12. KAPITEL
Willow
Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Beklommen suche ich den Raum noch einmal ab und frage mich, wer mich beobachtet. Aber ich sehe niemanden. Dieses Gefühl habe ich schon, seit ich vor zwei Stunden den großen Festsaal des Sheraton betreten habe.
Zuerst dachte ich, es sei vielleicht Paul Graber. Es schnürte mir die Kehle zu, als ich ihn dort sah. Er starrte mich ziemlich lange an und nahm offenbar zur Kenntnis, dass ich mit Shaw dort war, bevor er wieder in der Menschenmenge verschwand. Shaw fiel auf, dass ich nervös war, doch ich habe ihm nie von Paul Graber erzählt und will es auch nicht, deshalb sagte ich, ich hätte heute zu viel Koffein getrunken.
Doch dann ging Graber. Ich habe ihn mit einer Rothaarigen, die größer war als er, zur Tür hinausgehen sehen. Das war vor einer Stunde gewesen, doch das unheimliche Gefühl, gestalkt zu werden, hat sich nicht verflüchtigt.
»Sie scheinen sich recht gut zu verstehen.« Shaws Lippen streifen meine Ohrmuschel, woraufhin mir ein lustvoller Schauer über den Rücken läuft. Die Liveband heute Abend spielt eine tolle Version von Michael Bublés »Home«, und mit Shaws Körper, der an meinen gepresst ist, und seinen Armen, die mich von hinten umschließen, habe ich mich ehrlich niemals glücklicher gefühlt .
Noch einmal sehe ich mich rasch um und beschließe, als ich nichts entdecke, dass ich übertrieben paranoid bin. Einen ehemaligen Kunden zu sehen, insbesondere diesen , hat mich verunsichert. Stattdessen konzentriere ich mich auf unsere zwei besten Freunde am anderen Ende des überfüllten Saales und lache. »Wirklich? Woran erkennst du das?«
Sierra hat die Hände zu Fäusten geballt, ihre Krallen nur mit Mühe eingefahren, und steht neben Noah, der den Arm fest um ihre nackte Taille geschlungen hat. Sie unterhalten sich mit einem älteren Paar. Im Grunde spricht Noah die meiste Zeit; Sierras Lippen sind zu einem dünnen, angespannten Lächeln verzogen.
Es ist urkomisch, Noah dabei zu beobachten, wie er sie, die Hand in ihrem Kreuz, herumzeigt wie einen wertvollen Shih Tzu auf einer Hundeausstellung. Er hat sie den ganzen Abend über kaum losgelassen. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Shaw sie beschwatzt hat, mit zu dieser spießigen Veranstaltung zu kommen. Und sich nicht nur in ein Ballkleid und wacklige Slingbacks zu werfen, sondern auch noch Noahs Date zu sein. Sein Date .
»Na ja, ich sehe weder Blut unter ihren Fingernägeln noch Kratzer an seinen Armen«, scherzt er.
Wir rücken ein paar Meter in der Cocktailschlange vor, in der wir seit zehn Minuten warten. Mir scheint, als hätten alle zur gleichen Zeit die gleiche Idee gehabt. »Noch nicht.«
Ich spüre seinen warmen Atem, kurz bevor seine Lippen auf meiner Schläfe landen. Sie sind weich und beruhigend und verweilen dort. Auf meinem Gesicht macht sich ein Lächeln breit.
»Ich wäre total gern von Kratzern übersät«, murmelt er nur für meine Ohren.
Mir wird ganz heiß, und mein gesamter Körper kribbelt. All die diabolischen Methoden, die er einsetzt, um meinen Körper zu beherrschen, schießen mir durch den Kopf, und ich krächze: »Ja?«
»Oh ja.« Er lacht leise. Es klingt schamlos und sexy und nach unendlich vielen Möglichkeiten.
Er hebt mit einem Finger sanft mein Kinn an, bis ich gezwungen bin, mich umzudrehen und zu ihm aufzusehen, und, oh Gott , die Hingabe, unverhüllte Begierde und bedingungslose Liebe, die ich in seinen dunkelblauen Tiefen sehe, machen mich atemlos. Diese verrückten Gefühle, die ich für ihn habe, werden alle auf einmal abgefeuert.
