. Der Wichser stirbt. Langsam und schmerzhaft. Er wird gefoltert, bis er wie ein kleiner Feigling nach seiner Mama schreit.
Bis vor Kurzem habe ich nicht viel darüber nachgedacht, doch meine Neigung, mir mit meinem besten Freund Noah Frauen zu teilen, ist viel bekannter, als ich mir hätte träumen lassen. Sie hat meiner Familie geschadet, ihren Ruf beschmutzt, war selbst bis zu meiner kleinen Schwester vorgedrungen, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich für Football-Matches hätte begeistern und sich um ihre Zwischenprüfungen sorgen sollen.
»Es tut mir so –«
»Nein. Nicht.« Sie winkt ab. »Er hat nicht nur dich gemeint.« Lincoln. Sie meint unseren Bruder, den wir beide verehren. »Ich bin geblieben. Ich weiß, ich hätte weggehen sollen, aber ich bin geblieben und habe ein paar Lines geschnupft, bis die Euphorie einsetzte. Aber ich fühlte mich komisch … komischer als sonst. Als wäre ich von meinem Körper abgekoppelt. Und ich hatte Angst, weil …«
Himmel, ich will das nicht hören. Ich will nicht danach fragen. Ich will es nicht wissen. Aber ich muss bis zum Danach kommen. Ich muss verstehen, wie sie auf der Schultz Bridge gelandet ist .
»Weil was, Bluebelle?«, hake ich diesmal sanfter nach, um über den rotglühenden Taumel des Hasses und der Wut hinwegzutäuschen, der sich einen Weg durch meine Adern brennt.
Als sie mir in die Augen sieht, bringt mich der Ausdruck darin um. Sie versucht es zu verbergen. Sie versucht immer, es zu verbergen, doch anders als bei Willows undurchdringlichem Schleier sehe ich durch den meiner Schwester direkt hindurch. Ihre Seele ist komplex. Voll Selbstekel und Schatten von Dämonen, die ich nicht verstehe. Wie sehr ich mir wünsche, dass sie immer noch klein wäre und ich sie beschützen könnte! Dann könnte sie auf meinen Schoß klettern und mir den Mund mit dem rubinroten Lippenstift meiner Mutter anmalen, statt mein Herz mit diesem verdrehten Unzulänglichkeitsgefühl zu martern, an das sie sich klammert.
»Weil ich dachte: Vielleicht bin ich wie sie. Vielleicht bin ich verdorben und abgefuckt, und das ist es, was mit mir nicht stimmt. Weil ich wirklich daran dachte, ihn all das, was er angekündigt hatte, mit mir machen zu lassen.«
»Herrgott«, murmele ich und kann ihr nicht mehr in die Augen sehen. Sie wartet darauf, dass ich sie verurteile. Das tue ich auch, aber sie soll es nicht sehen. Aber die Frage, die mir auf den Nägeln brennt, kann ich ihr nicht stellen, weil ich ihre Antwort nicht ertragen könnte.
»Du verstehst das nicht, Shaw. Ich war in einem ganz üblen Zustand«, fährt sie in diesem irritierend ausdruckslosen Ton fort. »Ich wollte einfach nur geliebt werden, und sei es von irgendeinem Arschloch, das nur so tat, als sei ich ihm wichtig.«
»Annabelle …« Mein Herz windet sich vor Qual. »Du wurdest geliebt. Du wirst geliebt.« Ich nehme ihr Gesicht in die Hände und wische die Tränen weg, die ihre Wangen befeuchten. Am liebsten würde ich sie schütteln, bis sie Vernunft annimmt .
»Du brauchst kein wertloses Stück Scheiße wie Eddie Lettie, um dein Selbstwertgefühl zu steigern. Typen wie er höhlen es nur aus, bis nichts mehr davon übrig ist.«
»Ich weiß.«
Tut sie das wirklich? Sie sagt immer das Richtige zum richtigen Zeitpunkt, doch meist bezweifele ich, dass sie auch nur ein Wort davon glaubt. Sie ist immer noch so durcheinander und gepeinigt von dem, was auch immer sie auf diesen zerstörerischen Weg gebracht hat.
»Kurze Zeit später kam Eddie aus dem Schlafzimmer. Er hatte seine Jeans an, doch der Reißverschluss stand offen, und er …«
»Er hat was?« Ich kriege kaum noch Luft. Als sie zusammenzuckt, lockere ich meine Finger um ihr Kinn. Am liebsten würde ich mit der Faust gegen etwas schlagen, bis die Haut an meinen Fingerknöcheln platzt.
