8. KAPITEL
Willow
»Kann ich wirklich nichts helfen?«, frage ich jetzt schon zum zigsten Mal.
Wir sind vor weniger als zwanzig Minuten bei den Mercers eingetrudelt, aber lange vor dem Rest der Familie. Shaw sagte, er hätte mit seinem Vater ein paar geschäftliche Dinge zu besprechen und wollte ungestört sein, bevor der Abend zu chaotisch würde. »Vielleicht kann ich den Tisch decken«, füge ich hinzu, weil ich unbedingt etwas tun will.
»Nein, meine Liebe. Es ist alles fertig. Setzen Sie sich nur hin und entspannen Sie sich. Genießen Sie Ihren Wein«, antwortet Adelle Mercer. Sie greift nach einer prallen Treibhaustomate und säbelt den oberen Teil ab, bevor sie perfekte Spalten für den riesigen Salat schneidet, den sie gerade anrichtet. Er ist ein Meisterwerk und sieht so köstlich aus, dass er sich als Fotomotiv für eine Doppelseite in Martha Stewart Living eignen würde.
»Ich fürchte, darin bin ich nicht gut.« Ich spiele an meinem Glas herum, das ich am Stiel hin und her drehe, sodass der Wein in Bögen wirbelt. Sie hinterlassen lange rote Schlieren, die wieder herunterlaufen.
»Nun, das ist ein Problem. Jeder muss einmal abschalten. Man kann nicht ständig auf Trab sein.« Sie fängt meinen Blick auf. »Sie kommen mir vor wie jemand, der sich die Probleme der Welt sehr zu Herzen nimmt, sie zu seinen eigenen macht und niemals Zeit für sich selbst findet.«
Ihre Intuition macht mich erst einmal sprachlos. Gott, bin ich so leicht zu durchschauen? »Ich hatte schon immer viel Verantwortung.« Das klingt dürftig, aber ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Schließlich kann ich der Mutter meines »Freundes« nicht meine ganze traurige Geschichte erzählen. Aber vielleicht ist es an der Zeit, Shaw nicht immer gedanklich mit diesen Vorbehalts-Gänsefüßchen zu versehen. Das ist nur eine Methode von vielen, ihn auf Distanz zu halten. Oder mich manövrierunfähig zu machen. Was aufs Gleiche rauskommt.
Ich rechne damit, dass Adelle nachbohrt und mir Fragen stellt, die zu beantworten ich nicht bereit bin. Doch sie tut es nicht. Sie nickt nur, als würde sie mich verstehen, nimmt sich die nächste Tomate vor und schneidet auch diese in Stücke.
Ein lautes, tiefes Lachen aus dem Nebenraum erregt meine Aufmerksamkeit, und als ich von Adelles beeindruckendem Geschick mit dem Messer aufblicke, fällt mein Blick direkt auf Shaw. Er sitzt auf der Kante eines karierten Ohrensessels, beugt sich mit weit gespreizten Knien vor und deutet auf ein paar Papiere auf dem niedrigen Wohnzimmertisch vor ihm. Sein Vater, dessen Haltung Shaws entspricht, sitzt am Rand der Couch und hört ihm mit einem Lächeln auf den Lippen aufmerksam zu.
Von meinem Platz aus kann ich Shaw nur im Profil sehen, aber großer Gott im Himmel, sieht der Mann gut aus! Diese Nase. Diese Lippen. Die Muskeln, die sich an seinem Kiefer anspannen, wenn er konzentriert nachdenkt oder wenn ihn etwas ärgert, sind so verdammt sexy, dass ich allein vom Gedanken daran kurzatmig werde. Seine starke erotische Ausstrahlung verwirrt mich. Es ist erstaunlich, welche Wirkung er auf mich hat .
Er scheint meinen Blick auf sich zu spüren, denn er hört auf zu reden und dreht den Kopf zu mir. Unsere Blicke treffen sich. Die Zeit steht still. Obwohl die Entfernung zwischen uns bestimmt sechs Meter beträgt, kommt es mir vor, als ob er direkt vor mir stünde und so tief in mich blicken könnte, dass es für mich kein Entrinnen gibt.