»Shaw …« In seinem Namen liegt so viel Bedeutungsschweres. Beispielloses Verlangen. Die Bitte, mich nicht zu zerbrechen. Angst, dass er es trotzdem tun wird.
»Ich weiß, Willow.« Er drückt seine Lippen zärtlich auf meine und murmelt: »Ich weiß.«
Er dreht mich um und legt eine Hand an meine Taille, während er mit der anderen meinen Kopf umfasst und mich an sich drückt, meine Wange an seiner Brust. Ich streiche mit den Handflächen über seinen Rücken und kralle mich in den glatten Stoff seiner teuren Anzugjacke. Ich bin nur einen mikroskopisch kleinen Schritt davon entfernt, ihm alles, was ich bin, auszuliefern und auf alle Vorbehalte zu pfeifen.
»Großer Gott, ich brauche zwei Sekunden Pause von diesem prätentiösen Mist.«
Shaw stößt einen Laut aus, der verdächtig nach einem Grunzen klingt, bevor er mich loslässt. Bevor ich mich Sierra zuwende, hebt Shaw mein Gesicht an und lächelt ein träges Lächeln, das ich genauso erwidere. »Falls ich es dir noch nicht gesagt habe, du bist heute Abend überwältigend schön.«
Mein Lächeln wird breiter. Er hat mir das bestimmt schon ein Dutzend Mal gesagt. Er gibt mir das Gefühl, schön zu sein, begehrenswert, und bringt mich dazu zu glauben, dass jedes Wort, das er sagt, wahr ist.
Dann hör auf, an ihm zu zweifeln, Willow .
»Bla, bla, bla«, beschwert sich Sierra hinter mir. Sie kneift mich in den Oberarm und zupft an mir. »Du kannst deinen Schwanz doch fünf Minuten selbst streicheln, oder, Mercer?« Sie zieht mich mit sich, bleibt jedoch kurz stehen und blafft Noah an: »Einen erstklassigen Whiskey. Den besten, den sie haben. Doppelt. Unverdünnt. Und zwar pronto. Ich will ihn hier, wenn ich zurück bin.«
Noah starrt sie mit ehrfurchtsvoller Faszination an, bevor er den Mund zu seinem Ladykiller-Lächeln verzieht. »Wie Sie wünschen, Milady.«
Sierra schnaubt verächtlich und verdreht die Augen so weit nach hinten, dass sie Gefahr laufen, dort steckenzubleiben. Noah lacht laut, während wir uns durch das Gewühl zum hinteren Ende des Festsaals schlängeln.
»Noah scheint von dir bezaubert zu sein«, sage ich, während wir uns durch die Menschenmenge schieben und auf die Damentoilette zusteuern.
Der Laut, den sie ausstößt, ist ein Zwischending aus einem Prusten und einem weiteren verächtlichen Schnauben. »Ich habe noch nie im Leben so viele Oberarschlöcher in einem Raum gesehen«, sagt Sierra verächtlich, während sie die Tür zur Damentoilette so fest aufstößt, dass sie gegen die Wand knallt.
Ich lache nervös und vergewissere mich, dass wir allein sind. Ihr mag es egal sein, aber mir nicht. Laut Shaw haben besagte Oberarschlöcher heute Abend einen Riesenhaufen Geld gespendet. Zum Glück sehe ich an der Waschbeckenreihe niemanden.
»Du hast meine Frage nicht beantwortet. «
»Ich habe kein Fragezeichen gehört.«
»Magst du ihn?«, bedränge ich sie.
Sie knallt die kleine goldene Handtasche, die sie sich unter den Arm geklemmt hat, hin, öffnet sie schwungvoll und holt einen tiefroten Lippenkonturenstift heraus.
»Ihn mögen? Er ist ein Egomane und eine Hure.«
Sie mag ihn. Noah Wilder passt zwar nicht in Sierra Wisemans Beuteschema, aber ihre Augen lügen nicht. Und was gibt’s an ihm nicht zu mögen? Er ist sexy, charmant und zuvorkommend. Und nicht auf anbiedernde unseriöse Art, sondern auf authentische Weise, die ihn einem mit jedem seiner Atemzüge sympathischer macht. Er ist ein Frauenheld, klar, aber hinter seinem coolen Auftreten verbirgt sich noch mehr. Wenn ich raten sollte, würde ich es Einsamkeit nennen, obwohl ich mir sicher bin, dass er das nie zugeben würde.