»Er hat mich mit einem Blick bedacht, der besagte, dass ich den Mund halten soll, und mich von der Couch hochgezogen. Das Kranke daran ist … ich bin bereitwillig mitgegangen.«
In dem Moment muss ich sie loslassen. Ich muss das Lenkrad packen und es fest umklammern und wahnsinnig dagegen ankämpfen, nicht mein Handy zu nehmen, Bull anzurufen und von ihm zu verlangen, dass er diesen Abschaum zur Fahndung ausschreibt und ihn festhält, bis ich persönlich dafür sorge, dass er und seine verrottete Seele ihr Leben aushauchen.
»Noch bevor wir ins Schlafzimmer gelangten, hat er mich an die Wand gedrückt. Er hat mir die Bluse zerrissen, während er mir all die abscheulichen Dinge sagte, die er mit mir anstellen wollte. Doch die ganze Szene blendete ein und aus, als hätte ich mein Schicksal akzeptiert und mich aus meinem Körper verabschiedet. Ich wusste, dass ich das, was er mir erzählte, eigentlich nicht wollte. Ich wusste, dass ich mich wehren sollte, konnte mich aber nicht dazu aufraffen. Kann sein, dass er mich geschlagen hat. Kann sein, dass ich geschrien habe. Ich weiß es nicht. Es ist alles ziemlich verschwommen.«
Himmel Herrgott.
»Ich habe Erinnerungsfetzen an einen Kampf, an Geschrei und zerbrechendes Glas. Das Letzte, woran ich mich erinnere, ist, wie ich die Treppe draußen hinuntergestolpert bin, und danach ist alles schwarz, bis ich am nächsten Tag in der Entzugsklinik aufgewacht bin. Wenn ich auf dieser Brücke war, erinnere ich mich ehrlich nicht daran. Ich erinnere mich nicht einmal daran, dass du mich vom Polizeirevier abgeholt hast, Shaw.«
Sie verstummt. Ich weiß nicht genau, wie lange wir in völligem Schweigen dasitzen. Sie wartet darauf, dass ich etwas sage, irgendetwas vermutlich, aber mir fällt nichts ein. Mein Herz ist schwer. Es blutet für sie, aufgrund dessen, was ihr angetan wurde, aufgrund all dessen, was sie in ihrem kurzen Leben schon durchgemacht hat. Doch vor allem ist es schwer, weil dieses Gespräch mir überhaupt nicht weitergeholfen hat. Ich weiß nicht viel mehr als vorher, außer dass ich noch eine weitere Aufgabe auf meine immer länger werdende Liste setzen muss.
»Es tut mir leid, dass ich nicht mehr weiß.«
»Das braucht es nicht. Ist schon gut«, lüge ich.
Sie schluckt heftig. Ich höre es über den halben Meter Abstand hinweg, der uns trennt. »Warum glaubst du, ich hätte jemanden umgebracht?«
Da sehe ich sie an. Ihre Augen glänzen. Ihr Gesicht ist fahl. Ihre Lippen zittern. Sie pult wieder an dem verdammten Cut, weil sie Angst davor hat, was ich gleich sagen werde.
»Ich glaube nicht, dass es so war, Bluebelle.«
»Warum hast du es dann gesagt?« Ihre Stimme ist zittrig und schrill, und ich fühle mich, als sei ich nur einen halben Schritt davon entfernt, sie wieder an diese verkommene Welt zu verlieren. Ich will sie nicht anlügen, aber ich weiß auch nicht, wie ehrlich ich zu ihr sein soll. Ich habe keine Ahnung, wie nahe sie an diesem Felsvorsprung steht oder was sie dazu bringen wird, hinunterzufallen.
»Das ist nur ein Missverständnis.«
Sie setzt sich aufrecht hin. »Ich glaube dir nicht. Irgendwas hat dich auf die Idee gebracht. Irgendwer hat diese Nacht angesprochen, ganz speziell die Schultz Bridge, sonst wärst du nicht hier, um mich auszufragen.«
»Es ist nichts«, beteuere ich noch einmal und hoffe, dass sie sich damit zufriedengibt, bis ich aus dieser Sache schlau geworden bin. Ich bin schon am Überlegen, wie ich weiter vorgehen soll.