Für einen Augenblick, vielleicht auch zwei, lasse ich alles fallen. Jeden Selbstschutz. Jeden Schutzwall. Alle Vorbehalte. In diesen flüchtigen Momenten lasse ich ihn ganz an mich heran. Ich gebe ihm zu verstehen, dass nichts zwischen uns stehen soll, wir echt und draufgängerisch sein sollen, egal ob am Ende einer von uns oder wir beide verletzt werden. Dass sowieso alles zu spät ist und ich jetzt schon wahnsinnig in ihn verliebt bin. Dann, im nächsten Atemzug, flehe ich ihn an, schonend mit mir umzugehen. Mich zu behalten, wenn er glaubt, dass er es mit mir versuchen kann. Mich gehen zu lassen, wenn er weiß, dass er mich vernichten wird.
Er sieht es.
Er sieht mich .
Ich glaube, das hat er von dem Tag an, als er hinter seiner verspiegelten Fliegersonnenbrille in meine wütenden Augen geblickt hat.
Und ich lese in ihm alles, was auch in mir ist. Die Angst vor einem gebrochenen Herzen. Die Angst vor dem Vertrauen, das es braucht, um sein Herz einem anderen zur Verwahrung zu geben. Vor dem Unbekannten, in das wir uns mit offenen Augen kopfüber stürzen werden.
Ich stoße die Luft aus, von der ich gar nicht wahrgenommen habe, dass ich sie angehalten hatte, und lächele ihn an. Er erwidert das Lächeln, blinzelt langsam und schaut nicht weg. In dem Moment gibt es nur uns.
Je länger er mich ansieht, umso mehr setzt sich das Gefühl in mir fest, dass es richtig ist und dass ich es nicht mehr werde ungeschehen machen können. Dieses Schloss, das, wie ich ihm gesagt habe, nur meine Zukunft knacken kann, ist soeben aufgesprungen. Ich habe es mehr gespürt als gehört, und es macht mir Angst, weil ich keine Ahnung habe, worauf zum Teufel ich mich da einlasse.
Ob es ihm klar ist oder nicht, ich habe ihm gerade das Wertvollste geschenkt, das ich einem Mann zu geben habe.
Mein rückhaltloses Vertrauen.
Das langsame, sexy Schmunzeln, das sich auf seinem Gesicht ausbreitet, ist vielversprechend. Es sagt mir: Ich weiß genau, was du getan hast. Ich weiß, wie schwer es für dich war. Ich werde dich später dafür belohnen, aber sei versichert, wir stecken gemeinsam in diesem Wahnsinn .
Das Bedürfnis, ihm noch in dieser Sekunde zu sagen, dass ich ihn liebe, wallt in mir auf, doch ich verkneife es mir. Dies ist weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort dafür.
»Ich habe ihn noch nie so gesehen«, sagt Adelle so leise, dass es mir fast entgeht.
Ich blinzele ein paarmal verlegen, weil sie mich dabei erwischt hat, wie ich ihren Sohn angestarrt habe. Ich versuche verzweifelt, mich vom Anblick des Mannes loszureißen, der mir inzwischen mehr bedeutet, als ich es jemals beabsichtigt hatte.
Es fällt mir schwer. Doch als es mir gelingt und ich eine der wenigen Frauen ansehe, die Shaw etwas bedeuten, lächelt sie das verklärte mütterliche Lächeln, das man einfach erwidern muss.
Obwohl ich weiß, was sie mir damit sagen will, frage ich »Wie denn?« und beuge mich gespannt auf meinem Hocker zu ihr. Es interessiert mich, wie viel Insiderwissen Adelle Mercer an mich weitergeben wird .
Sie hält beim Schneiden inne und schaut zu Shaw hinüber. Ich folge ihrem Blick, sehe sie jedoch schnell wieder an, als ich feststelle, dass Shaw sich wieder auf seinen Vater und ihre geschäftliche Besprechung konzentriert.
»Verzaubert. Wie er Sie ansieht …« Sie sagt es geistesabwesend, ohne den Gedankengang zu Ende zu führen. Da ich mir unsicher bin, ob ich antworten oder ihr eine weitere Suggestivfrage stellen soll, schweige ich, obwohl ich unbedingt das Ende des Satzes hören will.
