18. KAPITEL
Willow
»Hallo, Mama.« Ich küsse sie auf die Wange und mustere sie aufmerksam. Da Millie eine Menge Besorgungen zu erledigen hat, sind meine Mutter und ich heute Nachmittag allein. Zeiten, die ich gleichermaßen genieße und fürchte. »Du siehst heute gut aus.«
»Hallo«, antwortet meine Mutter zögernd und starrt mich an wie eine Fremde.
Es macht mich traurig. Ich vermisse sie so sehr. Mir fehlt, wie sie mich früher in den Schlaf gesungen und verzweifelt versucht hat, mir das Nähen beizubringen. Mir fehlt, mich mit ihr über Gott und die Welt unterhalten zu können. Und nach den letzten Tagen mit Shaw brauche ich meine Mutter mehr denn je. Ich brauche einen neutralen Zuhörer. Jemanden, der sich für mich freut. Jemanden, der mir einfach zuhört, wozu Sierra nicht in der Lage ist. Und meine Freundin Jo würde mich eher ausschimpfen, als gemeinsam mit mir ein Brautjungfernkleid auszusuchen, wenn ich ihr erzählte, dass ich mich in einen Kunden verliebt habe.
Ich tätschele ihr den Arm, der sich kühl anfühlt, nehme das Wasserglas, das neben ihrem Fernsehsessel steht, und gehe damit in die Küche, um es nachzufüllen.
»Wie geht es dir?«, frage ich und stelle das Glas auf den Tisch neben ihr, bevor ich mich aufs Sofa setze .
»Gut, glaube ich.« Sie hält inne und überlegt. »Ja, mir geht es gut.«
»Dir scheint kalt zu sein. Willst du eine Decke?«
Ihre schütteren Augenbrauen ziehen sich zusammen, während sie nachdenkt. »Ja, ich denke, das wäre schön.«
Ich springe auf, hole eine aus dem Weidenkorb, der an den Erkerfenstern steht, und lege sie ihr um die Beine. »Gut so?«
Sie nickt. Ich glaube nicht, dass sie sich sicher ist, bin aber froh, dass sie mitspielt.
»Soll ich dir etwas zu essen holen?«
»Nein, danke«, antwortet sie höflich.
»Möchtest du Jeopardy! gucken?«
»Oh ja. Das wäre schön.« Ich lächele über die Freude in ihrer Stimme. Das Einzige, was sich in all dieser Zeit nicht verändert hat, ist, wie sehr sie Jeopardy! liebt. Ich schnappe mir die Fernbedienung, schalte den Fernseher an und mache es mir für einen Marathon des schwersten Ratespiels der Welt gemütlich. Sie überrascht mich sogar ein paarmal, indem sie die richtigen Antworten gibt.
Alzheimer ist eine verwirrende Krankheit. Nutzlose Fakten können in Sekundenschnelle abgerufen werden, doch die Gesichter der eigenen Angehörigen sagen einem nichts.
Nach etwa einer Stunde verschlägt es mir fast die Sprache, als sie mich ansieht und völlig unerwartet sagt: »Ich vermisse deinen Vater.«
Ich bekomme feuchte Augen. Sie auch. Ich weiß nicht, ob sie denkt, mit mir zu reden oder mit Violet, doch wenn sie einen klaren Moment hat, ziehe ich vor zu glauben, dass sie mich meint. »Ich auch.« Das fiel mir schwer.
»Was ist passiert?«
»Mit Daddy?«, frage ich mit zittriger Stimme. So traurig es ist, meist bin ich froh, dass sie sich nicht an den Verlust ihres Ehemannes, mit dem sie zweiunddreißig Jahre verheiratet war, erinnert, denn wenn es ihr einfällt, merke ich ihr an, dass die Wunde noch genauso frisch ist wie an jenem Tag, als es geschah. Auch wenn sich meine Schritte manchmal anfühlen, als würde ich durch Matsch waten, kann ich wenigstens versuchen, vorwärtszugehen. Sie hingegen steckt in einer makabren Zeitschleife fest, in der sie ständig Wasser tritt.
Mit vor Verwirrung zerfurchter Stirn nickt sie langsam. »Ich … Ich weiß, dass er tot ist, aber …«
»Ist schon gut.« Ich nehme ihre Hand, damit sie nicht zu aufgewühlt wird. »Er …« Himmel, ist das schwer. Ich könnte schwören, wenn ich jetzt zur Treppe sehen würde, käme er polternd die Stufen herunter, die Haare zerzaust von stundenlangen sorgfältigen Recherchearbeiten. »Er wurde in einen Autounfall verwickelt«, lüge ich.
