21. KAPITEL
Willow
»Bist du dir auch sicher, dass alles okay ist?«, frage ich ihn wieder, als der Wagen mit Chauffeur langsam anhält. Er hat sich die ganze Woche über seltsam verhalten. Eigentlich schon seit zwei Wochen. Wir haben die letzten drei Abende bei ihm zu Hause verbracht, und in zwei von den drei Nächten wurde ich wach und sah ihn in dem tabakfarbenen Chesterfield-Sessel sitzen, von wo aus er mir beim Schlafen zusah.
Er hebt unsere verschränkten Hände an seine Lippen. Sie sind warm und weich, als sie meine Handfläche berühren. Es kribbelt. »Solange du bei mir bist, ist es das«, sagt er mit einer stillen Ehrfurcht zu mir, die mich ein bisschen leichter atmen lässt. Er zieht meinen Kopf zu sich, um einen Kuss auf meine rot geschminkten Lippen zu drücken.
»Du kriegst meinen ganzen Lippenstift ab«, ziehe ich ihn auf.
Er hebt knurrend mein Kinn an. »Die Farbe würde heute Abend super auf meinem Schwanz aussehen, findest du nicht?«
Ich werde sofort feucht. »Ich bin mir nicht so sicher, ob es dein Farbton ist.«
»Oh doch, meine Schöne. Glaub mir.« Ich lache, als mein Blick auf die hübsche große Wölbung in seiner eleganten grauen Anzughose fällt.
Ich wünsche mir nichts mehr, als nach Hause zu fahren, ins
Bett zu kriechen und ihn die ganze Nacht zu lieben, doch aufgrund eines lustvollen Quickies an der Wand, bevor wir aufbrachen, sind wir sowieso schon zu spät. »Dein Vater wartet bestimmt schon auf uns.«
»Bestimmt. Ich liebe dich, Willow Blackwell«, flüstert er, wobei seine Lippen meine streifen.
»Ich liebe dich mehr, Shaw Mercer«, versichere ich ihm.
»Das bezweifele ich, Goldlöckchen.«
Mit einem letzten langen Blick, der so viel sagt, mich jedoch gleichzeitig mit einem quälenden Gefühl zurücklässt, steigen wir aus dem Wagen. Er schlingt den Arm um meine Taille und zieht mich nah zu sich, während wir über den Gehsteig zum Four Seasons gehen, wo alles begonnen hat.
Es ist unwirklich. Einer der schlimmsten Abende meines Lebens hat sich als einer der besten erwiesen. Hätte ich Noah an jenem Abend nicht kennengelernt, wäre ich jetzt nicht mit Shaw zusammen.
Minuten später betreten wir den großen Festsaal, wo ich mein »Date« mit Paul Graber hatte. Ich erschauere. Ich hoffe, dass Shaw nie davon erfährt. Ich bin mir sicher, er würde mich gehörig zusammenstauchen, wenn er davon wüsste.
»Shaw!«
Sein Name wird in der Sekunde gerufen, in der wir den überfüllten Saal betreten. Etwa zehn Schritte von uns entfernt steht sein Vater zwischen der hocheleganten Adelle und Reid. Bei ihnen stehen ein paar gut gekleidete ältere Herren, von denen einer aussieht wie … »Ist das der Gouverneur?«, frage ich Shaw flüsternd.
»Höchstpersönlich.« Er strahlt. Er ist so unglaublich stolz auf seinen Vater, dass er von innen leuchtet.
Shaw verschränkt unsere Finger und geht kurzerhand um den Pulk Menschen herum, die anstehen, um Preston Mercer
die Hand zu schütteln, bis er an seiner Seite ist. Er tätschelt ihm zweimal den Rücken. »Hallo. Entschuldige die Verspätung, aber ich war in etwas Wichtigem vergraben.«
Er sagt das todernst, während er vorgibt, sich an der Nase zu kratzen, sieht mich jedoch schmunzelnd an. Ich spüre, wie mir die Röte von der Brust über den Hals ins Gesicht steigt, während ich darum kämpfe, mir ein Lächeln zu verkneifen. Er war vergraben, das stimmt. Drei Finger tief. Mit denselben, an denen er jetzt diskret riecht.
Allmächtiger Gott, dieser verdorbene Kerl.