Sie nimmt die geschnittenen Tomatenstücke, legt sie sorgfältig auf den grünen Blattsalat und bringt das Schneidebrett zur Spüle. Dann nimmt sie ihren Wein und setzt sich auf den Hocker neben mir. »Shaw hat mir erzählt, dass er Ihre Mutter kennengelernt hat.«
Ich nicke. Er hat gestern den ganzen Nachmittag mit uns verbracht. Meine Mutter war ungewöhnlich charmant. Irgendwann unterhielten sie sich angeregt über Football, doch sie sprach über die Ära von Steve Largent, als wäre es heute. Der legendäre Wide Receiver hat seit 1989 nicht mehr für die Seahawks gespielt. Schließlich sagte sie ihm, dass er wiederkommen und meinen Vater kennenlernen sollte. Es machte mich fertig, doch Shaw ging ganz locker damit um.
»Sie hat Alzheimer«, sage ich zu Adelle.
Sie verzieht mitfühlend die Mundwinkel. »Ja, ich weiß. Shaw hat mir ausführlich davon erzählt.«
»Wirklich?« Ich weiß nicht, warum mich das überrascht, aber das tut es.
Sie wird nachdenklich. »Ich kann ehrlich sagen, dass er mir noch nie so viel von einer Frau erzählt hat, und schon gar nicht von deren Mutter.«
»Ich …« Ich lache nervös. Ich bin sprachlos. »Hm.«
Mit funkelnden Augen sagt sie: »Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass er bisher nicht viele Frauen mit nach Hause gebracht hat.«
Ich nicke. Daran erinnere ich mich, doch ich bin noch mit der Bemerkung über meine Mutter beschäftigt.
»Das war schon während der Highschoolzeit und am College so. Er ging natürlich mit Mädchen aus und hatte diverse Freundinnen, die es über ein oder auch zwei Dates hinaus schafften, aber wie oft er eine von ihnen mit nach Hause gebracht hat, kann ich an einer Hand abzählen.« Sie nippt an ihrem Weißwein und betrachtet mich über den Rand des Glases. »Sie sind Nummer vier.«
Vier? Sie hatte in sechsunddreißig Jahren vier Frauen kennengelernt?
Ich schenke ihr ein kleines, angespanntes Lächeln. »Woran liegt das Ihrer Meinung nach?«
Wieder wirft sie einen Blick zu Shaw. Als sie wieder mich ansieht, kommen mir aufgrund ihrer aufrichtigen Freundlichkeit fast die Tränen. Ich kann mir mühelos vorstellen, wie ich genau an diesem Platz mit Adelle Mercer sitze und entspannt mit ihr plausche, während unsere Kinder – Shaws und meine – am Steg angeln oder nebenan spielen.
Ich muss mich zwingen, diese Wunschvorstellung im Keim zu ersticken, bevor ich es übertreibe. Wir haben einander noch nicht einmal unsere Liebe gestanden, und da wir noch nicht über eine gemeinsame Zukunft gesprochen haben, habe ich keine Ahnung, wie Shaw sich seine vorstellt.
Eine Heirat? Kinder? Mit mir?
Ich weiß es nicht. Aber ich will all das.
»Mein Sohn war schon immer ungewöhnlich zielstrebig. Shaw ist eigenwillig und leidenschaftlich. Er hat Weitblick und einen Geschäftssinn, den Preston niemals hatte.« Sie lacht. Es klingt hell und wohltuend. »Bereits als Fünfjähriger ist er Preston auf Schritt und Tritt gefolgt und hat kleine Button-down-Hemden mit Filzstiften in der Brusttasche getragen. Und nicht nur irgendwelche Filzstifte. Nein. Es mussten die mit feiner Spitze sein. In Schwarz. Ich musste so viele seiner Hemden wegwerfen, weil er immer vergaß, den Verschluss wieder draufzutun, sodass die Farbe auslief und Flecken machte.«
Mir wird bewusst, dass ich übers ganze Gesicht strahle, während ich von der jüngeren Version von ihm höre. Ich kann mir gut vorstellen, wie der kleine Shaw mit einem Brusttaschenschutz und einem TI-Taschenrechner in der Hand herumläuft. »Das klingt ganz nach ihm.«
»Er hat Stunden an der Seite seines Vaters verbracht, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Er hatte in Prestons Büro einen eigenen kleinen Arbeitsplatz. Einen Schreibtisch und einen Rollenstuhl mit einer Bambus-Bodenschutzmatte darunter. Er bestand sogar darauf, sein eigenes Telefon zu haben, und da wir fanden, es könnte keinen großen Schaden anrichten, haben wir schließlich nachgegeben. Doch als er dann ein Ferngespräch mit einem von Prestons Geschäftskontakten in Thailand führte, haben wir es ihm weggenommen. Damals war er etwa sieben oder acht. Wenn ich mich recht erinnere, war es eine kleine Firma, die Preston gerne kaufen wollte, und Shaw sagte dem Mann, er sei dumm, wenn er das Angebot ausschlüge. Drei Wochen später hat Preston das Geschäft abgeschlossen.«
Mit jedem Wort, das sie sagt, lache ich lauter, was Shaws und Prestons Aufmerksamkeit erregt. Shaw zieht fragend die linke Augenbraue hoch, doch ich grinse nur breit und winke ab. Ich will mehr hören.