Sie wird nie die Wahrheit darüber erfahren, was in jener Nacht geschehen ist. Es würde sie umbringen, so wie es mich umbringt.
Sie presst die Lippen zusammen und senkt den Blick auf ihren Schoß. Sie schweigt so lange, dass ich mir sicher bin, dass sie mir wieder entglitten ist. Doch dann stellt sie dieselbe Frage, die sie immer stellt, wenn wir in der Gegenwartsform über ihn sprechen. »Wurde noch jemand verletzt?«
Sie will Details wissen. Ich habe keine.
Sie will Antworten. Auch die habe ich nicht.
Das allgegenwärtige Schuldgefühl, das mich nie verlässt, zeigt seine hässliche Fratze. Müssen wir beide ohne meinen Vater leben, weil ich zu sehr in meinem eigenen Leben gefangen war und mir etwas entgangen ist? Ich kann die Antwort nicht ertragen.
»Nein. Sonst wurde niemand verletzt. «
Ihre Lippe zittert. »Ich bekomme manchmal Angst. Ich vergesse Sachen. Warum kann ich mich nicht erinnern? Ich verstehe nicht, was mit mir geschieht.«
Ich verstehe es auch nicht .
Ich rutsche vom Sofa und knie mich vor sie, während mir das Herz bis zum Hals schlägt. Ich nehme ihre Hände in meine und gebe ihr all meine Kraft. »Ich weiß, aber ich bin hier. Ich werde immer für dich da sein, Mama. Ich verspreche es. Ich hab dich lieb.« Ich werde dich nie verlassen wie Daddy .
Sie lächelt mit zitternden Lippen. Sie streichelt meine Wange und kneift mich dort, wo sie am vollsten ist, wie sie es immer tat, als ich noch klein war. Dann blinzelt sie, lässt die Hand sinken, und ich sehe hilflos zu, wie unsere kostbaren gemeinsamen Augenblicke wieder schwinden. Sie sieht mich ausdruckslos an und richtet ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Fernseher. Ich gehe ins Bad und nehme mir ein paar Minuten, um mich zu berappeln, bevor ich den restlichen Nachmittag exzessiv Jeopardy! schaue, während sie ein Nickerchen macht.
Später am Abend bin ich bei mir zu Hause und koche das Abendessen, als Sierra erscheint. Der Essensduft hat sie aus ihrer Höhle gelockt. Ich schwöre, wenn ich nicht wäre, würde sie verhungern. Ich weiß nicht, wie sie die kurze Zeit überlebt hat, in der ich mit Reid zusammenlebte.
»Wie geht’s dem Hot Toddy?«, stichelt sie. Sie nimmt sich einen Stapel Waffeln und lässt sie auf einen der Teller fallen, die ich schon aufgedeckt habe. Du magst kein Frühstück zum Abendessen? Na klar .
Es ist fast eine Woche her, seit ich meine Mitbewohnerin das letzte Mal gesehen habe. Ich habe mehr und mehr Zeit bei Shaw verbracht, der heute Abend jedoch seinen Dad besucht. Er bat mich, in seinem Bett auf ihn zu warten, und auch wenn es total verführerisch war, sehnte ich mich aus irgendeinem Grund nach der Gemütlichkeit meines eigenen Zuhauses. Und nach meiner Freundin.
»Dem geht’s gut.« Ich reiche ihr den Sirup, den sie sich großzügig darüber gießt, und warte mit angehaltenem Atem. Sierra ist keine große Zeitungsleserin, und ich werde den Artikel in der 7-Day nicht ansprechen, wenn sie es nicht tut. Ich versuche immer noch, das Bild vor meinem inneren Auge loszuwerden. Das Letzte, was ich tun will, ist, darüber zu reden.
»Wirklich?« Unsere Blicke treffen sich. Sie fordert mich heraus.
Verdammt, sie weiß es.
»Wirklich.« Ich halte die Klappe. Versuche cool zu bleiben.
»Hmmm.« Ich warte, während sie ihre klebrigen Finger ableckt. Die unverfrorene Sierra. »Und … wie war euer Ausflug?«
Ich beobachte sie dabei, wie sie ein perfektes Dreieck in ihre Waffeln schneidet und die Stücke mit ihrer Gabel aufspießt. Sie zieht sie durch den Sirup, der sich auf ihrem Teller verteilt, bevor sie die Gabel an ihren Mund führt und mir wieder in die Augen sieht.
