3. KAPITEL
Willow
Ich bin glücklich.
Im Regen tänzelnd, an Einhörner glaubend, Träumen nachjagend, Schokolade-macht-den-Po-nicht-fett-megaglücklich.
Ich strahle, während ich mich an jedes Detail der letzten drei wunderbaren Tage erinnere, an denen mich Shaw vollkommen in Beschlag genommen hat. Unser gemeinsames Wochenende war einfach magisch. Ich wollte nicht, dass es endet.
Was ich mit Reid hatte, fühlte sich warm und behaglich an, wie ein Glimmen. Da war zwar Hitze, aber richtig Feuer haben wir nie gefangen. Wir hätten zusammen alt werden können. Ich hätte glücklich sein können, wenn ich es zugelassen hätte. Zufrieden, aber nicht erfüllt. Ich habe ihn geliebt, aber es gab immer eine letzte Barriere zwischen uns. Ich wusste, dass etwas fehlte, konnte es aber nie richtig benennen. Rückblickend glaube ich, dass ich ihn aus diesem Grund verlassen habe. Den Tod meines Vaters habe ich nur vorgeschoben, doch der wahre Grund lag viel tiefer.
Doch das verstand ich erst, als ich Shaw kennenlernte. Meine Beziehung zu ihm ist unvergleichlich. Einmalig. Sie gibt mir – er gibt mir  – die Ruhe und den Frieden, von deren Existenz ich nichts wusste. Er passt zu mir. Er sieht mich. Er bringt mein Blut in Wallung und mein Herz zum Singen. Er bringt meine Seele dazu, sich nach etwas zu sehnen, das mir seit wahnsinnig langer Zeit nicht mehr eigen ist, wenn es das überhaupt jemals war.
Ganz unverhohlen und schrecklich verletzlich zu sein.
Diese Gewohnheit, unnahbar zu sein, die ich vervollkommnet habe, ist schwer abzulegen, doch unter all den Männern, die ich je getroffen habe, ist es Shaw Mercer, der in mir den Wunsch weckt, es zu versuchen. Er löst in mir den Wunsch aus, meine alte Haut abzuwerfen und die neue rosarot und nackt zu lassen, bereit, wieder vernarbt zu werden.
Bei dem Gedanken bekomme ich Herzklopfen, doch ich ignoriere die zynische Stimme, die mir zuflüstert, dass Glück etwas Vergängliches ist und dass hinter jeder Ecke eine Tragödie lauert. Heute schwebe ich auf Wolken, und ich werde mir erlauben, dieses unglaubliche Gefühl reinen und vollkommenen Glücks zu genießen, und hoffen, dass es – ausnahmsweise einmal in meinem Leben – nicht nur eine flüchtige Ahnung am Horizont ist, sondern etwas Reales, wonach ich nur die Hand auszustrecken und es mir zu nehmen brauche.
Denn wenn Shaw zu einem Versuch bereit ist, dann – tief durchatmen  – bin ich es auch.
Zum fünfzigsten Mal lese ich die Nachricht, die er mir heute Morgen geschrieben hat, und grinse wie eine verliebte Närrin.
Heute Morgen ohne dich in meinen Armen aufzuwachen, hat mir nicht gefallen.
Gott, was diese Worte mit meinem Herz anstellen, ist Wahnsinn.
»Du strahlst so. Bist du schwanger?«
Ich hebe widerwillig den Blick von meinem Handy, um Sierra anzusehen. Es ist kurz vor zwölf. Sie ist früher auf als sonst, und ich merke sofort, dass sie mies drauf ist, doch die Wolken, auf denen ich schwebe, fühlen sich sanft und weich an. Weder Dynamit noch Sierras spitze Bemerkungen werden mir die Laune verhageln. Deshalb beschließe ich, mitzuspielen. Sierra weiß sowieso, dass ich mit Shaw schlafe.
»Und wenn ich es wäre?«
Ich bin es nicht, aber verdammt … Der Gedanke, dass es nicht völlig ausgeschlossen ist, dass ich ein Leben in mir trage, das Shaw und ich geschaffen haben, gefällt mir so gut, dass ich mich am Riemen reißen muss.