»Er ist etwas Besonderes. Das war er schon immer.« In ihrer Stimme liegt nichts als bedingungslose Liebe und Stolz auf ihren Jungen, der jetzt ein erwachsener Mann ist. Die enge Beziehung mitzuerleben, die Shaw zu seiner Familie hat, zu seiner Mutter, wärmt mir das Herz. Es ist bezaubernd. Es macht ihn unwiderstehlich.
»Shaw ist ein toller Mann, Willow. Er hat die Liebe und die Loyalität seiner Familie und den Respekt seiner Angestellten und Kollegen. Er hat Erfolg und Reichtum und jeden materiellen Besitz, den er sich nur wünschen kann. Doch was ihm fehlt, ist die Liebe, die einem nur ein Seelenverwandter schenken kann. Natürlich glaubt er, dass er das nicht braucht, doch die Bedeutung von Immateriellem ist oft nur schwer zu erfassen. Keiner von uns versteht wirklich, was ihm entgeht, bis er es findet, nicht wahr?«
Mein Lächeln gerät ins Wanken, und ich schlucke schwer. Will sie damit sagen, dass ich diese Frau bin? Dass Shaw nicht wusste, was ihm entgeht, bis er mich fand?
»Er brauchte nur die richtige Frau zu treffen, die ihm zeigt, dass das Einzige, was er nicht verstehen konnte, plötzlich das Einzige ist, ohne das er nicht mehr leben kann.«
Was soll ich dazu sagen? Irgendwas? Nichts? Ich weiß es nicht. Schmetterlingsschwärme explodieren in meinem Bauch.
Sie beugt sich nahe zu mir und flüstert mir verschwörerisch ins Ohr: »Und Sie, meine Liebe, haben ihm die Augen geöffnet. Er ist restlos von Ihnen eingenommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich diesen Tag noch erleben würde. Hut ab!«
Sie hält ihr Glas hoch, und ich hebe instinktiv meins, um mit zitternder Hand mit ihr anzustoßen. Ich habe das Gefühl, dass Shaw sich in den zwei Monaten, die wir jetzt zusammen sind, sehr verändert hat, doch es von jemandem zu hören, der ihn in und auswendig kennt …
»Ich habe Angst, dass er mir wehtun wird«, entfährt es mir. Oh Mist, wie sehr ich mir wünsche, ich hätte es heruntergeschluckt, bevor ich es ausgerechnet seiner Mutter beichte .
Doch Adelle geht ganz locker damit um. Sie legt ihre Hand auf meine, und ich halte den Blick auf ihre altersfleckige Haut gerichtet, bis ich gezwungen bin, wieder aufzusehen, als mir das Schweigen zu viel wird. Sie zieht einen Mundwinkel hoch, legt den Kopf schief und verschlägt mir die Sprache. »Genau wie er. Die beste Art von Liebe bringt ein gesundes Maß an Angst mit sich, Willow. Und sobald man spürt, dass diese Angst einem Löcher in den Bauch brennt, weiß man, dass man etwas Seltenes und Besonderes gefunden hat, das es wert ist, daran festzuhalten.«
Ich verdaue blinzelnd ihre Worte. Glaubt sie, dass ihr Ältester mich liebt? Sieht sie es auch in meinen Augen? Bei Reid habe ich diese Angst, die sie beschrieben hat, nie gespürt, doch bei Shaw schon. Ich weiß nicht so recht, wie ich reagieren soll, doch Rettung ist in Sicht, als Shaws tiefe Stimme brummt: »Hey, was führt ihr zwei denn im Schilde?«
»Nichts«, krächze ich, als Adelle zwitschert: »Frauengespräche.«
Sein Blick verschleiert sich, wird irgendwie lüstern, und ich nippe nervös an meinem Wein, während ich ihm dabei zusehe, wie er um die Kücheninsel herum auf mich zu schlendert. Als er hinter mich tritt, spüre ich seine starke Hand in meinem Nacken, die ein paarmal zudrückt. Ich spüre seine Körperwärme an meinem Rücken, als er sich vorbeugt und mir ins Ohr flüstert: »Ihr plant doch noch nicht unsere Hochzeit, oder?«
Ich verschlucke mich an der Flüssigkeit, die gerade durch meine Kehle fließt, und pruste und huste, während Shaw und Adelle mir abwechselnd auf den Rücken klopfen und mich fragen, ob alles in Ordnung sei. Sobald ich wieder Luft bekomme, drehe ich mich entgeistert zu Shaw.