»Alles in Ordnung, Liebes? Sie sind so rot im Gesicht«, flötet Adelles süße Stimme.
»Oh ja, alles gut.« Ich werfe Shaw, dem das nicht das Geringste ausmacht, einen warnenden Blick zu. Sein Schmunzeln hat sich jetzt in ein fettes Grinsen verwandelt. Mistkerl. »Es ist nur ein bisschen … warm hier drin.« Zur Bekräftigung zupfe ich am Ausschnitt meines Kleides.
»Das geht in engen Räumen vielen so«, stimmt sie leichthin zu. Ich höre, wie Shaw leise lacht, als erst seine Mutter, dann Preston mich umarmt. Nachdem ich nicht nur Gouverneur Malcolm Presley, sondern auch dem Vizegouverneur des Staates vorgestellt wurde, stelle ich mich brav neben Shaw, der wieder den Arm um mich legt, während er mühelos Smalltalk macht.
Ich spüre Reids Blick auf mir, der durch die dünne Haut meiner Wange brennt, weigere mich aber, mich umzudrehen. Ich habe ihn nicht einmal begrüßt. In der letzten Woche hat er fünf Mal versucht mich anzurufen. Seit der Artikel erschienen ist. Er hat fünf Nachrichten auf meinem AB hinterlassen und mir drei SMS geschickt. Alle relativ vage, doch mit derselben Aussage, derselben Dringlichkeit: »Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.
«
Tja, ich will aber nicht mit ihm reden. Ich will nichts von dem hören, was er zu sagen hat. Ich bin sogar ziemlich sauer auf ihn, weil er Shaw von unserer Verlobung erzählt hat, obwohl ich es hätte tun müssen, ungeachtet der Umstände. Shaw hatte jedes Recht, verletzt zu sein, weil ich ihm nichts davon erzählt hatte, aber mir schien der Zeitpunkt nie passend. Ähnlich wie bei diesem Dreier-Ding, das er mir verschwiegen hat, nehme ich an. Aber ich denke, solange wir beide nicht wussten, wie wir zueinander standen, haben wir unsere Geheimnisse für uns behalten.
Aber ich habe immer noch eins. Das bisher schlimmste: Violet
.
Die Erinnerung an meine Schwester ist mir heilig. Überraschenderweise fällt es mir schwerer, über sie zu sprechen als über den Tod meines Vaters. Aus irgendeinem törichten Grund will ich sie ganz für mich behalten.
Vielleicht liegt es daran, dass ich die Einzige bin, die die Erinnerung an sie in sich trägt. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich nicht will, dass sie nach der Art ihres Todes beurteilt wird, denn sobald man das Wort »Überdosis« erwähnt, ist damit ein Stigma verbunden, das Außenstehende nicht mehr den Menschen sehen lässt, der der Tote wirklich war.
Ich brauchte über ein Jahr, um Reid von Violet zu erzählen, und selbst dann tat ich es nicht aus freien Stücken. Er folgte mir eines Tages zum Friedhof, weil er dachte, ich würde ihn betrügen, da ich manchmal stundenlang verschwand und ihm nicht sagen wollte, wohin ich ging.
Ich greife mir unwillkürlich an den Hals. Einen Monat nachdem er mir gefolgt war, schenkte er mir die Kette mit dem abstrakten Silberweide-Anhänger, den er bei einem seiner Freunde in Auftrag gegeben hatte. »Damit deine Schwester immer bei dir ist«, sagte er damals mit verschleiertem Blick zu
mir. Ich brach zusammen. Egal wie wir jetzt zueinander stehen, die Kette habe ich stets wie einen Schatz gehütet. Das werde ich immer. Es ist merkwürdig, wahrscheinlich reine Einbildung, aber ich spüre
sie darin.
Shaws tiefes Lachen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe zu ihm auf. Er ist so stark und attraktiv. Ich liebe ihn so
sehr. Diese letzte Barriere muss fallen. Ich muss es ihm erzählen. Ich will
es ihm erzählen. Ich plane es für heute Abend. Ich plane auch, diese Gelegenheit zu nutzen, um mit ihm über Annabelle zu sprechen. Um zu sehen, ob er mir etwas über sie anvertraut. Ich weiß nur, dass ich in ihrem Blick dieselbe Getriebenheit sah wie in Violets. Was sie bedeutet, weiß ich erst jetzt, während ich damals keinen Schimmer hatte.