»Dann wirst du deine Sachen packen und ausziehen müssen. Mit einem schreienden Baby würde ich in dieser winzigen Bude kein Auge zumachen.«
»Dummes Geschwätz. Du würdest mich nicht rauswerfen.«
»Und ob ich das würde«, sagt sie todernst. Ich sehe zu, wie sie den Schrank aufzieht und ihren überdimensional großen Lieblingsbecher herausholt, dessen Griff aus einem goldenen Schlagring besteht. Sie hat ihn einmal als Gag von einem Exfreund geschenkt bekommen, doch der Witz ging nach hinten los, als sie ihn ein paar Tage später als Waffe benutzte, nachdem sie den Typen auf seiner Couch beim Knutschen mit seiner Exfreundin ertappt hatte. Bei Sierra macht man sich lieber nicht unbeliebt, das kann ins Auge gehen. Doch unter ihrer rauen Schale schlägt ein Herz aus 24-karätigem Gold.
»Und wenn mein Baby und ich sonst nirgends hinkönnen?«
»Du hast einen reichen Kindesvater. Ihr wäret sein Problem.«
»Und wenn er uns nicht will?«
»Dann verklag ihn auf sein gesamtes Vermögen«, kontert sie und meint es todernst.
»Und wenn ich dich zur Patentante machen würde?«
Sie hält beim Eingießen des dickflüssigen schwarzen Teers, den sie Kaffee nennt, inne und sieht mich entgeistert an. »Das würdest du tun?«
Angesichts ihres ungläubigen Tons lege ich den Kopf schief. »Na klar. Warum denn nicht?«
Ihre dünnen, von gestern noch aufgemalten Augenbrauen heben sich. »Sieh mich doch an. Ich bin nicht gerade ein Vorbild, Löwenbräu.«
Da hat sie recht. Sie müsste ein paar Piercings loswerden, damit sie nicht von winzigen suchenden Händchen herausgerissen würden. Sie bräuchte einen neuen Job, weil man ein Baby nicht fünfmal in der Woche die ganze Nacht allein lassen kann. Und sie müsste verdammt schnell einen politisch korrekten Filter finden, damit die ersten Worte des Babys nicht »scheiße«, »Titten« oder »Nutte« wären.
Ich zucke mit den Schultern und antworte ehrlich. »Wenn mein Baby niemanden hätte, gäbe es außer dir niemanden, dem ich es anvertrauen würde.«
Ihr schießen Tränen in die Augen.
»Hey, was ist los?«, frage ich und greife über die Arbeitsplatte der Kücheninsel nach ihrer Hand.
»Nichts«, schnieft sie und zieht die Hand weg, bevor sie sich abwendet. »Wie zum Teufel kommst du auf die Idee, dass etwas nicht stimmt?«
Ich beiße mir auf die Zunge. Diese Sierra kenne ich. Irgendein Typ quält sie.
»Ich bin nicht schwanger«, gestehe ich leise und komme mir dumm vor, weil mein Herz bei der Vorstellung einen kleinen Hüpfer gemacht hat.
Sie zieht die Mundwinkel herunter. Ich sehe es von der Seite. Sie atmet tief ein, und ich warte ab. Es dauert nicht lange. Als sie mich jetzt wieder mit trockenen Augen ansieht, sind sie voller Sorge. »Was machst du nur, Willow? «
»Was meinst du?« Ich wappne mich seelisch. Sierra spricht mich nicht sehr oft mit meinem vollen Namen an … nur wenn sie ihren Standpunkt klarmachen will.
Sie stellt die Kaffeekanne ab, schiebt ihren Becher weg und sieht mich wieder an. »Du weißt genau, was ich meine. Ich dachte, diese Sache sei zeitlich begrenzt. Du hast steif und fest behauptet, dass du deine Kunden nicht vögelst. Klar, nachdem ich ihn gesehen habe, verstehe ich, was ihn attraktiv macht. Aber jetzt hast du nicht nur Sex mit ihm, sondern verbringst auch noch das Wochenende mit ihm und sprichst von einem fiktiven Baby, das du mir aufhalsen willst.«
Ich weiß nicht genau, worüber ich erboster bin. Ich entscheide mich für die Bemerkung über das fiktive Baby, da mir das am unkompliziertesten erscheint.