Ich kann seinen Gesichtsausdruck nicht deuten und stammele: »Himmel, nein.« Es klingt defensiv, als hinterließe die Vorstellung in meinem Mund einen bitteren Geschmack, aber das stimmt nicht. Sie ist sogar eine Delikatesse, die viel zu gut schmeckt.
»Ich habe nur Spaß gemacht.« Die Worte sind ruhig, doch seine Stimme klingt gezwungen. Fast so, als würde er die Vorstellung nicht furchtbar finden.
»Wirklich?«, frage ich, bevor ich mich eines Besseren besinnen kann.
»Und du?«, kontert er, und ich bin mir nicht sicher, welche Frage er mir eigentlich stellt. Ob wir über die Hochzeit geredet haben oder ob mir die Vorstellung nicht gefällt? Seine Hand liegt wieder in meinem Nacken. Sie fasst fester zu, während er mir forschend in die Augen sieht, fest entschlossen, mir eine Antwort zu entlocken, auch wenn er sich nicht revanchieren wird.
Statt zu kämpfen, beschließe ich, aufzugeben – meine Rüstung liegt sowieso schon zu meinen Füßen –, und beantworte beide Fragen ehrlich. »Nein.«
Ich weiß, dass es die richtige Antwort ist, als seine Augen aufleuchten und sein Körper sich an meinem entspannt. »Du bist immer für eine Überraschung gut«, sagt er heiser.
»Du aber auch«, antworte ich mit schwacher Stimme.
Er senkt den Blick auf meine Lippen, die ich mir prompt lecke. Er stöhnt. Es ist kaum wahrnehmbar, doch mir ist es inzwischen so vertraut, wie zu blinzeln. Verlangen . Er senkt den Kopf, und seine Lippen liegen fast auf meinen, als ein schrilles Stimmchen kreischt: »Onka Shaw!«
Kaum ist Shaw von mir zurückgetreten, springt schon ein ungestümes fünfjähriges Mädchen gut einen halben Meter hoch direkt in seine Arme.
»Cora-Schatz«, gurrt er und schwenkt sie herum, bis sie unkontrolliert kichert .
»Sie hat im Auto Saft getrunken«, warnt Gemma ihn und küsst mich im Vorbeigehen auf die Wange, als seien wir schon Schwägerinnen. Ich hebe die Hand und fahre mit zwei Fingern über die Stelle. »Wenn’s wieder hochkommt, musst du es aufwischen.«
Das stört Shaw überhaupt nicht. Inzwischen hält er Cora über seinen Kopf und pustet schnaubend gegen ihren Bauch, woraufhin sie sich kreischend windet. Erst als die Kleine ein abscheuliches Rülpsen ausstößt, stellt Shaw sie sanft wieder auf die Füße.
»Alles okay, Schatz?«, fragt er besorgt und geht vor ihr in die Hocke. Das ist so verdammt süß, dass ich nicht umhinkann, ihn mir mit unseren Kindern vorzustellen.
Großer Gott, Willow, reiß dich zusammen 
Sie hickst ein paarmal, bevor sie antwortet: »Das hat Spaß gemacht!«
»Du wirst doch nicht kotzen, oder?« Jetzt hat Shaw die Augenbrauen zusammengezogen.
»Was ist Kotzen?«, erwidert sie vollkommen arglos und blauäugig.
»Es bedeutet, dass du deine Eingeweide hervorwürgst, bis sie in einem Riesenhaufen, der aus nichts als vergammelten Eingeweideteilen besteht, vor dir auf dem Boden liegen«, schaltet sich ihr Bruder Nicholas ein und stellt das Gesagte mit den passenden Geräuschen pantomimisch dar.
