9. KAPITEL
Shaw
Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie kommt.
Natürlich war sie eingeladen, das ist sie schließlich immer. Aber es ist reine Glückssache, ob sie durch diese Haustür tritt und uns mit ihrer Anwesenheit beehrt oder ob ihr Platz am Tisch leer bleibt, während alle so tun, als fiele es ihnen nicht auf.
Dabei ist es nicht so, dass ich sie nicht hier haben will. Das will ich. Es liegt auch nicht daran, dass ich sie von Willow fernhalten will. Das will ich nicht. Aber diese ganze verdammte Detektivgeschichte bringt uns beide noch um. Es ist jetzt über eine Woche her, dass Mergen uns seine Hiroshima-Bombe in den Schoß geschmissen hat, und seitdem überlegen wir fieberhaft, wohin wir das Scheißding werfen können, damit es nur ein möglichst kleines Blutbad anrichtet.
In dieser Woche bin ich nur auf Sackgassen gestoßen, auf eine nach der anderen.
Das treibt mich in den Wahnsinn.
Mein Besuch bei Bull hat nicht viel gebracht. Er schwört beim Grab seiner toten Mutter, dass er jedem einzelnen Mitglied seiner Belegschaft bedingungslos vertraut. Warum sollte er auch nicht? Polizisten vertrauen einander jeden Tag ihr Leben an. Wenn man seinen Kollegen nicht vertraut, ist man tot. Aber irgendwer muss etwas gewusst und im Gespräch bei Bier und Rippchen beiläufig eine Bemerkung fallen gelassen haben. Alles andere ergibt keinen Sinn.
Und Annabelles Freundinnen – im weitesten Sinne –, die in der fraglichen Nacht mit ihr zusammen waren, sind in alle Winde zerstreut. Eine haben wir in Seattle aufgespürt, doch sie war so zugedröhnt, dass man sich genauso gut mit einem Zombie hätte unterhalten können. Eine sitzt wegen Drogenbesitzes in Portland im Knast, und die andere ist weggezogen und lebt vermutlich bei ihrer Großmutter, die versucht, sie wieder auf den rechten Weg zu bringen. Wir könnten sie vermutlich ausfindig machen, was jedoch eine außerplanmäßige Autotour bedeuten würde. Und damit noch mehr Zeit fernab vom Büro. Fernab von Willow.
Deshalb stockt mir der Atem, während ich wie angewurzelt dastehe und zusehe, wie Willow auf meine kleine Schwester zugeht.
Wie wird Bluebelle reagieren? Wird sie zusammenbrechen und alles gestehen oder sich flapsig geben und sich wirkungsvoll mit jener Schutzschicht imprägnieren, die ich von Willow so gut kenne? Ich halte den Atem an, weil ich keine Ahnung habe, warum Annabelle heute aufgekreuzt ist. Oder was passiert, wenn sie den Mund aufmacht.
Annabelle lässt Willow nicht aus den Augen. Meine sonst so abgeklärte Schwester ist kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Ich sehe es klar und deutlich. Ihre blutroten Lippen zittern. Sie hat ihr Gewicht auf den Absatz einer ihrer Stiefel verlagert, den sie so schnell hin und her dreht, dass sie Funken schlagen und Feuer machen könnte. Ich meine sogar, ihre babyblauen Augen feucht werden zu sehen.
Mist. Ich sehe, wie die Fassade rissig wird. Als sie sich auf die Lippe beißt, weiß ich, dass sie kurz vor einem hysterischen Anfall steht .
Ich will sie gerade hier rausschaffen, da erschreckt meine sonst so wenig herzliche Schwester mich zu Tode, indem sie auf Willow zustürzt und ihr die Arme um den Hals schlingt.
Willow reagiert etwas verhaltener. Ich beobachte, wie sie im Zeitlupentempo die Arme um Annabelles Taille legt. Der Blick meiner kleinen Schwester huscht zu mir, während ihr eine Träne über die Wange kullert, die sie versucht hat zurückzuhalten. Sie wischt sie verstohlen mit dem Finger weg und löst sich aus der Umarmung.
»Hallo«, begrüßt sie Willow und klingt leicht verlegen.
Willow zögert nur kurz, bevor sie die Begrüßung leise lachend erwidert. Sie scheint perplex über Annabelles demonstrative Zuneigung, vor allem, da sie sich noch nie zuvor begegnet sind. Da ist sie nicht die Einzige. Ich blicke zu Gemma, die die Szene mit zusammengezogenen Augenbrauen und offen stehendem Mund beobachtet.