Sie nimmt den Verschluss ab und fängt an, ihre vollen Lippen sorgfältig nachzuziehen. Als sie innehält, fängt sie meinen Blick im Spiegel auf. »Warum habe ich mich noch mal auf das hier eingelassen?«
Inzwischen ernster, sage ich leise zu ihr: »Du weißt warum.«
Unsere Freundschaft mag unkonventionell sein, doch uns verbindet ein unzerstörbares Band, das Freundinnen nicht verbinden sollte. Wir haben beide eine Schwester verloren. Ich meine an eine Überdosis, sie ihre an Krebs im Kindesalter. Nur dass sie nicht über Sammy spricht, genauso wenig wie über alles andere. Sie ist wie ich ein regelrechtes Fass aus innerem Schmerz. Und mir gefällt nicht mehr, wie das auf mich abfärbt.
Sie ignoriert mich, holt tief Luft und schminkt weiter ihre Lippen in der Farbe, bei der Männer sich fragen, wie sie auf ihren Schwänzen aussehen würde. Als sie mit ihrem Werk zufrieden ist, wirft sie den Lippenstift zurück in ihre Clutch und lässt sie zuschnappen. Dann steht sie da, die Hände auf die Waschtischplatte gestützt, und scheint ihr Spiegelbild zu betrachten. Doch das tut sie nicht. Sie ist weit weg. Ich weiß, dass das schwer für sie ist. Es tut mir im Herzen weh, weil ich mich sehr gut in sie hineinversetzen kann.
Ich drücke ihre Hand. »Danke, dass du mitgekommen bist. Ich weiß, das ist schwer für dich.«
Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Der Ausdruck in ihren Augen wird wieder klarer, dann hart. Sie hat ihre Gefühle wieder im Griff. Das Gespräch unter Frauen ist beendet.
»Ich habe deinem Lustknaben das Versprechen abgerungen, eine Spende abzudrücken, die so groß ist, dass er davon Hämorrhoiden bekommt.«
Meine Mundwinkel zucken belustigt, doch ich verkneife mir ein Lächeln. Irgendwie bezweifele ich, dass dieses »Date«, das Shaw eingefädelt hat, irgendwas mit einer Spende zu tun hat. Er sitzt im Vorstand des Kinderkrankenhauses und hat eine Schwäche für Kinder. Deshalb hatte er wahrscheinlich schon längst einen fetten Scheck ausgestellt, bevor er sie überhaupt gefragt hat. Nein. Das ist etwas ganz anderes. Ein Kuppelversuch. Und angesichts der unbeirrten Aufmerksamkeit, die Noah Sierra den ganzen Abend über geschenkt hat, würde ich sagen, dass sich zwischen ihnen etwas Unwahrscheinliches anbahnen könnte.
»Das überrascht mich nicht. Du bist gut im Verhandeln, Ser.«
Ich mache auf dem Absatz kehrt und gehe zu einer Toilettenkabine, während sich das Lächeln, das ich mir verkniffen habe, Bahn bricht.
»Ich will einen Beweis«, schwebt ihre Stimme in die Kabine, als ich die Tür hinter mir schließe.
»Wenn er etwas versprochen hat, hält er es auch. Wenn ich eins über Shaw Mercer gelernt habe, dann dass er sein Wort hält. «
Ich raffe meinen knöchellangen zartrosa Plisseerock hoch und ziehe meinen kaum vorhandenen hautfarbenen Tanga herunter, von dem ich weiß, dass er Shaw später verrückt machen wird.
»Das sollte er auch besser. Wenn nicht, schneide ich ihm sein linkes Ei ab.«
»Wow. Nur das linke? Das ist großzügig von dir.« Ich wickele etwas Toilettenpapier ab und knülle es in meiner Hand zusammen.
»Ich finde, ich sollte dir eine Chance auf das imaginäre Baby lassen, von dem du gesprochen hast.«
Gott . Das durchfährt mich wie ein Stromstoß.