Schauen wir mal: Ich hatte einen hedonistischen Traum von einem Dreier mit Noah und Shaw. Später gab es Liebeserklärungen (ohne Noah), die Veröffentlichung belastender Fotos (mit Noah) und eine lebensverändernde Vereinigung an einem Badezimmerwaschtisch, wo Shaw mir in aller Deutlichkeit sagte, dass es keinen Noah geben würde. Deshalb ja … es war merkwürdig, aufregend und niederschmetternd, alles in einer Zeitspanne von vierundzwanzig Stunden.
»Äh … der war gut.«
Sie mustert mich, während sie den Riesenbissen fertig kaut. »Gut? «
»Ja. Gut.« Ich zucke nonchalant mit den Schultern. Der Waffelberg vor mir reicht aus, um eine ganze Armee zu verpflegen. Ich schalte das Waffeleisen aus. Ich hab’s wohl etwas übertrieben.
»Das ist viel ›gut‹«, sagt sie ungerührt.
Lachend stelle ich die Riesenschüssel, die immer noch voller Teig ist, in die Spüle und drehe das Wasser an. »Ja.«
»Hm.«
Es ist noch nicht vorbei. Noch lange nicht. Ich gebe ihr höchstens fünf Sekunden.
Fünf.
Vier.
Drei.
Zw –
»Dann macht dir das Foto, auf dem dein Lustknabe und sein nuttiger Freund die Blondine vögeln, also nichts aus?«
»Himmel Herrgott, Sierra«, schimpfe ich sie. Diese spitze Bemerkung schmerzt und verwundet mich tief.
»Was denn?« Sie zuckt mit den Achseln. Sie kann manchmal schwer von Begriff sein.
»Was denn? Das war ein bisschen hart, findest du nicht?«
»Weißt du, heute Morgen habe ich mir gesagt, dass ich ein neues Kapitel aufschlage. Dass ich mal diesen ›Filter‹ testen will, von dem alle glauben, dass er die Welt besser macht, weil man – Gott bewahre – ja die Gefühle anderer verletzen könnte, indem man sagt, was man wirklich denkt, auch wenn es die Wahrheit ist.«
»Tja, dann musst du dir eben noch ein bisschen mehr Mühe geben.«
Sie presst ihre Schmolllippen zusammen, die auch ohne Lippenstift die Farbe reifer Erdbeeren haben. Sie steht auf und kippt ihre nur halb aufgegessenen Waffeln in den Müll. Dann stellt sie ihren Teller in die Spülmaschine. »Geh doch zu deinem heißen Kaffee und dem Flittchen auf dem Foto.«
»Stopp«, sage ich bestimmt, als sie Luft holt. »Es ist nicht so, wie du denkst, Sierra.«
»Nicht, wie ich denke? Er war mit einer anderen Frau zusammen, während er angeblich dein Freund war.«
Aber das war er nicht.
Ich habe mich vorhin dazu gezwungen, den Artikel zu lesen, während meine Mutter ein Nickerchen machte. Er deutete im Wesentlichen an, dass Shaw dabei ertappt worden war, wie er seine »Freundin« mit einer Kellnerin aus einem exklusiven Klub betrog. Es stimmt, der Zeitstempel auf dem Foto sagt, dass es nur wenige Tage nach dem Auffahrunfall war, aber es war, bevor wir offiziell »zusammen waren«. Nur dass die Reporterin es nicht so darstellte, weil wir es ihr während unseres Interviews letzten Monat nicht so erzählt hatten.
Im Grunde haben wir uns mit den Lügen, die wir gesponnen haben, selbst ein Bein gestellt, und auch wenn ich über die ganze Situation nicht glücklich bin, vermute ich, dass diese Reporterin auf verdrehte Art glaubte, mir einen Gefallen zu tun, da sie dachte, Shaw sei fremdgegangen.
»So war es nicht, Sierra. Das ist alles gelogen.«
»Sagt wer? Er?«
Ärger kriecht an mir hoch wie Wanzen. »Sage ich«, schieße ich gereizt zurück. »Das war, bevor wir zusammenkamen.«
Sie schnaubt verächtlich. »Er bezahlt dich dafür, dass du seine Freundin bist, Löw.«
Aber jetzt ist alles anders , würde ich am liebsten schreien. Wir lieben uns. Ich bin eine leere Seite, die er mit unserem Leben beschriften will. Doch nichts davon wird für Sierra eine Rolle spielen. Sie sieht nur, was sie will, und ist verdammt stur .