»Entschuldigung, ich, äh … Ich habe mich ein wenig hinreißen lassen.« Annabelle tritt jetzt nervös von einem Bein aufs andere.
»Schon gut. Ich stehe auf Umarmungen. Annabelle, stimmt’s?«
Bluebelle zieht die Mundwinkel hoch. »Ja, das stimmt.«
»Nun, es freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Annabelle. Shaw hat mir viel von Ihnen erzählt.«
Ihr Blick huscht wieder zu mir, und in ihren meerblauen Augen steigt Panik auf.
Weiß sie Bescheid? , fragen sie.
Ich schüttele fast unmerklich mit dem Kopf.
»Sie dürfen ihm kein Wort glauben«, stichelt sie, verfällt schnell wieder in ihre unverschämte Art, um ihre wachsende Unruhe zu verbergen.
Lachend dreht sich Willow zu mir und schenkt mir ein Lächeln, das mich hart wie einen verdammten Stein macht. »Ja, das ist mir sehr wohl bewusst.« Die Antwort ist zwar an meine Schwester gerichtet, doch für mich gedacht. Aber ich weiß, dass sie Mist erzählt. Jedes Wort an sie, das aus meinem Mund kam, war nichts als die Wahrheit.
»Zeit fürs Abendessen«, ruft die tiefe Stimme meines Vaters aus der Küche.
»Das ist unser Stichwort«, verkündet Annabelle, hakt sich bei Willow unter und zieht sie mit sich. »Wir müssen in einer Minute am Tisch sitzen, sonst bin ich wieder schuld, wenn die Lasagne kalt ist.«
»Annabelle«, ermahne ich sie schroff, als ich sie einhole. »Das stimmt nicht, und das weißt du auch.«
Ihr Gesicht wird lang. Schweigend lässt sie Willow los und läuft vor uns her. Ich nehme Willows Hand und gehe mit ihr an den Tisch im Esszimmer. Ich ziehe ihr einen Stuhl heraus, schiebe ihn wieder heran, als sie sich setzt, und nehme neben ihr Platz.
Mein Vater sitzt wie immer am Kopfende des Tisches, meine Mutter ihm gegenüber. Mein Platz ist rechts von ihm mit Willow an meiner Seite. Daneben sitzt Gemma, gefolgt von Cora und Nicholas. Ihnen direkt gegenüber sitzen ihr Versager von Ehemann Evan und der kleine Eli. Annabelle, die Willow gegenübersitzt, vervollständigt unsere kleine Familie.
Jeder von uns sitzt auf seinem angestammten Platz; aber eins stimmt heute Abend nicht. Da liegt ein zusätzliches Gedeck, von dem ich weiß, dass es nicht für Linc ist, weil er sich nicht von der Arbeit loseisen kann. Mal wieder.
»Erwarten wir noch jemanden?«, frage ich meinen Vater und deute mit dem Kopf auf den leeren Platz. In dem Moment klingelt es .
»Ja«, antwortet er, macht aber keine Anstalten, zur Tür zu gehen. Zwei Sekunden später weiß ich warum.
»Entschuldigen Sie die Verspätung, Adelle.« Die unverkennbare Männerstimme treibt Nägel in meinen Schädel und Feuerameisen durch meine Adern.
Was zum Henker macht der denn hier? Und er spaziert einfach so ins Haus meines Vaters, als würde es ihm gehören? Mein Blut siedet.
Ich blicke zu meiner Mutter und sehe, wie dieser widerliche Scheißkerl Reid Mergen sie auf die Wange küsst, bevor er Evan die Hand schüttelt, als seien sie alte Highschool-Kumpels.
»Wie geht’s dir, kleiner Mann?«, fragt Mergen mit nervtötender Vertrautheit, während er im Vorbeigehen Elis Haare zerzaust. Anscheinend verbringt er mehr Zeit mit meiner Familie, als mir klar war. Unter normalen Umständen würde mich das nicht stören, aber weil er es ist und weil er alles bedroht, was mir in diesem Raum lieb und teuer ist, bringt mich das so sehr auf, dass ich gleich platze.
