20. KAPITEL
Shaw
»Ich bin überrascht, dich hier zu sehen.«
Als ich aufblicke, steht Noah in der Tür. Ich bin dabei, die letzten Seiten von Charles Blackwells Dokumenten durchzusehen, aber ich tue es auf meinem gemütlichen Sofa statt am Schreibtisch. Ich könnte es heute nicht ertragen, der Rothaarigen dabei zuzusehen, wie sie von hinten gevögelt wird.
Ich werfe die Papiere und den Stift in meiner Hand auf den niedrigen Tisch vor mir.
»Ja, ich, äh« – ich lege die Hand in meinen Nacken und reibe mir die verspannten Muskeln –, »ich konnte es nicht.«
Noah geht zu meiner Glaswand und steht eine Weile schweigend da. Die Richtung seines Blickes verrät mir, wem seine Aufmerksamkeit gilt. Mit einem tiefen Seufzer kommt er zu mir und lässt sich neben mir aufs Sofa plumpsen. Er schwingt die Beine mit seinen eleganten karamellfarbenen Mantellassi-Slippern auf den Tisch und legt einen Fuß über den anderen. Der dicke Absatz schlägt dumpf auf dem Holz auf. »Kann ich verstehen.«
Ich habe mich mit Annabelle zum Mittagessen getroffen. Eigentlich hatte ich uns etwas zu essen in mein Büro liefern lassen, da ich sie an einem relativ sicheren und neutralen Ort über meine Erkenntnisse informieren wollte. Wenn sie ausgerastet wäre, wäre Noah am anderen Ende des Ganges in
Rufweite gewesen, um mir dabei zu helfen, sie zu bändigen. Wenn, nicht falls.
Doch als sie hereinschwebte, sah sie so verdammt glücklich aus, als wäre sie im siebten Himmel und frei von den Dämonen, die sie quälen, wenn auch nur für eine Weile. Und ich brachte es einfach nicht über mich. Ich konnte nicht derjenige sein, der sie schnurstracks in eine Grube aus Selbsthass treibt. Wie kann ich das jemals tun?
»Sie hat mich gefragt, ob ich irgendwas herausgefunden hätte. Ich habe sie angelogen. Ich habe ihr gesagt, es sei alles ein großes Missverständnis.«
Sie hatte keine Ahnung, dass wir uns mit Lia Melbourne treffen wollten. Ich wollte nicht, dass sie sich wegen etwas sorgt, das sich letztlich als nichtig herausstellen würde. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Noah. Du weißt so gut wie ich, dass wir Annabelle verlieren werden, wenn sie erfährt, was geschehen ist.«
Er flucht leise. »Das können wir uns auch noch nach der Wahl überlegen.«
»Genau damit rechnet Mergen. Ich zögere nur das Unvermeidliche hinaus.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht wird er dich nie dazu zwingen, Farbe zu bekennen. Aber es würde uns Zeit geben, uns eine Strategie zu überlegen.«
»Er blufft nicht. Er wartet in aller Ruhe ab. Bis diese kleine Bombe den größten Schaden anrichtet.« Das würde ich an seiner Stelle auch tun.
Ich verschränke die Arme, lege den Kopf zurück an die Couchlehne und sehe hinauf an die hohe Decke. Mir schwirrt der Kopf, während ich verzweifelt nach einer Lösung suche. So geht das schon seit Tagen. Mir fällt absolut nichts ein. Absolut. Nichts.
Selbst wenn ich Lia Melbourne eine Lügnerin nennen wollte,
könnte ich es nicht. Ich glaube, dass sie die Wahrheit gesagt hat. Selbst eine preisgekrönte Schauspielerin könnte diese Art von Reue, die sie auffrisst, nicht faken.
Sie kannte den Namen Reid Mergen nicht und wusste nicht, wie er es hätte herausfinden sollen, doch zum jetzigen Zeitpunkt spielt sowieso nichts davon eine Rolle. Fakten sind Fakten.
Laut Lia war Annabelle hysterisch und auf der Schultz Bridge hinten aus dem Wagen gesprungen – während der Fahrt. Bis sie angehalten hatten, war sie schon auf den Vorsprung geklettert und dabei zu verkünden, dass ihr Leben nicht lebenswert sei und dass ohne sie alle besser dran wären.