»Während wir zusammen waren, ist nichts mit dieser Frau passiert.«
Wir stehen uns gegenüber, die abgenutzte Küchentheke zwischen uns. Sie verschränkt die Arme vor ihrer üppigen Brust; ihre Schutzhaltung ist fast schon komisch. Ihre unfehlbare Liebe zu mir leuchtet so hell wie ein Diamant. Ihre Herangehensweise ist brutal und direkt, doch ihre Freundschaft ist grenzenlos.
»Aber ich wette, es ist mit vielen anderen passiert. Aus diesem Grund musste er dich überhaupt engagieren. Habe ich recht?«
Volltreffer .
Mir ist schlecht. »Es ist jetzt anders.«
»Wirklich?«, hakt sie mit schief gelegtem Kopf kritisch nach.
»Ja.« Ich nehme die übrig gebliebenen Waffeln und tue sie in eine Ziplock-Tüte. Mir ist der Appetit vergangen.
»Willow.« Sie seufzt. »Ich will nicht die Schwarzseherin vom Dienst sein. Ich mache mir nur Sorgen um dich. Ich mache mir Sorgen, dass er dir wehtun wird.«
Schmollend lege ich die Tüte hin. Mein Herz hämmert. Ich bin wütend auf sie und über den Gesprächsverlauf. Ihre Sorge ist berechtigt, doch je mehr ich darüber nachdenke, umso überzeugter bin ich, dass sie auf dem falschen Dampfer ist.
Ich bin es, die Shaw wehtun könnte, und es ist nicht so, als würde ich ihn nicht lieben. Das tue ich von ganzem Herzen. Aber ich enthalte ihm immer noch einen entscheidenden Teil von mir vor. Ich habe gesagt, er sei drin, aber … ist er das? Wirklich? Halte ich bestimmte Teile von mir zurück, weil ich mich unbewusst auf das Schlimmste vorbereite, und wenn das passiert, hätte ich ihm zumindest nicht alles gegeben, was mich ausmacht? Habe ich Shaw deshalb nichts von Violet oder von meiner Verlobung erzählt? Habe ich mich konditioniert, emotional so verschlossen zu sein, dass ich zu einer richtigen Beziehung vollkommen unfähig bin und es nicht einmal merke?
Unser Verhältnis ist unkonventionell und megakompliziert, doch trotz seiner früheren Frauengeschichten oder der Bäumchen-wechsel-dich-Spielchen mit Noah oder der Tatsache, dass er vor mir noch nie eine Frau geliebt hat, glaube ich nicht, dass er es sein wird, der mir wehtut. Ich glaube, dass ich diejenige sein werde, die ihm wehtun wird.
Alle Streitlust fällt von mir ab, und ich setze mich auf einen Hocker. Sie rutscht auf den neben mir, und ich starre schweigend geradeaus, während sie mich fragend ansieht.
»Und wenn es andersherum ist, Ser? Wenn ich ihm genauso wehtue wie Reid?«, frage ich und drehe den Kopf zu ihr.
»Dann ist es also zu spät, hm?«
Ich lache, mehr oder weniger. »Der Zug ist abgefahren.« Ich öffne den Verschluss der Plastiktüte und verschließe ihn wieder. »Wenn ich ihn nun nicht so lieben kann, wie er es verdient?« Da. Ich habe es gesagt. Meine tiefste, dunkelste, größte Furcht ausgesprochen.
»Du hast ein großes Herz, Löw. Das halte ich nicht für das Problem.«
»Nein. Ich habe ein vorsichtiges Herz, Sierra. Das ist das Problem.«
Sie wackelt mit dem Kopf. Ich glaube, sie merkt es nicht einmal. »Himmel, Mädchen. Du bist der großherzigste Mensch, den ich kenne, und ich will nicht dabei zusehen müssen, wie du wieder in diesem Tal der Verzweiflung versinkst. Du bist endlich glücklich und zufrieden.«
Anscheinend bin ich eine noch bessere Schauspielerin, als mir klar war. Ich habe den einzigen Menschen, der mich seit meinem achten Lebensjahr kennt, getäuscht. Den einzigen Menschen, der mich besser kennt als jeder andere auf der Welt .
Ich bin nicht glücklich.
