22. KAPITEL
Shaw
»Arroganter Scheißkerl. Wenn ich ihm die Eier rausreißen und sie ihm ins Maul stopfen könnte, ohne dafür ins Gefängnis zu wandern, würden sie ihm schon durch die Kehle rutschen.«
Ich trinke einen Schluck von meinem Lagavulin, doch selbst der rauchige Geschmack des ziemlich teuren alten Scotchs schafft es nicht, den Geschmack der Wut aus meinem Mund zu spülen. Ich lasse den Typen nicht mal für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen. Er steht neben meinem Vater, als gehörte er dorthin. Schüttelt die Hände von Geschäftsleuten, Hausfrauen und den Bewohnern von Seattle, als seien es seine Leute. Aufgeblasener Arsch.
»Hast du gesehen, wie er Willow angeschaut hat, als mein Vater seine Rede gehalten hat?«
»Hab ich«, antwortet Noah kurz angebunden. Er ist genauso empört wie ich. »Der Arsch wird immer dreister.«
Mein erbitterter Beschützerinstinkt zündet jede Nervenzelle in mir. Ich suche den Saal nach Willow ab. Meine Mutter hat sie vor gut einer halben Stunde weggezerrt, um sie herumzuzeigen. Mir ist auch nicht entgangen, dass Mergen jede ihrer Bewegungen verfolgt. So wie ich ihn nicht aus den Augen gelassen habe, so hat er den Blick kaum von ihr abgewandt, obwohl er in den letzten Minuten in ein Gespräch mit einem US-Senator und einem der engsten Freunde meines Vaters vertieft war.
»Sie ist da drüben«, sagt Noah mit seiner tiefen Stimme.
Ich folge seinem Blick und entdecke tatsächlich Willow bei einem Grüppchen der engsten Freundinnen meiner Mutter. Meine Mutter sagt anscheinend etwas, das ihr das Blut ins Gesicht treibt, denn selbst aus dieser Entfernung sehe ich, wie die helle Haut ihrer Wangen sich rötet. Dieser fantastische, freche Mund, den ich so gerne küsse, verzieht sich zu einem verlegenen Lächeln, und sie sieht sich rasch um, als wollte sie nicht, dass jemand ihr Gespräch mitanhört.
Ich frage mich, was mein Mädchen dazu gebracht hat, so wunderschön zu erröten.
»Ihr zwei habt vorhin gestritten.«
Ich sehe kurz Noah an, bevor ich weiter Willow beobachte. Er hat den peinlichen Vorfall von eben nicht mitbekommen. Keine Frage, wer ihn eingeweiht hat. Bluebelle ist auch seine kleine Schwester. »Zuerst ein toter Vater, von dem ich nichts wusste, dann ein Verlobter und jetzt eine geheimnisvolle Schwester.«
»Ex-Verlobter«, stellt Noah klar.
»Egal. Ex-Verlobter. Der Punkt ist, dass ich mich langsam frage, ob ich ihr je all ihre Geheimnisse entlocken kann oder ob sie mich weiter aus heiterem Himmel treffen werden.«
»Gehört das nicht zum Spaß dazu?«
»Ja? Manchmal fühlt es sich nicht an wie Spaß.« Schon eher wie Extremsport. Eine brutale Hürde nach der anderen, während ich mich frage, ob ich es jemals bis zur Ziellinie schaffe oder zum Aufgeben gezwungen sein werde. Und so ungeniert wie Mergen seine Gefühle für sie zeigt – öffentlich inzwischen –, glaube ich nicht, dass ich allzu falschliege. Und deshalb behalte ich ihn im Visier .
Meine Zeit ist fast um. Ich spüre es in jeder Faser meines Körpers. Und das heißt, ich muss meinen Zug machen, bevor er es tut. Das heißt, jede Sekunde mit Willow ist wertvoller als die davor.
Das heißt, ich muss es ihr heute Abend sagen. Mist .