Eines der Mädchen hatte ohnmächtig auf dem Rücksitz gelegen und deshalb nichts mitbekommen, aber Lia und eine andere junge Frau hatten versucht, beruhigend auf Annabelle einzureden, als Rettung in Form eines barmherzigen Samariters kam.
Charles Blackwell.
Charles Blackwell hat sein Leben nur verloren, weil er meine kleine Schwester rettete. Und auch wenn ich Annabelle nicht vorwerfe, dass sie sich nicht erinnert, so hat sich auch keins der anderen Mädchen gemeldet, um der Familie des Opfers unfassbaren Schmerz zu ersparen. Das macht mich krank.
»Außerdem … glaube ich nicht, dass ich weiterleben könnte, wenn ich es Willow nicht sagte.« Ich setze mich auf, beuge mich vor und stütze mich mit den Ellbogen auf meine Schenkel. »Der Gedanke, dass ihr Vater Selbstmord begangen hat, macht sie seit mehr als vier Jahren fertig. Sie hat die Wahrheit verdient.« Jedes hässliche Detail.
Mir ist schlecht. Kotzübel.
Noah nimmt die gleiche Position ein wie ich. »Auch wenn das bedeutet, sie zu verlieren?
«
Ich kann die Säure, die in meiner Kehle aufsteigt, nicht schnell genug wieder herunterschlucken. Sie ätzt und schmeckt nach falschen Entscheidungen, die ich gern treffen würde, aber nicht kann.
Dass Mergen das gegen mich in der Hand hat, ist unzumutbar, aber ich will verdammt sein, wenn ich eine Seite aus diesem Buch reißen und sie Willow vorenthalten würde, ungeachtet der Folgen. Dann wäre ich nicht besser als er.
Ich kann nur nicken.
»Weißt du, was paradox ist?«, frage ich fast geistesabwesend. »Annabelle ist heute aufgrund von Charles Blackwells Selbstlosigkeit noch bei uns.« Ich sehe ihn an. »Und Willow leidet aufgrund von Annabelles Selbstsucht ohne ihren Vater. Es ist so beschissen.«
»Sie war verloren, Shaw. Ich weiß, dass es nach allem, was passiert ist, schwer zu verstehen ist, aber du darfst nicht vergessen, wie schlecht es Bluebelle damals ging. Sie war die Selbstzerstörung in Person.«
»Ich weiß.« Ich reibe mir mit der Hand über das Gesicht.
»Es war ein schlimmer Unfall, mehr nicht.« Er seufzt. »Es muss irgendeinen Ausweg geben. Es gibt immer
einen Weg. Wir müssen ihn nur finden.«
Es gibt keinen Ausweg. Ich weiß seine Freundschaft und seinen Optimismus zu schätzen, aber wir sind allesamt total im Arsch.
»Ich habe vorhin mit Bull gesprochen«, verkündet Noah leise.
Ich versteife mich und fahre zu ihm herum. »Du hast was?
«
»Beruhig dich. Wir müssen wissen, womit wir es juristisch gesehen zu tun haben.«
Bevor ich noch etwas Unüberlegtes tue, ihm zum Beispiel seine Nase breche, stemme ich mich vom Sofa hoch. Ich
entferne mich zehn Schritte und tue lange, langsame Atemzüge, bis der Drang, ihn zu erwürgen, sich wieder legt. Größtenteils. »Hast du ihm gesagt –«
»Er ist nicht blöd«, fällt er mir reuelos ins Wort. Er lehnt sich zurück und legt seine verschränkten Hände hinter seinen Kopf. »Ich habe sie nicht namentlich erwähnt, aber ohne ihm eine kurze Zusammenfassung der Fakten zu geben, konnte ich schließlich keine Antwort von ihm bekommen.«
»Verdammte Scheiße, Noah.«
Eine Furcht, entsprechend der, Willow zu verlieren, ist die, was mit Annabelle geschieht, wenn das alles herauskommt, abgesehen davon, dass sie einen Rückfall erleiden könnte. Ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass ein Zeuge eines Unfalltods sich bei der Polizei melden muss? Wird der Bezirksstaatsanwalt Anklage gegen sie erheben, obwohl sie sich an einen Großteil jener Nacht nicht mehr erinnert? Wird Willow
wollen, dass Anklage gegen meine Schwester und ihre Freundinnen erhoben wird? Und wer könnte es ihr verdenken?