Ich bin nicht zufrieden.
Ich bin einsam. Und zugeknöpft. Und was am allerschlimmsten ist, ich bin ein riesiger Poser, der alle eingewickelt hat. Außer Shaw. Er ist keine Sekunde auf mein Theater reingefallen. Er hat mich nach unserem ersten Date herausgefordert, als ich behauptete, ich sei mein ganzes Leben auch ohne ihn ziemlich gut zurechtgekommen. Er hat meine Lügen immer durchschaut.
»Aber genau das ist es ja, Sierra. Ich bin erst aus diesem Tal herausgekrochen, als Shaw mir seine Hand reichte. Und jetzt, wo ich sie habe, bin ich mir nicht sicher, ob ich weiß, wie ich sie festhalten soll.«
Sie stößt einen langen stoischen Atemzug aus und sieht mich prüfend an. »Weißt du, was ich denke?«
Meine Mundwinkel heben sich. »Ich glaube, ich kann dich nicht davon abhalten, es mir zu sagen.«
Sie stößt ein bellendes Lachen aus. »Du kennst mich so gut. Es ist eigentlich ganz einfach. Wenn du ihn liebst und glaubst, dass die Sache eine reale Chance hat, halte diese Hand fest, als ob dein Leben davon abhinge. Lass sie einfach nicht los. Egal was passiert.«
Wenn das nur so einfach wäre.
Vielleicht ist es das. Was weiß ich schon?
»Ich habe ihm noch nichts von Violet erzählt. Verdammt, ich habe ihm nicht einmal erzählt, wie ernst es zwischen mir und Reid war. Jedes Mal, wenn ich es tun will, bleiben mir die Worte im Hals stecken.«
Sierra legt ihre Hand auf meine und drückt sie. »Es ist ein schwieriger Prozess, sich jemandem zu öffnen, Löw, selbst wenn man es will.«
Allerdings .
»Es ist furchteinflößend«, stimme ich zu.
»Es muss ja nicht gleich alles auf einmal sein, Süße. Wenn er der Richtige ist, wird er so lange warten, wie du es brauchst. Eins nach dem anderen.«
»Es ist unangenehm.«
»Das ist Neues auszuprobieren meist«, sagt sie, während es an der Tür klingelt.
Wir wechseln wissende Blicke. Ich habe Magenflattern. Der einzige Mensch, der so spät bei uns klingeln würde, wäre – »Dein Freund ist hier«, flötet sie sarkastisch.
Sie drückt sich hoch und umarmt mich rasch. »Wenn du glücklich bist, bin ich es auch. Ehrlich. Ich weiß, dass ich eine Glucke und eine Zynikerin bin, aber –«
»Ich hab’s kapiert. Wirklich«, unterbreche ich sie. »Wenn jemand versucht, dir blöd zu kommen, bin ich genauso. Ich weiß das zu schätzen, aber ich möchte, dass du nicht so streng mit ihm bist.« Wieder klingelt es, diesmal zweimal. »Ich liebe ihn, Sierra.«
Ihre Antwort ist schleppend und resigniert und vielleicht ein bisschen traurig. »Ich weiß.« Sie gibt mir einen Kuss auf die Wange und steigt immer zwei Stufen auf einmal die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Ich bleibe allein zurück, um unseren ungeduldigen Besucher hereinzulassen.
Ich durchquere mit wenigen Schritten unser kleines Wohnzimmer. Meine Haare sehen schlimm aus, und ich laufe in Freizeitkleidung herum. Ich habe heute Abend nicht mit Shaw gerechnet, aber mir ist egal, wie ich aussehe, und ihm sicherlich auch.
Mit jedem Schritt verwandelt sich mein Unbehagen in Aufregung. Als ich den Türknauf drehe, strahle ich übers ganze Gesicht, doch mein Lächeln erstirbt, als mein Blick auf ihn fällt .
»Was ist los?«, frage ich und öffne die Tür weiter, damit er hereinkommen kann.
Doch er tut es nicht. Er steht dort total aufgewühlt, sein Gesicht eine Mischung aus Schock und … Schmerz? Nein. Schmerz ist es nicht. Das ist zu schwach. Er ist am Boden zerstört. Wie neulich Abend.
»Shaw?« Ich greife nach ihm. Angst drückt auf meine Brust, als er zurückweicht und die drei Worte sagt, die keine Frau von dem Mann hören will, den sie liebt.
»Wir müssen reden.«