»Was macht er denn hier?«, flüstert mir Willow zu, während Mergen mich mit einem selbstgefälligen schmierigen Grinsen bedenkt.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Aber es ist nicht an sie gerichtet. Ich spreche mit meinem Vater. »Warum ist er hier? Dies ist ein Familien essen.«
»Wir sind in letzter Zeit unzertrennlich. Ich gehöre praktisch zur Familie«, wirft Arschgesicht ein und setzt mit seinem arroganten Blick noch einen drauf.
Alle Muskeln in meinem Körper machen sich bereit, ihm das Gesicht zu Brei zu schlagen. »Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen, Sie Arschloch. «
»Shaw Andrew«, ermahnt mich meine Mutter und schnalzt mit der Zunge, wie sie es immer macht, wenn einer von uns sie enttäuscht.
Scheiß drauf. Wenn sie glaubt, ich würde hier rumsitzen und den Kopf einziehen, während dieser Poser versucht, meine Familie zu untergraben, ist sie, Mutter hin oder her, auf dem Holzweg.
Ich balle die Fäuste so fest, dass meine stumpfen Nägel sich in meine Haut bohren. Ich ignoriere alle anderen und ätze: »Gehen Sie, bevor ich Sie rauswerfe.«
Willow legt sanft die Hand auf meinen Unterarm, um mich zu beruhigen. Als Mergen das mitbekommt und sein Blick vor Eifersucht auflodert, grinse ich zur Abwechslung mal selbstgefällig.
»Shaw.« Jetzt schaltet sich mein Vater ein. »Ich habe ihn eingeladen.«
Mein Vater nickt Mergen zu, dessen Blick nun zwischen Willow und mir hin und her huscht, und auch wenn ich Willows Miene nicht sehen kann, scheint sie diesem Scheißkerl zu denken zu geben. Er hat den Stuhl nur halb herausgezogen, und seine zuvor überhebliche Miene zeigt jetzt leichte Unentschlossenheit.
»Setzen Sie sich«, befiehlt mein Vater. Er gehorcht, ohne meinen hasserfüllten Blick zu erwidern. »Und was dich betrifft …«, richtet er tadelnd das Wort an mich. »Reid ist Gast in meinem Haus an meinem Tisch, und auch wenn ich so eine Ahnung habe, was zwischen euch beiden läuft« – sein Blick gleitet zu Willow, dann zurück zu mir –, »wirst du dich meinem Gast gegenüber zivilisiert verhalten, während du dich in meinem Haus aufhältst.«
Ich antworte nicht, jedenfalls nicht mit Worten. Mir liegt eine Tirade auf der Zunge, die unbedingt herauswill. Doch wenn ich den Mund aufmache, könnte ich meiner Beziehung zu meinen Eltern irreparablen Schaden zufügen, und das ist es nicht wert, egal wie viele Beleidigungen ich diesem Scheißkerl mir gegenüber am liebsten entgegenschleudern würde.
Willow überrascht mich total, als sie mit der Lippe sanft über meine Wange streicht und flüstert: »Ich kriege das hin, wenn du es kannst.«
Getrieben von einem Urinstinkt, über den ich keine Kontrolle habe, packe ich sie im Genick und halte sie fest, während ich sie gleich hier am Esstisch atemlos küsse, während alle zusehen.
Als ich mich zurücklehne, blinzelt Willow. Ihr Blick ist verträumt. Ihr Gesicht hat die köstliche rötliche Farbe des Verlangens angenommen. Ich dachte, sie sei vielleicht sauer, doch als sie einen Mundwinkel nach oben zieht, lächele ich erleichtert.
»Na, das wird sicher unterhaltsam«, sprudelt Annabelle hervor, die keine Ahnung hat, dass der Mann, der nur eine Fingerlänge von ihr entfernt sitzt, jener Mann ist, der den Niedergang ihrer Familie herbeiführt. Ihren Niedergang.
»Können wir jetzt das Tischgebet sprechen oder müssen erst noch mehr Grenzen markiert werden?«, fragt mein Vater, woraufhin fast alle kichern. Außer Mergen. In seinen Augen entflammt dieselbe Feuersbrunst aus Hass, die sicherlich in meinen auflodert, wenn ich mir ihn mit Willow vorstelle.
Ein Teil von mir weiß, dass ich Mitgefühl mit ihm haben sollte, doch falls es irgendwo vorhanden ist, kann ich es nicht finden. Ich weiß nicht, was zwischen ihm und Willow vorgefallen ist, und ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt wissen will. Für mich zählt nur, dass sie jetzt mir gehört.