Das Quietschen der Türangeln dringt an mein Ohr und signalisiert, dass jemand in unseren Bereich eingedrungen ist. Sierra ruft: »Wir treffen uns draußen. Ich brauche dringend was zu trinken, wenn ich es noch eine weitere Stunde in diesen mittelalterlichen Foltergeräten aushalten soll, die irgendein Scheißkerl entworfen hat, weil er dachte, dann würde er flachgelegt.«
»Ha! Ganz deiner Meinung.« Auch meine Füße winseln um Gnade. Doch Shaws Augen wurden beim Anblick dieser fantastischen Silberschuhe mit verführerischen Riemchen, die mehrfach um meine Fußknöchel geschlungen sind, groß wie Untertassen. Und als er mir zuflüsterte, dass er es nicht erwarten könne, sie an seinen Ohren zu spüren, wenn er mich später verschlingen würde, wusste ich, dass ich jeden Schmerz ertragen würde, um diese Lust zu erleben.
Als ich fertig bin, wasche ich mir die Hände und grabe meinen See-Sheer-Lippenstift von MAC aus meiner Handtasche, um mich nachzuschminken.
Ich ertappe mich dabei, wie ich über die Worte nachdenke, die ich gerade zu Sierra gesagt habe. Dass Shaw seine Versprechen hält. Er hat mich noch nie belogen. Kein einziges Mal. Er ist ein ehrenhafter Mann. Aufrecht und loyal. Bei ihm fühle ich mich wohl und verstanden, und wünscht sich das nicht jeder Mensch? Die Freiheit, man selbst zu sein? So angenommen zu werden, wie man ist, nicht wie man sich manchmal geben muss? Jemanden zu haben, der einem durch seine bloße Gegenwart Kraft gibt?
Solche Menschen sind rar gesät. Viele von uns finden diesen Menschen nie.
Plötzlich fällt all meine Angst davor, Shaw zu sagen, dass ich ihn liebe, und zu hören, wie er es erwidert, von mir ab. Ich habe diesen Menschen gefunden. Den, der mich stärker macht. Die Anomalie, von der ich nicht glaubte, dass sie existierte, die es aber gibt, und ich wäre ein Dummkopf, ihn weiterhin auf Abstand zu halten.
Ich habe in meinem Leben nie etwas riskiert. Ich habe mit Reid nichts riskiert. Ich habe alles zurückgehalten, aus Angst. Ich will keine Angst mehr haben. Ich habe es satt, von der Angst beherrscht zu werden. Ich habe es satt, von anderen beherrscht zu werden. Ausnahmsweise einmal will ich über mich herrschen. Ich will alles riskieren, auch wenn ich weiß, dass am Ende vielleicht Schmerz auf mich wartet.
Während Aufregung und eine gesunde Dosis Nervosität durch meine Adern pumpt, verlasse ich die Damentoilette mit der vollen Absicht, schnurstracks zu Shaw zu gehen und ihm meine Liebe zu gestehen. Als ich mein Make-up wieder in meine Handtasche werfen will, verfehle ich sie, und der Lippenstift fällt leise auf den mit Teppich belegten Boden. Ich gehe elegant in die Knie, hebe das Teil wieder auf und schaffe es beim zweiten Mal, es in die Tasche zu kriegen.
Erst als ich mich wieder aufrichte und einen Schritt nach vorne mache, fällt mein Blick auf sie .
Voodoo-Auge.
Die wunderschöne Brünette von der Benefizveranstaltung, die ich vor ein paar Monaten mit Paul Graber besucht habe, die mich die ganze Zeit über anstarrte. Dieselbe, die ich mehrfach an Shaws Arm auf Fotos gesehen habe, bevor er mit mir zusammenkam.
Wieder stellen sich mir die Nackenhaare auf.
Sie war diejenige, die mich den ganzen Abend beobachtet hat.
Ich will einfach weitergehen, doch aus irgendeinem Grund bin ich wie erstarrt. Sie sieht mich intensiv an. Mustert mich von oben bis unten, langsam und bewusst. Sie hat immer noch kein Wort gesagt. Genauso wenig wie ich.
Ich fange mich wieder und will meinen Weg fortsetzen, doch ihre Provokation lähmt mich.