»Du warst es doch, die das fiktive Baby aufs Tapet gebracht hat. Ich habe nur mitgespielt.« Ich bemühe mich, sie nicht anzuschnauzen. Es gelingt mir nicht.
Sie lächelt schief. »Ja, okay, klar. Aber willst du ernsthaft dasitzen und mir weismachen, dass du bei dem Gedanken, sein Kind zu kriegen, nicht feucht geworden bist?«
»Herrgott, Sierra.«
»Willst du das?«
Nein . »Worum geht es hier wirklich? Denn es geht nicht um mein imaginäres Baby.« Oder um das plötzliche Zucken in meinem Uterus.
Sie stützt sich mit den Händen auf die Resopal-Arbeitsplatte, beugt sich zu mir vor und reißt ihre ohnehin schon großen whiskeyfarbenen Augen auf. »Es geht um einen Playboy, der nicht lange fackeln wird, dich nach Ablauf der vier Monate, wenn er genug hat, auszumustern. Es geht wieder einmal um einen Menschen, der dich weit hinter seine eigenen Bedürfnisse stellt, statt dich zu seiner Priorität zu machen. Du verdienst es, an erster Stelle zu stehen, und für ihn stehst du nicht an erster Stelle. Das Ganze ist eine Lüge, verdammt noch mal!«
Es verschlägt mir die Sprache, während die Wut in mir gärt. Wir starren uns eine gefühlte Ewigkeit an.
Sie irrt sich. Es hat so angefangen, das stimmt, aber sie weiß nicht, wie Shaw sich in mein Herz geschlichen hat, als wäre er immer darin gewesen. Sie spürt nicht die Zärtlichkeit, mit der er mich streichelt oder winzige Küsse auf meinem Hals verteilt. Sie hört nicht die Verehrung und Aufrichtigkeit in seiner Stimme, wenn er meinen Namen sagt. Er beschützt mich vor den Medien. Er hat sich für mich zahllose Stunden von seiner Firma freigenommen. Er hat sich um meine Sicherheit in einem alles andere als sicheren Auto gesorgt.
Er hat mich an erste Stelle gestellt. Bisher im Grunde ständig. Und so sehr ich meine Familie liebe und Reid einmal geliebt habe, das haben sie nicht getan. Shaw hingegen schon.
Sie irrt sich.
Oder?
Wo sind die gottverdammten Wolken, auf denen ich noch vor einer Minute geschwebt bin? Der Teufel soll sie holen.
»Du warst es doch, die mir geraten hat, mit ihm zu schlafen!«, schreie ich und werfe dramatisch die Hände in die Luft. »›Brich die Regeln‹, hast du gesagt. ›Verbrenn dir die Zunge‹«, ahme ich spöttisch ihre tiefe Stimme nach.
»Ja. Ich hab dir gesagt, du sollst den heißen Kaffee vögeln «, entgegnet sie, »und dich nicht in seinen exotischen Geschmack verlieben. Sonst nichts!«
Ich durchbohre sie mit Blicken und ignoriere das Wort »verlieben«. »Ich glaube, beschönigender Bullshit liegt mir mehr.«
Sie grinst. »Ich bin nicht Dr. Seuss.«
Das ist lustig, doch ich kann nicht mal lachen, denn was, wenn sie recht hat? Plötzlich an den goldenen Flecken auf der strapazierten Arbeitsplatte interessiert, senke ich den Blick. Ich denke an das Wochenende zurück. Vor allem an Freitagmorgen und an Shaws aufrichtige Worte: Nun, die Wahrheit ist … Du faszinierst mich, wie es noch nie jemand getan hat, Willow, und was ich für dich empfinde, ist … neu für mich .
War ich zu sehr in dem Moment und in jedem Augenblick danach gefangen? War ich so naiv zu glauben, dass Menschen sich ändern können – dass ich für ihn der Grund sein könnte, sich zu ändern? Glaube ich ernsthaft, dass ein Mann, der grundsätzlich keine Beziehungen führt, urplötzlich treu und monogam sein will? Reicht Faszination dafür aus? Ist »neu« denn so schlecht?