»Ich will, dass du mir die Wahrheit sagst, Shaw.«
Mein Seufzer ist lang und gedehnt. Sie kommt momentan nicht mit der Wahrheit klar. Vielleicht niemals. »Annabe –«
»Ich bin stärker, als du glaubst, Shaw. Alle tun immer so, als sei ich ein Baby und dumm, und ich habe es satt. ›Pass auf, was du zu Annabelle sagst‹, ›Annabelle wird es nicht verstehen‹, ›Annabelle ist zu jung‹«, spottet sie. »Ich bin jetzt eine erwachsene Frau. Fangt endlich an, mich wie eine zu behandeln. Was immer du mir erzählst, wird keinen Rückfall bei mir auslösen. Ich schwör’s.«
»Wirklich nicht?«, fordere ich sie heraus und drehe mich zu ihr. Erst vor wenigen Minuten ist sie vor mir zusammengebrochen. Und jetzt will sie auf einmal bärenstark sein? In etwa fünf Sekunden werde ich mir wünschen, ich hätte mich nicht von ihrer Launenhaftigkeit reizen lassen. »Und was, wenn du wirklich für jemandes Tod in jener Nacht verantwortlich bist und du dich nur nicht erinnerst? Was, wenn dieser Mensch zufällig der Vater der Frau ist, in die ich verliebt bin? Was, wenn jemand anders davon weiß und es gegen mich verwendet? Gegen unsere Familie, um zu bekommen, was er will?«
Als sie mich erschrocken ansieht, greife ich nach ihrer Hand, weil ich hoffe, dass meine Berührung meinem Ausbruch etwas von ihrer Schärfe nimmt, doch sie zieht sie zurück.
»Ist das alles wahr?«, krächzt sie.
Jedes verdammte Wort , würde ich am liebsten sagen. Auch die Aussage, dass ich verliebt bin. Himmel … Ich. Bin. Verliebt. Vor drei Monaten hätte ich darüber gelacht. Ein Teil von mir wünscht sich diese Zeit zurück, denn wenn Verliebtheit solche Gefühle in einem auslöst – heillose Panik auf Schritt und Tritt –, steht mir eine Welt voller Schmerz bevor.
»Genau das versuche ich rauszufinden, Bluebelle.«
Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und erstickt ein Schluchzen. Sie sieht aus wie die junge naive Einundzwanzigjährige, die sie ist, und nicht wie die unbekümmerte großmäulige, die sie sein will.
Diesmal lasse ich sie nicht zurückzucken. Ich lege die Hand in ihren Nacken und ziehe sie zu mir, um tröstend den Arm um sie zu legen.
»Ich bringe es wieder in Ordnung. Was es auch ist, vertrau mir«, erkläre ich. Ich habe keine Ahnung wie. Ich weiß nur, dass ich es tun muss.
Ihr schmächtiger Körper zittert an meinem. Ich komme mir vor wie ein Schuft, weil ich ihr das zumute, aber ehrlich gesagt, besser ich als die Bullen. Ich würde es diesem schwanzlutschenden Wahlkampf-Trottel zutrauen, dass er uns in rechtliche Schwierigkeiten bringt, sobald es seinem Zweck dient. Und ich höre die Uhr ticken. Der Countdown läuft, seit ich vorhin sein Büro verlassen habe.
Das waren keine leeren Drohungen, die er ausgestoßen hat. So schlau bin ich schon. Alles passt perfekt zusammen. Ein bisschen zu perfekt. Er muss doch wissen, dass ich Beziehungen habe. Er muss doch wissen, dass ich auch den letzten Stein umdrehen werde. Er muss glauben, dass ich etwas finden und Willow verlassen werde, sodass er die Scherben ihres gebrochenen Herzens zusammensetzen kann. Was er nicht weiß, ist, wie tief mein Reservoir aus Mut und Entschlossenheit ist, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe.
Doch er wird es bald herausfinden. Ich will Willow, und ich lasse sie mir nicht von ihm, und auch von keinem anderen, wegnehmen. Auf dem Weg hierher habe ich beschlossen, dass an dem Spruch »Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher« etwas dran ist.
Ich werde das meinem Vater gegenüber mit keinem Wort erwähnen, worauf Mergen wahrscheinlich baut. Die Nachricht würde meinem Vater das Herz brechen. Es würde seine Chance auf eine Wiederwahl ruinieren. Das weiß Mergen. Das Arschloch glaubt, er kommt mit all dem ungeschoren davon.
Aber das wird er nicht.
Er wird meine Familie nicht bedrohen.
Er wird mir nicht meine Frau ausspannen.
Er wird mir nichts von dem wegnehmen, was mir gehört und unter meinem Schutz steht.