»Sie sind also derzeit angesagt, hm?«
Ich reagiere nicht. Ich habe nicht vor, mich auf einen Zickenkrieg mit einer verschmähten Geliebten einzulassen. Ich befehle meinen Füßen, weiterzugehen. Sie gehorchen. Ich bin etwa auf einer Höhe mit ihr, als sie mich erneut verspottet.
»Nur ein kleiner Tipp. Fallen Sie nicht auf seine selbstlosen Gesten und Schmeicheleien herein. Er wird Sie benutzen, bis er genug von Ihnen hat, und Ihnen dann das Herz mit einem Löffel aus der Brust schneiden. Er wird Sie verliebt in ihn machen und Sie dann verlassen, während Sie sich fragen, was zum Teufel gerade passiert ist. Denn Shaw Mercer ist nicht für die Liebe geschaffen.« Bei den letzten drei Worten malt sie mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft.
Ich sage nichts, während sie mich mustert, lasse meine Maske keine Sekunde lang fallen. Doch in meinem Mund hat sich Speichel angesammelt, und das Herz schlägt mir bis zum Hals. Meine Haut hat sich angespannt, und ich schwitze .
Sie sucht nach einer äußerlichen Reaktion, die ich ihr verweigere. Meine jahrelange Schauspielerfahrung kam mir noch nie so gelegen.
»Klingt verdächtig nach einer verschmähten Geliebten.«
Ihre kühlen grünen Augen huschen über meinen Körper, bevor sie meinen Blick erneut erwidern. Sie lächelt. Kein »Lassen wir uns nächste Woche zusammen die Nägel machen«-Lächeln, sondern eins, das mich wissen lässt, dass sie mich für so weltfremd hält wie Laura Ingalls Wilder.
»Haben sie sich Sie schon geteilt?«
»Wie bitte?«, fauche ich ungläubig und fahre zu ihr herum. Zwei Frauen huschen an uns vorbei, weil sie merken, dass dies kein Wiedersehen längst verloren geglaubter Freundinnen ist.
Ihr arrogantes Lächeln verrutscht ein wenig. Wenn ich mich nicht irre, sehe ich einen Tick Mitgefühl in ihrem hasserfüllten Blick. »Sie sind so naiv, dass Sie mir fast leidtun. Shaw Mercer und Noah Wilder sind als die berühmten Wunderzwillinge bekannt, oder sind Sie in dieses kleine Geheimnis noch nicht eingeweiht?«
Wut brennt in meinem Bauch, deren Rauch aufsteigt und sich verdichtet, bis er in bitteren Wellen meine Speiseröhre hinaufsteigt. Ich zwinge mich, trotz ihrer Aufstachelungsversuche cool und ungerührt zu bleiben, doch wie es in mir drin aussieht, ist eine ganz andere Geschichte.
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«
»Ausschweifung, meine Liebe.«
Ich weiß, dass ich vollkommen verwirrt aussehe, und in etwa fünf Sekunden werde ich mir wünschen, einfach mitgespielt zu haben oder weggegangen zu sein, denn das Nächste, was sie sagt, verschlägt mir den Atem.
Sie seufzt und verdreht die Augen. »Flotte Dreier. Orgien. Darin sind sie sehr geübt . Es ist ihre Spezialität. Sie machen das schon seit der Uni, habe ich gehört. Sehen Sie« – sie verschränkt die Arme und tippt mit ihren hexenartigen Nägeln in einem wirkungsvollen, irritierenden Rhythmus auf ihre Bizepse –, »Shaw lockt einen an. Überzeugt einen, dass es dein Traum ist, der wahr wird. Welche Frau hat nicht schon Fantasien von zwei fantastischen Männern gehabt, die sie gleichzeitig verwöhnen? Und das tun Shaw und Noah nicht nur, sondern sie tun es sehr, sehr gut. Doch der Haken ist … wenn Noah Wilder den Fuß ins Schlafzimmer setzt, bedeutet das für Sie den Todesstoß. Wenn er in Sie hineingleitet, während Shaw zusieht und ihn anfeuert, sind Sie schon eine verblassende Erinnerung.«
Meine Lunge zieht sich zusammen. Ich glaube nicht, dass ich blinzele. Ich bin mir sicher, dass ich auch nicht atme.
Stimmt das, was sie sagt? Angesichts ihrer geröteten Haut und ihrer beschleunigten Atmung würde ich Ja sagen. Zudem war sie sehr … anschaulich .