Mist.
Ich habe keinen Schimmer.
Aber er war wegen mir im Klub.
Er hat sich für mich einen Tag freigenommen.
Er hat mich das ganze Wochenende über auf Händen getragen.
Er wollte meine Mutter kennenlernen.
Warum sollte ich an ihm zweifeln?
Zum Teufel mit Sierra und ihrem Trübsinn, der mir meine Hochstimmung verdirbt. Dafür bin sonst ich selbst zuständig. Ich rede mir alles Gute aus, das mir passiert, weil ich glaube, dass ich es nicht verdiene. Ich habe Shaw einen Teil von mir anvertraut, den ansonsten nur Sierra kennt – dass ich mich für den Tod meines Vaters verantwortlich fühle –, und er will mich trotzdem noch. Glaubt immer noch, dass ich seiner würdig bin. Ich verdiene Shaw, verdammt. Ich verdiene das. Ich verdiene Liebe und Glück. Auf alle Fälle eine Chance .
Oder nicht?
»Ich dachte, du führst keine Beziehungen.«
»Ich bin mir nicht sicher, Willow, aber ich … Ich will es versuchen. Ich versuche, so ehrlich wie möglich zu dir zu sein. «
Er war offen und ehrlich. Ich vertraue Shaw. Er hat mir bisher keinen Grund gegeben, es nicht zu tun. Von dem Zeitpunkt an, als wir vor dem Haus seiner Eltern saßen und er mir sagte, dass er mir keinen Mist erzählen würde, nur um mich ins Bett zu kriegen, habe ich ihm geglaubt. Er hat mir keinen Mist versprochen. Keine gemeinsame Wohnung, keinen Diamantring, keine Hochzeit. Keine Zukunft. Er sagte nur, dass er es versuchen will. Und sollte das nicht vorerst genug sein, bis es das nicht mehr ist? Bis er sich als unzuverlässig erweist?
»Du irrst dich, was ihn betrifft, Sierra. Das zwischen uns ist jetzt mehr als eine vertragliche Verpflichtung.«
Sie zieht die Mundwinkel nach unten. »Er ist über dreißig und meidet feste Beziehungen wie die Pest. Warum ausgerechnet jetzt? Warum ausgerechnet du?«
Zack. Das saß.
Ich weiß, dass Sierra mich nur beschützen will, doch das tut ein bisschen weh. Okay, sehr. Ich ziehe eine Schulter hoch. »Du findest, dass ich es nicht wert bin?«
»Natürlich bist du es wert. Du bist es mehr als wert.« Sie seufzt. »Das habe ich damit nicht gemeint, und das weißt du auch. Hier geht es um ihn. Nicht um dich.«
Ich mustere meine Freundin. Ich liebe sie über alles, aber manchmal glaube ich, dass wir einander keinen Gefallen tun. Wir beschützen einander zu erbittert. Wir fachen das Feuer vergangener Schmerzen so heiß an, dass es das Gute, das uns mit echtem Glück bedroht, zu nichts als Asche verbrennt. Wir sind unsere schlimmsten Feinde.
Deshalb könnte ich mich von dieser Bemerkung – von der ich weiß, dass sie mit äußerster Liebe und Besorgnis vorgebracht wurde – runterziehen lassen oder aber gegen das Bedürfnis ankämpfen, genau das zu tun .
Ich entscheide mich dafür zu kämpfen. Schlimmer als sich zu verlieben und verletzt zu werden wäre es, mir diesen unglaublichen Mann durch die Lappen gehen zu lassen, nur weil ich Angst davor habe, etwas Gutes zu fühlen. Oder überhaupt etwas zu empfinden.
»Ich glaube, genau darum geht es, Sierra.«
Sie holt tief Luft und bläst sie wieder aus. Wenigstens wirkt sie zerknirscht. »Ich mache mir nur Sorgen um dich. Wir beide haben nicht gerade die beste Erfolgsbilanz, was Männer betrifft.«
»Ich weiß, aber das hier ist anders. Er ist anders.«
»Wenn du es sagst.« Sie konzentriert sich wieder auf das streng riechende schwarze Gebräu und verkündet nonchalant: »Du hattest am Samstag Besuch.«
»Von wem?« Ich kriege nie Besuch. Nicht, dass ich eine Einsiedlerin wäre, aber besonders viele Freunde habe ich auch nicht. Ganz sicher keine, die vorbeikommen, ohne vorher anzurufen.