Dann bricht das Chaos los.
»Nicholas«, schimpft Gemma ihn, noch während Cora ihr Gesichtchen verzieht und brüllt: »Mami, ich will meine Eingeweide nicht herauswürgen. Ich mag meine Eingeweide. Ich will keine vergammelten Eingeweide.«
Hinter mir fängt ein Baby an zu schreien. Als ich mich umdrehe, sehe ich Gemmas Göttergatten, dessen Name mir momentan entfallen ist, der den kleinen Jungen auf seinem Arm zu beruhigen versucht, an dessen Namen ich mich sehr wohl erinnere: Eli. Und mit drei Jahren ist er eigentlich kein Baby mehr.
»Ich nehme ihn, wenn das in Ordnung ist«, biete ich ihm an und strecke die Hände aus.
»Sind Sie sicher?«, fragt er, während er zwischen der inzwischen heulenden Cora, die permanent wegen ihrer Eingeweide jammert, dem spottenden großen Bruder, der es nur noch schlimmer macht, und dem weinenden Kleinen in seinen Armen hin und her blickt.
»Ja. Wir kommen schon zurecht, stimmt’s, Großer?« Ich nehme ihm Eli ab und drücke ihn an mich, schaukele ihn, während wir weg von dem Chaos in den Nebenraum gehen.
»Wollen wir spielen?«, frage ich und versuche die Tränen wegzuwischen, die sein pausbäckiges Gesicht nass gemacht haben. Bei meinem letzten Besuch hier ist mir aufgefallen, dass Adelle in einer Ecke des großen Wohnzimmers einen Little-Tikes-Spielzeugkasten stehen hat. Wir begeben uns dorthin, und ich setze mich mit dem Kleinen auf den Boden. Ich öffne den Deckel und ziehe den ersten Gegenstand heraus, der ihn vielleicht interessieren könnte. Als er sieht, was es ist, hört er sofort auf zu weinen.
»Squigz!«, ruft er mit immer noch weinerlicher Stimme. Er reißt mir den Behälter aus der Hand und kippt die bunten Silikonteile aus, die wie Riesenmoleküle mit Gummisaugern an den Enden aussehen.
»Willst du sehen, wie es geht?« Er sieht mit leuchtend blauen Augen zu mir auf, voller Leben und Neugier und mit einer Unschuld, die man nirgendwo anders finden kann als bei einem Kind. Ich weiß, dass er nur Shaws Neffe ist, aber ich sehe viel von Shaw in ihm. Prompt schießt meine Fantasie wieder ins Kraut, und ich frage mich, ob Shaws Sohn das gleiche Grübchen in seiner linken Wange hätte oder denselben Schalk in den Augen.
»Sehr gern.« Ich lächele und versuche mich wieder auf Eli zu konzentrieren statt auf diese imaginäre Familie, auf die ich immer wieder zurückkomme.
Er fängt an, die Teile zusammenzustecken und ein beliebiges Muster daraus zu bilden. Er unterbricht und reicht mir ein Stück. »Dubissdran.«
»Das ist sehr nett von dir. Darf ich es irgendwohin stecken?«
Als er aufgeregt nickt, hefte ich ein blaues Teil mit vier Saugnäpfen an ein orangefarbenes mit nur einem. Daraufhin nimmt er sich ein gelbes und heftet es an mein blaues.
Nebenan klingt es so, als hätte sich Cora beruhigt, doch jetzt steckt Nicholas in Schwierigkeiten und wird nach oben geschafft. Er schiebt schmollend die Unterlippe vor und bemüht sich nach Kräften, nicht zu weinen. Ich beobachte, wie er außer Sichtweite stapft, und lache in mich hinein.
Eli reicht mir gerade ein neues Teil, als ich aus den Augenwinkeln etwas registriere.
Irgendwann ist Shaw hereingekommen und hat sich in den Ohrensessel gesetzt. Lässig zurückgelehnt, die Hände auf dem Bauch verschränkt, beobachtet er uns. Mich eigentlich. Sein Blick ruht nur auf mir, und er sieht genauso aus wie damals, als er mich bei unserem ersten Treffen bei ihm zu Hause in seinem Sessel sitzen sah.
Als bewunderte er mich und hätte Mühe zu verstehen warum.