Himmel Herrgott. Morgen steige ich mit Shaw und Noah in ein Privatflugzeug. Shaw hat gesagt, sie hätten kurz geschäftlich in North Carolina zu tun und dass er nicht einmal einen Tag von mir getrennt sein will. Er sagte, wir würden uns ein Hotelzimmer nehmen, und er würde Dinge mit mir anstellen, von denen ich mir nie vorgestellt hätte, dass ich sie mir wünsche.
Meinte er etwa das damit? Einen Dreier mit Noah? War das alles nur ein Spiel? Ist er verärgert wegen neulich Abend? Noah ist die Fantasie einer jeden Frau, aber nicht meine. Ich weiß, ich habe eine Menge Mauern um mich herum, und wenn Shaw eine niederreißt, ziehe ich eine neue hoch. Ich weiß, dass ich ihm noch nicht einmal von meinem schmerzlichsten Verlust erzählt habe: von meiner Schwester. Aber wird er auf diese Art mit uns Schluss machen?
Übelkeit wühlt all die Zweifel und Ängste auf, von denen ich glaubte, sie begraben zu haben. Mir zittern die Knie unter meinem Rock, und mir schnürt sich die Kehle zu. Für einen Moment besiegt Schwäche Stärke, und ich stütze mich mit zwei Fingerspitzen an der Armlehne eines Stuhls ab, der in der Nähe steht. Wenn ich daran denke, dass ich kurz davor war, mich ihm in die Arme zu werfen und ihm zu sagen, dass ich mich in ihn verliebt habe und mir ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen kann!
Das Lächeln, das sie mir jetzt schenkt, ist aufrichtig traurig und kummervoll.
»Unter uns Frauen, steigen Sie aus, bevor es zu spät ist. Suchen Sie sich einen Mann, der in der Lage ist, jemand anderen zu lieben als sich selbst, seine Familie und seinen verdorbenen Komplizen. Shaw Mercer geht keine feste Bindung ein. Er ist wie der Wind. Er lässt sich nicht einfangen.«
Er lässt sich nicht einfangen . Das dachte ich schon die ganze Zeit.
Mein Herz fühlt sich schwerfällig und schwach an, während eine unglaubliche Traurigkeit mich hinunterzuziehen versucht. Einige Augenblicke taxieren wir uns schweigend. Sie wartet auf eine Reaktion, Widerspruch, eine naive Zurückweisung vielleicht. Aber welchen Sinn hätte das? Ich glaube, dass jedes Wort, das sie sagt, wahr ist, und das bringt mich um.
Nachdem ich mir einen Moment Zeit genommen habe, um wieder zu Atem zu kommen, tue ich das Einzige, was ich kann. Worin ich glänze. Ich schlüpfe wieder in Summers Haut und werde zu einer anderen. Es ist die einzige Möglichkeit, hier herauszukommen, ohne zusammenzubrechen. Oder dem Miststück die Augen auszukratzen. »Nun, dann ist es wahrscheinlich gut, dass ich nach einem tollen Fick suche und nicht nach der ewigen Liebe. Ewige Liebe ist was für Trottel und für Liebesromane. «
Ich würdige sie keines Blickes mehr, als ich auf dem Absatz kehrtmache und fliehe. Mit unsicheren Schritten zurück zu Shaw, obwohl ich spüre, wie ihre Augen Löcher in meinen Rücken bohren. Ich halte den Kopf hoch und begrabe meinen Kummer in einem Abgrund, der bodenlos zu sein scheint. Das falsche Lächeln ist wieder an seinem Platz, als ich mich in Shaws starke Arme schmiege und mich doppelt anstrenge, um nicht vor Verzweiflung am ganzen Körper zu zittern.
Normalerweise bin ich eine Meisterin im Verstellen. Das ist für mich so normal geworden, wie zu atmen. Doch diesmal, als Shaw mir leise »Alles in Ordnung?« ins Ohr flüstert, frage ich mich aufrichtig, wie ich es schaffen soll, die schwerste Rolle meines Lebens zu spielen.
Wie kann ich so tun, als sei nichts geschehen, während ich das Gefühl habe, dass sich direkt unter meinen Füßen ein Abgrund aufgetan hat?