»Reid.«
»Reid?«, hauche ich verwirrt. Ich habe ihn am Donnerstagabend kurz im Klub gesehen, als zwischen ihm und Shaw um ein Haar ein Streit ausgebrochen wäre, aber ich habe seit fast einer Woche nicht mehr mit Reid gesprochen – seitdem er hier auf meiner Couch saß, mir das Unverzeihliche verzieh und mir sagte, dass er mich immer noch liebt. Sechs Tage danach weiß ich immer noch nicht so recht, was ich von jenem Abend halten soll. Oder von seiner Liebeserklärung. Oder wie ich mich deshalb fühlen soll. Ich weiß nur, dass jetzt alles anders ist. In diesen sechs Tagen haben Shaw und ich uns von Geschäftspartnern in ein Paar verwandelt. In ein echtes. Keins, um die Öffentlichkeit zu täuschen.
»Was wollte er? «
»Keine Ahnung.«
»Na, was hat er denn gesagt?«, dränge ich, während ich mich frage, warum er nicht einfach angerufen hat, anstatt vorbeizukommen, oder warum er sich seitdem nicht mehr gemeldet hat.
»Ich bin nicht dein Antwortdienst, Löwenbräu«, sagt sie kurz angebunden, bevor sie einen großen Schluck von ihrem vermeintlichen Kaffee trinkt und mit geschlossenen Augen seufzt. Sie trinkt noch ein paar große Schlucke, bevor sie ihren Becher nachfüllt. Sie hat so schnell getrunken, dass es mich nicht wundern würde, wenn sie sich dabei die oberste Hautschicht ihrer Zunge verbrüht hätte.
»Besser?«, frage ich, die Augenbrauen bis zum Haaransatz hochgezogen. Ich hätte es besser wissen müssen, als mit Sierra ein Gespräch anzufangen, bevor sie zumindest eine Tasse Kaffee intus hat. Vor ihrer ersten Koffein-Dröhnung ist sie reizbarer als eine Bärenmutter, die ihre Jungen verteidigt.
Sie lächelt selbstironisch. »So langsam.«
»Schlimme Nacht?«
Sie zuckt die Achseln. »Derselbe Mist wie immer.«
»Was ist passiert?«
»Er sah aus wie ein junger Hund, der sich verlaufen hat.«
Häh? »Wer?«
»Reid.«
Angesichts ihres abrupten Themenwechsels ziehe ich die Mundwinkel nach unten. Vermutlich sind wir fertig damit, über sie und ihr eigenes Leben zu sprechen. Sie steckt viel lieber ihre Nase in meins.
»Er steht immer noch auf dich.«
Ich weiß. Ich seufze innerlich.
»Wie kommst du darauf?«, frage ich und versuche, unbeschwert zu klingen .
Ich habe ihr nicht viel von neulich Abend, als Reid hier gewesen ist, erzählt, und ganz sicher nicht, dass er zugegeben hat, immer noch in mich verliebt zu sein. Sie hat mich damals in meiner Entscheidung, die Hochzeit abzublasen, unterstützt. Sie hat mich in die Arme genommen, als ich mich noch Monate später abends in den Schlaf weinte. Sie hat kein Wort gesagt, als ich mich immer wieder weigerte, mit ihm zu reden oder mich mit ihm zu treffen, dabei mochte sie Reid wirklich, und auch wenn sie damals ausnahmsweise einmal den Mund gehalten und mich ohne Wenn und Aber unterstützt hat, glaube ich nicht, dass sie mit der Art, wie ich mit ihm umgegangen bin, einverstanden war.
»Ach, ich weiß nicht … es könnte an dem Ausdruck in seinem Gesicht gelegen haben, als ich ihm sagte, dass du seit dem Emfest nicht mehr hier warst, oder vielleicht auch, als ich den Namen deines Freundes erwähnte.« Das Wort »Freund« spricht sie leicht spöttisch aus. Ich beschließe, es zu ignorieren.