Als hätten meine Gedanken sie herbeigezaubert, erscheint Shaws kleine Schwester zusammen mit einem recht nerdig aussehenden jungen Mann am Arm, der etwa so groß ist wie sie.
»Annabelle«, gurrt Adelle und haucht ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie sie herzlich umarmt. »Du siehst atemberaubend aus, Schatz.«
Und das stimmt auch. In ihrem mintgrünen bodenlangen zweiteiligen Ballkleid ist sie heute Abend eine kultivierte Klassefrau. Das Kleid ist zwar aufgrund seiner Bauchfreiheit etwas gewagt, doch das hochgeschlossene Oberteil und die hohe Taille sorgen für einen insgesamt konservativen Eindruck. Ihre rabenschwarzen Haare sind zu einer schlichten Hochfrisur frisiert, und ihr Make-up ist dezent. Ganz und gar perfekt.
Sie sieht glücklich aus. Diese Schatten, die ich vor ein paar Wochen gesehen zu haben glaubte, sind nicht zu sehen. Vielleicht habe ich mich doch in ihr geirrt?
»Ich hätte dich fast nicht erkannt«, witzelt Shaw und gibt ihr einen Kuss auf die Wange
.
Ich umarme sie kurz. »Sie sehen fantastisch aus«, flüstere ich. Sie lächelt und errötet bei meinem Kompliment.
Ich wende mich dem Gouverneur zu, der mich, in seinem dunkelgrauen Anzug lässig-elegant, angesprochen hat. »Sagten Sie, Ihr Nachname lautet Blackwell?«
Speichel sammelt sich in meinem Mund. All die Glücksgefühle, die in mir sprudelten, platzen nacheinander wie Kohlesäurebläschen. Ich nicke und flüstere ein »Ja«.
»Sind Sie mit dem verstorbenen CJ Blackwell verwandt?«
Obwohl ich darauf gefasst war, schnappe ich bei den Worten nach Luft. Shaws Muskeln versteifen sich, und sein Griff um mich verstärkt sich merklich. Mit pochendem Herzen sehe ich Reid an. Sein Blick ist steinhart. Doch er ruht nicht auf mir, und auch nicht auf dem Gouverneur. Sondern auf meinem Freund. Und Shaw erwidert den Blick.
»Ja. Ich bin seine Tochter«, antworte ich mit zittriger Stimme. Ich lehne mich an Shaw, um Halt zu finden.
Seine Mundwinkel verziehen sich mitfühlend nach unten. »Das dachte ich mir. Ich kannte ihn nicht gut, aber wir waren beide Mitglieder im Rainier Klub. Er hat oft und mit Stolz von Ihnen und Ihrer Schwester gesprochen. Ich dachte, es würde Sie freuen, zu hören, dass er hoch angesehen war und sehr vermisst wird.«
Oh Scheiße
. Schlimmer noch, als mich auf meinen Vater anzusprechen, ist, dass er meine tote Schwester erwähnt. Vor allem, weil außer Reid niemand hier von ihr weiß.
»Ich wusste nicht, dass Sie eine Schwester haben, Liebes«, sagt Adelle unschuldig.
Mein Blick geht zu ihr. Mir bleibt die Stimme weg. Schweiß steht mir auf der Stirn, und mein Herz schlägt so heftig, dass es schmerzt. Ich bin mir überaus und schmerzlich bewusst, dass alle darauf warten, was ich darauf erwidern werde. »Ich –
«
Habe ich nicht. Nicht mehr. Sie ist tot, genau wie mein Vater
.
Es klingelt in meinen Ohren, und der Lärm übertönt alles außer den leise gesprochenen Worten, die in verletztem Ton von Shaw kommen. »Ich auch nicht.«
Es tut mir so leid
.
»Sie sehen blass aus«, sagt jemand. Es klingt wie aus weiter Ferne. »Geht es Ihnen nicht gut?«
Mir ist schwindlig. Ich schwitze am ganzen Körper.
»Ich –«
Meine Beine sind schwer, meine Knie weich.
»Sie braucht kaltes Wasser im Gesicht.«
Ich glaube, ich falle in Ohnmacht.