Ich schiebe meine Hände in meine Taschen und stolziere zur Fensterfront, da mein Drang, Blut zu vergießen, jetzt noch größer ist als vor wenigen Sekunden. Die Sonne steht tief am Himmel, eine Pracht aus leuchtendem Orange. Es ist jetzt Mitte Oktober. Die Wahl findet schon in drei Wochen statt.
In drei Wochen.
Ist das die Zeitspanne, die mir noch mit Willow bleibt? Mehr? Weniger?
Wann wird mein Leben kalt und leer? Nicht mehr lebenswert?
Es hätte heute sein sollen, aber ich kann mich genauso wenig zwingen, es Willow zu sagen wie Annabelle. Das weiter hinauszuschieben wird noch mein Verderben sein
.
Ich drücke mit den Fingern gegen meinen Nasenrücken und kneife die Augen zu. Ein Migräneanfall ist im Anmarsch, und ich habe seit Tagen nicht mehr ruhig durchatmen können, außer wenn Willow in meinen Armen lag.
»Was hat er gesagt?«, frage ich schließlich. Meine Stimme klingt kratzig, als würden Glasscherben aneinander reiben. Das sind Antworten, die wir brauchen, und ich habe versucht, mich für das Schlimmste zu wappnen. Ich war noch nicht bereit zu erfahren, wie die Zukunft meiner Schwester aussehen wird. Wie meine aussieht, weiß ich schon.
»Tja, rein hypothetisch
« – ich höre, wie Noah aufsteht – »wenn das Opfer versucht hat, einen Selbstmord zu verhindern und daraufhin ein Unfall passiert ist, der das Leben des Opfers gefordert hat, dann könnten die Zeugen höchstens der Behinderung einer Untersuchung beschuldigt werden. Ein Unfall ist ein Unfall, sagt Bull. Unabhängig von früheren Vorkommnissen oder Vorstrafen.«
Meine Erleichterung ist so stark wie ein Blitzeinschlag, und von genauso kurzer Dauer.
Damit ist nur eine Sorge gebannt. Eine Hürde genommen. Der Rest scheint unüberwindlich.
Mein bester Freund stellt sich neben mich. Doch statt unsere liebste Mittwochnachmittagsvorstellung zu genießen, dreht er den Akteuren den Rücken zu, lehnt sich ans Fensterbrett und sieht mich an. »Es ist ein Klaps auf die Hand, Merc. Strafanzeige wird höchstwahrscheinlich keine erstattet. Bull hat gesagt, wenn es sein Fall wäre, würde er es nicht einmal dem Assistenzstaatsanwalt melden.«
Ich hasse die Emotionslosigkeit seiner Worte, als würde er mit mir über die Handlung einer CSI-Folge sprechen, statt über Willows Vater und meine Schwester, die so abgefuckt war, dass sie sich das Leben nehmen wollte
.
Herr im Himmel. Wenn mein Vater schon das Foto in der Zeitung für eine Katastrophe gehalten hat, dann hat er keine Ahnung, was noch auf ihn zukommt.
Ich sehe Noah scharf an. »Ich bin sauer, weil du das gemacht hast, ohne mich vorher zu fragen, aber … Danke. Es ist eine Erleichterung zu wissen, dass sie wenigstens nicht ins Gefängnis muss.«
»Ja«, stimmt er zu. »Was willst du jetzt tun?«
»Ich weiß noch nicht. Aber gar nichts zu tun ist keine Option. Es ist nur … das Timing für meine Familie könnte nicht schlechter sein.«
»Ich weiß.«
»Wenn das an die Presse durchsickert, ist mein Vater erledigt. Harrington wird triumphieren und uns alle durch den Dreck ziehen.«
»Allerdings.«
Ich stelle mich neben ihn und lehne mich an die kühle Fensterscheibe. Wir schweigen eine Weile, bevor ich das einzige Gold-Nugget mit ihm teile, das ich während dieses ganzen Desasters gefunden habe. Es ist das Einzige, was mich zum Lächeln gebracht hat, seit ich Willow heute Morgen allein schlafend im Bett zurückgelassen habe.