»Was für ein Ausdruck?«
»Sagen wir einfach, ich hatte Angst, dass er sich in Yosemite Sam verwandelt und ich in die Läufe seiner rauchenden Colts blicken würde.«
Ich lache. »Du übertreibst.«
»Nein.« Sie trinkt noch einen Schluck, während sie meine Reaktion beobachtet. Ich halte mein Gesicht neutral.
»Er ist also nur sauer geworden und wieder gegangen? Sonst nichts?«
Sie schürzt die Lippen, während sie so tut, als denke sie nach. »So in etwa.«
»Hm.«
»Hm«, äfft sie mich nach. »Verschweigst du mir irgendwas?«
»Was sollte ich dir verschweigen?«
Sie stellt ihre Tasse ab und verschränkt die Arme. »Ich weiß nicht. Sag du es mir. Ich halte es nur für einen sehr merkwürdigen Zufall, dass er ausgerechnet jetzt wieder auftaucht, wo du anfängst, mit einem fingierten Freund auszugehen« – sie setzt »ausgehen« in Anführungszeichen – »mit dem dein Ex dich auch noch unwissentlich verkuppelt hat. Und ich glaube nicht an Zufälle.«
Ich sonst auch nicht, doch in diesem Fall ist es nichts anderes: eine groteske Reihe von Zufällen. Shaw, der mir hinten reinfährt. Noah – Shaws bester Freund und Geschäftspartner –, der mich vor Paul Grabers alles andere als ehrenhaften Absichten rettet. Und obwohl er alle Dominosteine angestoßen hat, kann Reid auf keinen Fall gewusst haben, dass Shaw sich unter Millionen von Frauen in dieser Stadt ausgerechnet mich als seine Freundin aussuchen würde. Deshalb glaube ich nicht, dass etwas anderes dahintersteckt als ein reiner, merkwürdiger Zufall.
»Das zeigt nur, wie klein die Welt ist«, sage ich.
»Was will er?«
»Woher soll ich das wissen?«, heuchele ich.
Sie schüttelt grinsend den Kopf. »Du spielst die Ahnungslose, Löwenbräu.«
Ich zucke die Achseln und gebe vor, nicht zu wissen, wovon sie spricht. »Ich glaube, er will nur mit der Sache abschließen, Ser. Ich meine, wir haben uns nicht gerade unter den günstigsten Umständen getrennt.«
Doch noch während ich das sage, weiß ich, dass es nicht stimmt. Mir geht sein Wortschwall an der Tür durch den Kopf: Ich werde dich anrufen, und scheiß auf ihn. Er braucht es ja nicht zu wissen. Und selbst wenn er dahinterkommt, schert mich das einen Dreck. Ich gehe das Risiko einer Konfrontation gern ein.
Er hat zwar gesagt, wir seien Vergangenheit, doch nachdem er Shaw schlechtgemacht, mich fast geküsst und mir eine Vergebung zuteilwerden lassen hat, derer ich niemals würdig sein werde, bin ich mir nicht ganz sicher, ob er das wirklich glaubt. Ach, Reid. Das Letzte, was ich will, ist, ihm wieder wehzutun, weil wir nicht sein können, was wir einmal waren. Es hat damals schon nicht funktioniert und wird es jetzt erst recht nicht.
»Nein. Jemand, der nur mit etwas abschließen will, wird nicht irre eifersüchtig, wenn ein anderer Typ erwähnt wird.« Sie zeigt mit ihrem Becher auf mich und verschüttet fast den Inhalt, als sie verkündet: »Er will dich zurück.«
Mir bleibt eine Antwort erspart, weil mein Handy klingelt. Ich greife mir das brummende Teil von der Küchentheke und hoffe, dass es der Mann ist, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit ich ihn letzte Nacht verlassen habe, doch meine Hoffnung zerschlägt sich, als ich aufs Display schaue.
Reid.
Ich werfe einen Blick zu Sierra, die süffisant grinst. Mit dem Becher in der Hand verlässt sie mit großen Schritten den Raum, um mir Privatsphäre zu geben, und murmelt im Vorbeigehen: »Abschließen, na klar.«