Jemand packt mich am Ellbogen und führt mich weg. Außer, dass Shaw mich loslässt, nehme ich nicht viel wahr. Mir ist kalt, ich bin benommen, und es tut mir so wahnsinnig leid, dass Shaw es auf diese Weise erfahren musste.
Ich bewege mich automatisch, setze einen Fuß vor den anderen, jeder Schritt zittrig und ungleichmäßig. Ich weiß nicht, wer mich führt oder wohin wir gehen, doch bald lässt der Lärm nach und ich werde auf eine gepolsterte Bank gedrückt.
Ich starre auf die cremefarbenen Kacheln unter meinen hochhackigen Schuhen. Mein Körper wiegt zwei Tonnen. Ich sehe verschwommen, bis sich jemand mit einem Knäuel aus feuchten Papiertüchern vor mich hinhockt. Das Papier wird an meine Stirn gedrückt. Es fühlt sich angenehm kühl an. Ich greife danach und betupfe mein ganzes Gesicht damit.
Nach einer Weile lässt das Klingeln in meinen Ohren nach, mein Herz schlägt langsamer, und die Enge in meiner Lunge klingt ab. Ich könnte vor Verlegenheit sterben.
»Besser?«
Ich hebe den Blick und sehe in Augen, die ein Spiegel derer ihres Bruders sind
.
Ich nicke.
Annabelle atmet erleichtert auf und entspannt sich sichtlich. Ein ironisches Grinsen huscht über ihr hübsches Gesicht. »Eine Sekunde lang dachte ich, Sie würden mir zusammenklappen.«
Ich lache schnaubend. »Ich auch.« Ich fahre mit den feuchten Tüchern über beide Seiten meines Halses und genieße die Kühle.
»So kann man natürlich auch Schlagzeilen machen.«
Ich lächele gezwungen. Ich denke mit jedem Augenblick wieder klarer. »Wenn es um Ihren Bruder geht, braucht es dazu nicht viel.«
»Die Presse liebt ihn eben«, sagt sie mit einer gehörigen Portion Spott.
Ich auch
.
Die Tür links von uns wird aufgedrückt, und eine Frau mit einem Handy am Ohr steht im Rahmen. Sie sieht erschöpft aus. Nachdem sie uns gesehen hat, lässt sie den Blick suchend über den restlichen Teil der Lounge der Damentoilette gleiten, dreht sich um und geht wieder. Als sich die Tür schließt, sehe ich Shaw. Bevor sie zufällt, treffen sich kurz unsere Blicke. Er sieht besorgt aus. Und verletzt. Wahnsinnig verletzt.
Mist
.
Niedergeschlagen lasse ich den Kopf an die Wand sinken. Ich bin total mies.
»Sie mögen meinen Bruder, hm?«
Ich drehe den Kopf zu Annabelle. Ihre Augen sind groß und blau und sehen ätherisch aus. »Sehr.«
Sie zieht einen Mundwinkel nach oben und beobachtet mich schweigend. Sie wählt ihre Worte genau. Das erinnert mich an Shaw. Vieles an ihr erinnert mich an Shaw. »Er beobachtet Sie mit Argusaugen.
«
»Er ist sehr aufmerksam«, stimme ich zu.
»Ich meine nicht Shaw. Ich meine den Wahlkampfmanager meines Vaters.«
Wow. Ääähh … was zum Teufel soll ich dazu sagen? Stimme ich zu? Leugne ich es? Stelle ich mich dumm? »Oh, ähm … es ist kompliziert.«
»Er liebt Sie.«
Heiliger Bimbam. Sie kommt direkt zur Sache. »Nun, ich glaube nicht –«
»Shaw. Shaw liebt Sie.« Sie wechselt so schnell die Themen, dass sich mein Nacken verspannt. »Ich meine, der andere Typ auch, aber es ist offensichtlich, dass Sie nur Augen für meinen großen Bruder haben.«
Da ich nicht weiß, was ich sagen soll, halte ich den Mund.
Sie streift ihre hautfarbenen Sandalen ab, zieht die Füße auf das weiche Leder unter uns und drapiert den Stoff ihres langen Rocks über ihre angewinkelten Beine. Sie schlingt die Arme um ihre Knie, legt die Wange darauf und sieht mich an.