Noah holt tief Luft und bläst sie laut wieder aus. Er schluckt einen Mundvoll von seinem Rum mit Cola und wendet sich an mich. »Ich weiß nicht, Merc. Manchmal denke ich, ich hätte nichts dagegen, jemanden wie sie zu finden, der mich ganz kirre macht.«
Ich sollte verblüffter sein, doch in Wahrheit habe ich, seit ich mit Willow zusammen bin, an Noah eine Veränderung festgestellt. Zum Guten hin. Ich lächele. »Wirklich? Sollte ich deshalb mit einer gewissen Brünetten sprechen, die nicht lange fackeln würde, dir die kurzen Haare mit einer spitzen Pinzette herauszuzupfen?«
Er zuckt mit den Achseln, doch der Glanz in seinen Augen verrät ihn.
Ich hatte geglaubt, dass es lustig wäre, die beiden zu verkuppeln und dabei zuzusehen, wie die Funken fliegen wie am vierten Juli, doch Noah hat mich überrascht. Er hat eindeutig Interesse an Willows bester Freundin und Mitbewohnerin, obwohl ich nicht sicher bin, ob sie seine Gefühle erwidert. Und ich weiß auch nicht, ob sie die Frau ist, auf die er sich fixieren sollte.
»Ich dachte neulich, dass du Witze machst.«
»Nein«, erwidert er gereizt.
»Sie hat dich nicht rangelassen, hm?«
»Leck mich, Merc. Das ist es nicht.«
»Ich denke schon.«
»Das ist es nicht, okay? Sie ist … Gott .« Er streicht sich nachdenklich über seinen Stoppelbart. »So verdammt wild, dass ich nur daran denken kann, sie zu zähmen. «
»Sie hasst Männer«, sage ich zu ihm und kippe mir den Rest meines Whiskys hinter die Binde.
Erneutes Achselzucken. »Nein. Sie hasst die Vorstellung von Männern. Großer Unterschied.«
Ich lache kurz auf. »Sie hält dich für eine männliche Hure.«
Er grunzt nur und trinkt ebenfalls sein Glas aus. »Menschen können sich ändern.«
»Ich glaube, da hast du was falsch verstanden, mein Freund.« Ich stelle mein leeres Glas auf das Tablett einer vorbeikommenden jungen Kellnerin, die höchstens zwanzig sein kann. Sie mustert mich und lächelt. Ihr Lächeln ist kokett und dreist. Eine unverhohlene Aufforderung.
»Und du hast das nicht?«, fragt er ziemlich salopp, während er unserer Kellnerin ebenfalls sein leeres Glas reicht. Er macht sich nicht einmal die Mühe, sie dabei anzusehen. In der Hoffnung auf mehr als reine Ablehnung bleibt sie noch ein paar Sekunden stehen, doch als sie sieht, dass es nichts bringt, geht sie weg.
»Was habe ich nicht?« Verwirrt runzele ich die Stirn.
»Etwas falsch verstanden. Du hast sie ins Visier genommen.« Er deutet mit dem Kopf auf Willow. »Du hast um sie gekämpft, und jetzt hast du sie.«
Aber nicht mehr lange . Ich will gerade nachfragen, was er meint, als ein Tumult und eine vertraute kreischende Stimme hinter mir meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Als ich mich umdrehe, sehe ich, wie Annabelle auf uns zustürmt, ihren jungen Begleiter dicht auf den Fersen. In einer Hand trägt sie ihre Schuhe, mit der anderen rafft sie ihren langen Rock zusammen, während sie vorprescht.
Sie stößt lautstarke Beschimpfungen aus gegen … wie heißt er noch mal? Drew? Dan? Was auch immer. Spielt keine Rolle. Was aber eine Rolle spielt , ist die Szene, die sie macht. Obwohl die meisten Presseleute schon weg sind, lungern ein paar Journalisten noch herum, wahrscheinlich in der Hoffnung auf genau so einen Moment. Auf etwas Pikantes, das sie neben einem Foto meines Vaters, auf dem er etwas Wohltätiges tut, drucken können. Blutsauger. Ausnahmslos.