Ich schmelze genauso dahin wie damals.
»Hallo«, sage ich. Ein kleines Lachen soll meine Nervosität überspielen, tut es aber nicht. »Ich –« Ich halte inne. Schlucke heftig. Vielleicht habe ich meine Grenzen überschritten? »Ich hoffe, das ist okay.« Ich deute auf Eli, der jetzt sein Meisterwerk auseinanderreißt, um ganz von vorn anzufangen.
Er nickt in Zeitlupe. Das ist alles. Mehr kriege ich nicht.
Ich versuche mich wieder auf Eli zu konzentrieren, der jetzt von einem Kind namens Sid schwatzt, aber ich kann ihm überhaupt nicht folgen. Ich spüre nur Shaws Blick auf mir, wie er über mich gleitet, sich in mein Herz bohrt, bis ich ein wenig in Panik darüber gerate, wie verdammt gut es sich anfühlt, einhundert Prozent der Aufmerksamkeit dieses Mannes zu haben.
»Du siehst gut aus«, seufzt seine Baritonstimme. Das banale Kompliment nieselt auf mich herab wie ein sanfter Regenschauer, doch statt mich abzukühlen, erhitzt es mein ganzes Wesen vor Verlangen, ob das nun seine Absicht war oder nicht.
Ich sehe ihm in die Augen und erwarte einen feurigen und hungrigen Ausdruck darin. Fehlanzeige. Sein Blick ist weich und warm und so verdammt süß, dass mein Magen einen Hüpfer macht.
»Du bist dazu geboren, Mutter zu sein, Willow.« Er sieht direkt in meine Seele, als er mir das sagt.
Mist. Ich stehe in Flammen. Lava kriecht durch meine Adern und verbrennt mich von unten nach oben. Ich kann wieder atmen, doch mein Atem schmeckt nach heißer Luft und unterdrückten Bedürfnissen.
Als er die Hand nach mir ausstreckt, springe ich ohne nachzudenken auf und gehe zu ihm. Ich stelle mich zwischen seine Beine und verschränke meine Finger mit seinen. Er betrachtet lange unsere verbundenen Hände und dreht und wendet sie in verschiedene Richtungen, während er mit dem Daumen meinen streichelt, bis ich diese eine Stelle, an der er mich berührt, auf jedem Zentimeter meiner Haut spüre.
Alles verblasst, als er den Blick langsam über meinen Körper wandern lässt und mir dann fest in die Augen sieht. Er sagt nichts, aber das ist okay. Worte sind überflüssig. Wir atmen nur und bleiben so, bis eine Frauenstimme »In fünf Minuten wird gegessen« ruft und den Bann bricht, der uns einen Ort eröffnet hatte, an dem nur wir existierten.
Shaw lässt meine Hand nicht los, während er aufsteht, doch als er auf den Beinen ist, löst er seinen Griff und umfasst mein Gesicht. Ohne zu beachten, dass die anderen auf uns warten, senkt er seinen Mund auf meinen und gibt mir den süßesten Kuss, den ich je in meinem Leben bekommen habe. Er fließt über von Ehrfurcht und wachsender Liebe.
Wir lösen uns jäh voneinander und lachen, als Elis Stimmchen tönt: »Bäääh, igitt! Onka Saw und die Frau knutschen.« Er rennt aus dem Zimmer und lässt uns allein.
Shaw legt die Stirn an meine und sagt so leise, dass ich mich anstrengen muss, um es zu hören: »Mit dem Tempo, in dem du mich veränderst, kann ich kaum Schritt halten, Goldlöckchen.«
Sei still, mein pochendes Herz .
Ich habe das Gefühl, als würden die Momente zwischen uns mit jeder Sekunde ehrlicher und realer. Ich schlinge die Arme um seine Taille und schließe meine brennenden Augen, während meine Gefühle mich zu überwältigen drohen. »Ich auch nicht, Verkehrsrowdy.«
Seine Lippen sind wieder auf meinen und bewegen sich so gemächlich und konzentriert wie vorhin. Mit jedem festen Druck sehne ich mich mehr nach ihm. Mit jedem Wirbeln seiner Zunge an meiner fühle ich mich verlorener, doch auch, als hätte er mich unter all den Masken gefunden, hinter denen ich mich immer verstecke.