Diese Schatten, von denen ich dachte, dass sie fort seien, sind wieder da. Vielleicht waren sie nie verschwunden, und sie hat sie nur verborgen wie eine Expertin. Wie Violet. Wie ich
. Am liebsten würde ich ihren Kopf auf meinen Schoß ziehen und ihre Haare streicheln. Ihr sagen, dass sie noch ihr ganzes Leben vor sich hat und sie es selbst gestalten kann und dass sie sich den Schatten nicht geschlagen geben soll. Ich will sie anflehen, nicht wie Violet zu enden und jeden, der sie jemals geliebt hat, in unsichtbare Stücke zu zerbrechen, die sie niemals wiederfinden werden.
»Lieben Sie ihn?« Ich versuche noch herauszufinden, welchen ihn
sie meint, als sie hinzufügt: »Meinen Bruder. Lieben Sie meinen Bruder? Wenn ich raten sollte, würde ich ja sagen, aber ich will mir sicher sein.
«
Sie ist eine Miniaturausgabe von Shaw. Ein ausgeprägter Beschützerinstinkt muss ein Mercer-Charakterzug sein.
»Ja«, antworte ich. »Mehr als ich es für möglich gehalten hätte.«
»Werden Sie ihn lieben, egal was kommt?«
Ich schüttele den Kopf über ihre Spanische Inquisition. Es ist süß. »Wir haben alle unsere Fehler, Annabelle. Wenn man jemanden liebt, dann liebt man das Gesamtpaket. Das Gute und das nicht so Gute. Man kann sich nicht aussuchen, welche Teile man will. Man nimmt sie alle.«
Sie senkt das Kinn auf ihre Knie und starrt geradeaus. »Und wenn er das Schlimmste getan hat, was man sich vorstellen kann, aber nur, weil er Sie schützen wollte? Würden Sie ihn dann auch lieben?«
Ich lasse mir ihre merkwürdige Frage durch den Kopf gehen. Weiß sie etwas, das ich nicht weiß, oder versucht sie nur festzustellen, wie tief meine Liebe für ihr eigen Fleisch und Blut ist? »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas tun würde, was mich dazu bringen könnte, ihn nicht mehr zu lieben«, antworte ich ihr wahrheitsgemäß. »Aber wenn doch, kann man seine Liebe nicht einfach ausschalten. So funktioniert das nicht.«
»Ich weiß«, murmelt sie, bevor sie verstummt. Zwei Frauen, die aufgeregt darüber plaudern, dass sie den Gouverneur getroffen haben, betreten den Raum und nehmen uns kaum zur Kenntnis, während sie an uns vorbei durch die Pendeltür zu den Toiletten gehen. Diesmal halte ich ganz bewusst nicht nach Shaw Ausschau.
Ich glaube schon, das Fragespiel sei zu Ende, als sie fragt: »Haben Sie je etwas getan, das Sie bereuen?«
Sie kann mein sarkastisches Grinsen nicht sehen, aber es ist da. »Unzählige Male«, gebe ich leise zu. Wie jetzt zum Beispiel. Ich sollte mich wortreich bei dem Mann, den ich liebe,
entschuldigen, weil ich ihm einen so großen Teil meines Lebens vorenthalten habe, und trotzdem sitze ich hier und verstecke mich stattdessen wie ein Feigling in der Damentoilette.
»Glauben Sie, dass manche Fehler unverzeihlich sind?« Ihre Frage ist leise, fast unhörbar.
Ich mustere sie. Sie starrt immer noch mit leerem Blick nach vorn, fast ohne zu blinzeln, als sei sie in einem Trancezustand. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es ihr nicht mehr um Shaw geht. »Nichts ist unverzeihlich.«
Sie legt die Wange wieder auf ihr Knie und beäugt mich. »Glauben Sie das wirklich?« Ihr skeptischer Ton sagt mir, dass sie damit nicht gerechnet hat.