»CJ hat sich seine Erfindung patentieren lassen.«
Noah sagt nichts. Aber als ich ihn ansehe, hat er dieses alberne Grinsen im Gesicht, und in dem Moment könnte ich nicht dankbarer sein, ihn zum Freund zu haben. Willow ist ihm wichtig, und auch wenn ich sie wahrscheinlich verlieren werde, weiß ich, dass ich darauf zählen kann, dass er sie für mich im Auge behält, damit ich diese ungesunde Obsession, die ich immer für sie haben werde, weiter nähren kann.
Er beäugt mich von der Seite. »Ihr Vermögen wird deins in den Schatten stellen«, sagt er mit einem breiten Grinsen
.
Stimmt. Wenn die Arzneimittelzulassungsbehörde ihre endgültige Zustimmung für die Herstellung von Zytin gibt, wird ihre Mutter, und infolgedessen auch Willow, so vermögend sein, dass es ihre Vorstellungskraft übersteigt. Zugegeben, es könnte noch bis zu einem Jahr dauern, doch die finanzielle Sicherheit, die ich ihr bieten wollte, war immer schon gegeben. Sie wusste es nur nicht.
Ich lache leise und fahre mir mit der Hand durch die Haare. »Absolut. Sie hat offensichtlich keine Ahnung.«
»Ich kann mir vorstellen, dass man so etwas leicht übersehen kann, wenn man nicht weiß, wonach man suchen soll.«
»Ich auch.«
»Sonst alles auf dem aufsteigenden Ast?«
Ich nicke. Allerdings habe ich noch eine andere Sache gefunden, die korrigiert werden muss, aber das ist etwas, das ich vorerst noch für mich behalten will. Dafür werde ich noch ein bisschen weiter graben müssen, und ich habe keine Ahnung, welche Schritte ich dafür noch unternehmen muss.
»Ich werde sie verlieren.« Meine Stimme ist belegt, angespannt.
»Hab mehr Vertrauen in sie, Merc. Hab mehr Vertrauen darauf, dass das Fundament, das ihr aufgebaut habt, diesem gottverdammten Erdbeben, das auf euch zukommt, standhalten wird. Denn wenn du es nicht tust, wie kann sie es dann?«
»Ich gebe mir Mühe.«
»Dann gib dir mehr Mühe. Es hat mich große Anstrengungen gekostet, euch beide zusammenzubringen.« Er drückt meine Schulter. »Es war ein unvorstellbarer, unbeabsichtigter, undenkbarer Unfall, aber ihr Vater hat eine Heldentat vollbracht, indem er deine Schwester gerettet hat. Ich glaube, wenn der Schock erst einmal nachlässt, wird sie es genauso sehen wie ich.
«
Er richtet sich auf und geht zur Tür. Mit der Hand an der Klinke wirft er noch einen Blick zu mir. »Sag mal, glaubst du, du kannst Sierra beschwatzen, am Samstagabend mit mir zu der Benefizveranstaltung deines Vaters zu gehen?«
Als ich meine Überraschung verdaut habe, fange ich an zu lachen. Richtig laut zu lachen. Ich lache, bis mir die Tränen kommen. Es fühlt sich gut an, meine angestauten Gefühle rauszulassen.
»Irgendein Insider-Witz, den ich nicht kenne?«
Noahs ernstes Gesicht lässt mich noch lauter lachen.
»Was soll das? Hat sie mich so
sehr gehasst? Hat sie was zu Willow gesagt?« Jetzt hat er die Arme verschränkt und blickt finster drein.
Ich brülle vor Lachen.
»Vergiss es.«
Er wirbelt herum, zeigt mir den Stinkefinger und stapft aus meinem Büro. Irgendwie fühle ich mich jetzt leichter. Stärker. Und ein bisschen optimistischer, dass ich vielleicht, nur vielleicht, das Chaos eindämmen kann, wenn es losbricht, weil ich weiß, dass ich es nicht allein bewältigen muss.
Noah hat recht. Es war ein unvorstellbarer, entsetzlicher Unfall. Aber es war ein Unfall. Ich hoffe nur, dass sowohl Annabelle als auch Willow es irgendwann so sehen werden und wir alle zusammen weiter vorwärts gehen können, mit einem Happy End für alle, die ich liebe.