Zwischen trägen Küssen sagt er immer wieder leise meinen Namen, und ich vergesse, wo wir uns befinden. Dann lässt er seine Lippen auf meinen ruhen, bevor er schroff ansetzt: »Willow, ich –«
»Hallo, Turteltauben, Annabelle ist da«, unterbricht ihn Gemma.
Als der Name seiner jüngsten Schwester fällt, erstarrt Shaw, weicht zurück und lässt mich so abrupt los, als hätte ich ihm einen Stromschlag versetzt.
»Was ist los?«, frage ich und trete näher. Ich will ihn berühren. Ich hebe die Hand, um ihn am Arm zu fassen, lasse sie aber wieder sinken. Er schnappt sie sich, umklammert sie und hält sich an mir fest, während eine Art Verzweiflung von ihm ausgeht wie eine breite Welle. Einen Augenblick wirkt er hin- und hergerissen, als wollte er sich schleunigst aus dem Staub machen, doch da ich weiß, wie sehr er seine Schwester liebt, ergibt das keinen Sinn.
Endlich sehe ich sie aus dem Augenwinkel. Sie steht zwischen Eingangshalle und Wohnzimmer und beobachtet mich. Ich hätte sie überall erkannt. Sie ist eine etwas ältere Version des Mädchens auf den Fotos, die massenhaft auf Adelles Steinway-Flügel stehen.
Sie ist exquisit. Porzellanhaut. Feine Gesichtszüge. Sehr dünn. Ein Schneeengel, nur mit pechschwarzem Haar mit saphierblauen Strähnen. Ihre schwarz umrandeten blauen Augen funkeln wie Glitter, der durch Scheinwerferlicht fällt. Ihre Lippen sind mit einem Zwischending aus Johannisbeere und Mahagoni gefärbt. Sie trägt eine zerfetzte schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt, auf dem in großen goldenen Buchstaben prangt: »Ich schwöre feierlich, dass ich nichts Gutes im Schilde führe.«
Das glaube ich unbesehen.
Shaw hat mir nicht viel von seiner Schwester Annabelle erzählt, außer dass sie studiert und »ein bisschen wild« ist. Jetzt verstehe ich, was er damit meint. Sie hat den gleichen Schalk in den Augen, den ich von Shaw und Eli kenne, anscheinend ein Charakterzug der Familie Mercer.
Aber mir fällt noch etwas anderes auf. Ich kann es nicht genau benennen, doch es springt mir ins Auge und packt mich mit solcher Macht, dass ich es nicht ausblenden kann. Oder ignorieren. Es zieht mich zu ihr hin. Es ist ein Sog, dem ich nicht widerstehen kann.
Instinktiv mache ich mich von Shaw los und gehe auf sie zu. Ihre Augen werden groß, und ich könnte schwören, dass ich Shaws Atem stocken höre. Erst als ich nur noch anderthalb Meter von ihr entfernt bin, wird mir klar, was ich vom anderen Ende des Raumes gesehen habe.
Sie leidet.
Ihre junge Seele hat einen Schlag versetzt bekommen, doch sie hält durch und versucht ihr Möglichstes, sich durch eine Dunkelheit zu kämpfen, von der sie glaubt, dass nur sie sie sehen kann.
Ich weiß, es ist ein verrückter Gedanke, da ich sie gerade erst getroffen habe, doch er schreit so laut in mir, dass ich ihn nicht außer Acht lassen kann, weil ich diese Dunkelheit selbst erlebt habe.
Ihre kolossale Macht gespürt habe, ihren unerbittlichen Griff.
Weil ich direkt in ihren gähnenden Abgrund gesehen habe und mich genauso hilflos gefühlt habe wie jetzt.
Annabelle Mercers Seele hat denselben verdunkelten, gequälten Ausdruck, den ich schon bei jemand anderem gesehen habe. Bei jemandem, mit dem ich mich immer noch verbunden fühle, egal wie viel Raum und Zeit uns trennen.
Jemand, den ich nicht retten konnte.
Als ich in die überirdischen Augen dieser zierlichen Schönheit vor mir sehe, gibt es keinen Zweifel. Nicht den geringsten. Überhaupt kein Zögern und keine Unklarheit.
Shaws kleine Schwester kämpft gegen dieselben unbekannten Dämonen wie meine tote Schwester Violet. Und ich muss mich fragen, ob ihre Familie das weiß oder es vorzieht, es zu ignorieren … So wie meine Familie, bis es zu spät war.