»Ja. Das glaube ich wirklich. Was wäre das für eine Welt, wenn wir einander unsere Fehler nicht vergeben würden?« Ihre blauen Augen sehen mich blinzelnd an. Darin liegen Geheimnisse und ein tiefer Brunnen aus Dunkelheit, in den sie mit aller Kraft nicht zu stürzen versucht. »Glauben Sie
es denn, Annabelle?«
Ich habe noch nicht viel Zeit mit Annabelle verbracht, aber man merkt, dass sie sich große Mühe gibt, alle davon zu überzeugen, dass sie glücklich ist und es ihr gut geht. Ich kenne die Taktik. Doch in diesem Moment kommt sie mir jung und zerbrechlich und unglaublich verletzlich vor. Ich erwäge, ihr ein paar eigene Fragen zu stellen, und frage mich, ob sie mir genug vertrauen würde, um sie mir zu beantworten, doch der Moment ist im Handumdrehen wieder vorbei und die rotzfreche Haltung, die sie wie eine zweite Haut überzieht, ist wieder da.
»Wollen Sie ihn heiraten?«
Ich lache, bevor mir klar wird, dass sie es ernst meint. »Ich –« Ich stocke und überlege, wie ich darauf reagieren soll. Es gibt keine andere Antwort als »Ja«, aber ich will auf keinen Fall, dass Shaw denkt, ich würde in derselben Woche, in der ich ihm
meine Liebe gestanden habe, hinter seinem Rücken mit seiner Schwester in der Damentoilette des Four Seasons unsere Hochzeit planen. »Dazu müsste er mich zuerst fragen.«
»Wenn er Sie fragen würde, was würden Sie sagen?«
Das ist wie ein Gespräch mit Sierra. Die beiden würden sich glänzend verstehen. Sie wären die Thelma und Louise von heute.
Ich hole tief Luft und überlege mir meine nächsten Worte sorgfältig. »Falls
er mich fragen würde, würde ich wahrscheinlich Ja sagen.«
»Wahrscheinlich oder ganz sicher?«
Ich werfe das inzwischen warme zerknautschte Papier in den Abfalleimer neben mir und lache. Shaw hat vergessen zu erwähnen, dass seine Schwester wie ein Rottweiler mit einem Knochen ist. Ich sehe ihr in die Augen und riskiere es. »Ja. Die Antwort wäre Ja.«
Ihr Lächeln erreicht ihre Augen. Sie tätschelt mein Bein. »Gut zu wissen.«
»Habe ich bestanden?«, frage ich, als sie ihre Schuhe wieder anzieht.
»Mit Bravour.«
Sie drückt sich von der Bank hoch, steht auf, dreht sich um und sieht auf mich herab. »Mein Bruder stürmt wahrscheinlich in fünf Sekunden hier herein, um persönlich nach Ihnen zu sehen.«
Ja. Dann werde ich ihm einiges erklären müssen. Wird er mir jemals glauben, dass ich ihm heute Abend von meiner Schwester erzählen wollte? Ich würde es ihm nicht verübeln, wenn er es nicht täte. »Dessen bin ich mir sicher. Können Sie …?«
»Ja. Ich sage ihm, dass Sie noch einen Moment brauchen.«
Sie streckt mir die Hand hin und hilft mir auf. »Danke, Annabelle.
«
»Danke, dass Sie meinen Bruder verrückt machen. Es ist …« Sie hält inne, als wolle sie eine bissige Bemerkung herunterschlucken. »Ich bin froh, dass er jemanden hat.«
Ich lächele zaghaft. »Danke.« Als ich in den Toilettenraum gehen will, höre ich, wie jemand leise meinen Namen ruft. »Ja?« Ich drehe mich um.
Annabelle blickt zu Boden und sieht wieder zu mir auf. Sie presst nervös ihre vollen Lippen aufeinander. »Das mit Ihrem Dad tut mir wirklich leid … und was auch immer Ihrer Schwester zugestoßen ist, das Sie so traurig aussehen lässt.«
Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals und Nadelstiche hinter meinen Lidern. »Sie erinnern mich an sie«, krächze ich.
Ein merkwürdiger Ausdruck huscht über ihr Gesicht. »Inwiefern?«
Ich schlucke und spiele auf Zeit. Ich will ihr nicht sagen, dass ich dieselben Abgründe sehe wie damals bei Violet und ich Angst habe, dass sie in einen hineinfällt, deshalb sage ich stattdessen: »Sie war musikalisch begabt, wie Sie. Sie war lustig und gesellig und geradeheraus. Spontan und sensibel. Aufmerksam. Missverstanden, glaube ich. Und schlau. Unglaublich schlau.«
Sie wendet den Blick ab, doch ich habe ihre Augen noch glasig werden sehen. Mit einem angespannten Lächeln murmelt sie etwas und lässt mich stehen.