»Ach, da gibt’s noch mehr zu markieren.« Ich schiebe die Hand Willows Schenkel hoch und drücke zu, während ich den Feind nicht aus den Augen lasse. »Aber das wird im stillen Kämmerlein geschehen.«
»Du liebe Güte«, japst meine Mutter.
»Herr im Himmel.« Mein Vater schüttelt den Kopf und lässt ihn sinken.
»Mommy, Großpapa hat ein böses Wort gesagt«, piepst Eli.
»Ah, das wird richtig gut«, schaltet sich Annabelle ein, auf deren Gesicht sich ein Grinsen breitmacht.
Mergen und ich starren uns an. Willst du mich herausfordern, Wahlkampf-Fuzzi? Dann mal los. Ich verspeise Schwächlinge zum Frühstück .
Die Spannung am Tisch steigt ins Unerträgliche, als eine spontane Äußerung aus einem Kindermund sie auflöst. Jedenfalls für mich. »Mommy, ist die Frau, die Onka Shaw küsst, seine Freundin?«, fragt Cora.
Darauf kannst du Gift nehmen .
»Ja, Süße. Ja, das ist sie«, antwortet Gemma mit einem Lächeln in der Stimme. Gut gemacht, Schwesterherz. »Und sie heißt Willow, weißt du noch?«
»Das ist ein schöner Name.«
»Das stimmt«, antwortet meine Schwester.
»Werden sie heiraten und Babys kriegen?«
Gemma gerät ins Stottern. »Ich …äh …ich …«, und als ich einen Blick zu Mergen werfe, hat er die Zähne so fest zusammengebissen, dass man glauben könnte, sein Kiefer sei verdrahtet. Man wird ja noch träumen dürfen.
Ich rette meine Schwester, indem ich die Frage meiner Nichte mit ungeheurer Leichtigkeit beantworte: »Das ist definitiv eine Möglichkeit.«
Neben mir schnappt Willow nach Luft, und im Raum ist es so still geworden, dass man eine Nadel fallen hören könnte. Meine Familie steht sicher genauso sehr unter Schock wie ich, doch ich blende alles andere aus und wende mich an Willow. Sie sieht mich mit offenem Mund und Stielaugen an.
Hast du das ernst gemeint? , fragen sie.
Ich bin mir ziemlich sicher , antworte ich.
Ihr ganzes Gesicht leuchtet auf. Strahlt. Wo war diese Frau mein ganzes Leben lang?
»Können wir jetzt endlich essen? Ich habe Hunger.« Coras Ton grenzt an ein Wimmern. In etwa drei Sekunden schaltet sie in den Hysterie-Modus.
»Der beste Vorschlag, den ich in den letzten fünf Minuten gehört habe«, erwidert mein Vater trocken.
Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich meinen Blick von Willows lösen kann. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, mit ihr allein zu sein, damit ich ihr alles sagen kann, was ich empfinde, auch wenn ich noch nicht so genau weiß, wie ich es in Worte fassen soll. Nach dem Tischgebet halte ich ihre Hand länger fest als nötig, und während des Essens ergreife ich jede Gelegenheit, sie zu berühren. Nicht weil ich Mergen ans Bein pissen will, obwohl das ein schöner Nebeneffekt wäre, sondern weil ich mich, wenn ihre Haut an meine gepresst ist, geerdet fühle wie noch nie.
Am überraschendsten ist, dass es mir gelingt, Mergen und seine nicht gerade subtilen finsteren Blicke zu ignorieren. Seine wenig überzeugenden Versuche, sein Verlangen nach Willow zu zügeln, sollten mich provozieren, doch ich finde sie jetzt nur noch armselig. Es gelingt mir ihretwegen. Sie konzentriert sich nur auf mich , auch wenn sie mit meiner Familie umgeht, als sei es bereits ihre.
Und als ich kurze Zeit später aus der Tür trete, den Arm fest um ihre Taille geschlungen, kann ich nur daran denken, dass ich gleich in ihr sein werde. Und das liegt nicht etwa daran, dass ich das Bedürfnis verspüre, einen anderen Mann auszulöschen oder einen Besitzanspruch geltend zu machen. Sondern daran, dass ich mich nur dann so fühle, als sei ich wirklich nach Hause gekommen. Bevor ich Willow traf, war mir nicht klar, dass mir dieses Gefühl fehlt. Ich bin verliebt in diese Frau und akzeptiere es mehr und mehr, statt davor wegzulaufen.
Ich bete nur, dass ich sie behalten kann.