Ich trete vor den Spiegel und betrachte kritisch die Frau, die mir entgegenblickt. Die Farbe ist wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt, auch wenn sie immer noch ein bisschen bleich aussieht. Das Weiße in ihren Augen weist ein schwaches Rot auf. Ein Leben voller Trauer zieht ihre Mundwinkel herunter. Sie sieht aus, als würde sie traurig und allein mit dreiundzwanzig Katzen enden und Mützchen für winzige Neugeborene häkeln, wenn sie ihr Leben nicht auf die Reihe bekommt
.
Als ich mit Shaw über meinen Vater sprach, war es eine Art Erleichterung. Als ich ihm alles über Reid erzählte, fühlte ich mich genauso. Ich weiß im Grunde nicht, warum ich ihm den prägendsten Verlust meines Lebens vorenthalten habe. Aber sich zu ändern ist schwer, selbst wenn es notwendig ist.
Nach ein paar Minuten, in denen ich mich wieder gefasst habe, trete ich in den Flur. Mein Herz hämmert, als ich Shaw auf und ab gehen und sich mit einer Hand die Haare raufen sehe. Als er mich sieht, erstarrt er. Ein paar Leute gehen zwischen uns vorbei, doch er lässt mich nicht aus den Augen. Er atmet schwer. Seine Lippen sind zu einer festen Linie zusammengepresst.
»Es tut mir so –«
»Jetzt nicht, Willow.« Angesichts seiner Schroffheit würde ich am liebsten weinen. »Mein Vater hält gleich seine Rede.«
»Oh.«
Mit drei Schritten ist er an meiner Seite, nimmt mich sanft am Ellbogen und läuft schnell los. Bei seinen langen Beinen fällt es mir mit meinen hohen Absätzen schwer, mit ihm mitzuhalten, doch ich werde mich nicht beschweren oder ihn bremsen. Wir sind heute Abend hier, zweieinhalb Wochen vor der Wahl, um die letzte Benefizveranstaltung seines Vaters zu unterstützen. Angesichts der neusten Umfragen und der Welle der Unterstützung, die Preston Mercer heute Abend entgegenschlägt, würde ich sagen, dass er das Rennen macht.
Doch im Moment ist mir nur wichtig, die Unstimmigkeiten mit Shaw auszuräumen.
»Es tut mir leid«, sage ich zu ihm, bevor wir den relativ stillen Flur verlassen. Auch wenn er mir gerade gesagt hat, dass er nicht darüber sprechen will, kann ich meine Entschuldigung nicht zurückhalten. »Meine Schwester … es ist, sie ist –
«
Er bleibt so abrupt stehen, dass ich in ihn hineinrenne und strauchele. Er packt mich an den Oberarmen und hält mich fest. Als er sich sicher ist, dass ich nicht auf die Nase falle, schiebt er mich rückwärts, bis ich mit dem Rücken an eine raue Wand stoße. Dann baut er sich vor mir auf.
Er legt die Finger in meinen Nacken und die Daumen unter mein Kinn und hält mich in seiner Macht gefangen. Seine blauen Augen fixieren mich. Sein Blick ist intensiv, leicht furchteinflößend. Die dunklen Bartstoppeln, die er auf seiner Kieferpartie hat stehen lassen, tragen dazu bei, dass er noch strenger wirkt. Er ist unwiderstehlich. Ich bin total erregt.
»Sie ist eines dieser Geheimnisse, die zu teilen dir schwerfällt«, sagt er mit einer merkwürdig monotonen Stimme.
Ich atme hastig aus. Schnell blinzelnd nicke ich. Ich habe nicht das Gefühl, sein Verständnis verdient zu haben, bin aber trotzdem froh darüber.
»Ich warte so lange, wie du brauchst, Goldlöckchen. Wenn du so weit bist, sag Bescheid, und ich lasse alles stehen und liegen.«
Erleichtert hauche ich seinen Namen, und die gemischten Gefühle, mit denen ich kämpfe, fangen an, aus ihrem Tresorfach zu sickern. »Ich wollte dir heute Abend von ihr erzählen. Ich schwör’s. Nach …« Mein Blick huscht nach rechts in den Saal, wo richtig was los ist.
Er beißt die Zähne zusammen und nickt, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob er mir glaubt. Doch mir bleibt keine Gelegenheit, ihn zu fragen, weil wir im Hintergrund jemanden hören, der Preston Mercer ankündigt, und kurz darauf die Menschenmenge ausflippt, klatscht, jubelt und pfeift.
»Wir müssen gehen.« Er drückt mir einen Kuss auf die Stirn.
»Ich liebe dich«, flüstere ich, bevor er von mir wegtritt
.
Er legt den Daumen unter mein Kinn und hebt meinen Kopf an. Seine Entschlossenheit brennt sich in mich. »Ich gehe nicht weg, Willow, okay?«
Ich sacke erleichtert zusammen und lasse mir einen süßen Kuss auf den Mund geben, bevor wir weitergehen.
Als wir uns ganz vorn in der Menge zu Shaws Geschwistern stellen, ist Noah auch da, anscheinend ohne Begleitung. Er mustert uns fragend und umarmt mich kurz. Er fragt mich, ob alles in Ordnung sei. Ich sage Ja.
Es ist so laut, dass ich Lincoln und Gemma, die links von Shaw stehen, nur zuwinken kann. Shaws jüngerer Bruder scheint sich in seiner schicken Weste und der eng geschnittenen Hose unwohl zu fühlen. Er steht neben einem gut gekleideten Mann, der ein paar Zentimeter größer ist als er und ihn mit allen möglichen Aufmerksamkeiten überhäuft. Es scheint, als versuchte Gemma ganz allein drei renitente Kinder zu bändigen, denn ihr Mann ist nirgends zu sehen. Sie übergibt Eli an Annabelle, damit sie Cora hochheben kann, die unnachgiebig an ihrem Rock zerrt. Shaw hebt Nicholas auf seine Schultern, damit er seinen Großvater sehen kann. Er strahlt und fängt an, auf und ab zu federn, bis Shaw ihn ermahnt, stillzusitzen.
Es ist das totale Chaos, und es gefällt mir, ein Teil davon zu sein.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, dröhnt eine laute Stimme über das Gedränge.
Ich konzentriere mich auf Shaws Vater, der jetzt auf der Hauptbühne steht, die etwa einen Meter erhöht ist. Er steht lächelnd und winkend hinter einem provisorischen Pult, was seine Unterstützer schier ausflippen lässt. Rechts von ihm steht Adelle, die Hände bescheiden vor sich verschränkt. Als sie zu ihrem Mann blickt, steht ihr zurückgehaltener Stolz im Gesicht geschrieben. Sie weiß, dass es sein Moment ist, um zu
glänzen, aber auch, dass sie das unsichtbare Rückgrat hinter dem Erfolg eines großen Mannes ist.
Zur Linken des Bürgermeisters steht Reid. Er klatscht mit den anderen, doch er blickt nicht auf die Menschenmenge oder zu seinem Kandidaten. Sein raubvogelhafter Blick ist auf Shaw gerichtet. Wenn Hass eine Farbe hätte, würde er sie tragen.
Als würde er mich spüren, huscht sein Blick von Shaw zu mir, woraufhin die Luft in meiner Lunge gefriert. Der Hass verschwindet rasch, doch er hat einen Gesichtsausdruck, den ich zunächst nur schwer deuten kann.
Doch dann sehe ich es. Eindeutig. Er will mich zurück. Er hat es mir ja gesagt. Doch jetzt scheint es, als sei es ihm egal, wer davon weiß. Was er tut, ist gefährlich. Es ist nicht nur gefährlich, sondern auch alles andere als angenehm oder angebracht, wenn man seine Position in der Familie Mercer betrachtet. Er soll sie vor Skandalen schützen, nicht selbst welche produzieren.
Der Applaus findet kein Ende. Reid starrt mich weiter an. Pure Entschlossenheit vermengt sich mit unverkennbarer Besitzgier. Eine dreifache Menge an schamlosem Verlangen wird noch zur Mischung dazugegeben. Sie köchelt vor sich hin. Ein giftiger Mix, der kurz davor ist, überzukochen und alle um ihn herum zu verbrühen.
Es wird geschehen. Und zwar schnell. Ohne Vorwarnung. Und wenn es soweit ist, wird sich niemand vor dem Schaden schützen können, den es anrichten wird.
Niemand.