Als sie an mir vorbeikommt, packe ich sie an der Hüfte und drücke sie fest an meine Brust. Sie kämpft gegen meinen festen Griff an, schreit mich an, sie loszulassen, und als ich das nicht tue, versucht sie mit ihren Stiletto-Absätzen, die tödliche Waffen sein können, wenn sie die verwundbare Stelle eines Mannes treffen, nach mir zu schlagen.
»Verdammt, Bluebelle. Beruhige dich«, zische ich, während ich mich abmühe, sie zu kontrollieren. Ein reißender Fluss, direkt vor mir.
»Er ist ein Arschloch!«, kreischt sie und tritt wie ein Kind nach ihrem Begleiter. Als sie ihn am Schienbein trifft, stößt er ein Grunzen aus und beugt sich vor, um seine Wunde zu reiben. Weichei.
Drew oder Dan, oder wer auch immer er ist, stößt hervor: »Ich hab nichts getan, Annabelle.«
Sie knurrt. Knurrt regelrecht. »Du hast sie den ganzen Abend angesehen. Versuch nicht mal, es zu leugnen.« Sie deutet mit dem Finger irgendwo in Richtung des Meers aus Menschen in Power Suits und schicken Kleidern, von denen viele jetzt auf unser kleines Spektakel aufmerksam werden.
Drew oder Dan schnaubt frustriert. »Hab ich nicht. Ich würde dich nie so missachten. Ich schwör’s. Ich weiß nicht mal, von wem du sprichst! Sagen Sie ihr das.« Sein Blick landet auf mir, mit der verzweifelten Bitte um Hilfe, die er nicht bekommt. Selbst wenn er zu einhundert Prozent recht hätte – was wahrscheinlich der Fall ist –, könnte man Annabelle nicht zur Vernunft bringen, wenn sie so ist .
»Verlogener Drecksack!«, entgegnet sie hitzig. »Auf der Party letztes Wochenende hast du dasselbe getan, als du mit dieser Schlampe Patty Collins gesprochen hast.«
Er verdreht die Augen.
Der Junge muss noch viel lernen. Selbst ich weiß, dass das der Todesstoß ist.
»Sie gehen jetzt besser«, rate ich ihm.
»Aber –«
»Schaff sie hier raus«, sagt Noah. »Kamera auf zwei Uhr.«
Allmächtiger. Mein Blick trifft den meines Vaters. Sein Gesichtsausdruck ist hart.
»Kümmere dich um ihn«, weise ich Noah an und deute mit dem Kopf auf Junior.
»Fass mich nicht an«, höre ich den Jungen sagen, als ich Annabelle wieder auf die Füße stelle. Ohne meinen Griff um sie zu lockern, dirigiere ich sie in die entgegengesetzte Richtung, während die Worte ihres Begleiters hinter uns ertönen. »Ich bin weg. Ihr zwei könnt euch um die Irre kümmern.«
Jawohl. Todesstoß. Loser. Und tschüss!
»Lass mich los«, fordert meine kleine Schwester und versucht, sich aus meinem unerbittlichen Griff zu befreien.
»Niemals!«
Ich biege scharf nach links ab und zerre sie über einen glücklicherweise leeren Flur, bis wir zu ein paar Sitzungsräumen kommen. Ich probiere zwei Türen, bevor ich eine unverschlossene finde.
Sobald wir drin sind, lasse ich sie los. Sie geht mehrere Schritte auf einen Bürostuhl zu, zieht ihn zu sich heran und lässt sich darauf plumpsen. Sie stellt ihre Ellbogen auf den Tisch und vergräbt ihr Gesicht in den Händen. Ich bleibe an der Tür stehen, um jeden Fluchtversuch zu vereiteln.
Minutenlang ist im Raum nur ihr heftiges Atmen zu hören. Als sich ihre Atmung normalisiert, setze ich mich neben sie. »Also«, fange ich an, »diese Party letztes Wochenende. Erzähl mir davon.«
Sie hebt ruckartig den Kopf und fixiert mich mit blutunterlaufenden Augen. »Darüber willst du mit mir reden?«
»Ja«, antworte ich schlicht.
Annabelle ist eine Drogensüchtige im Genesungsprozess. Da ist eine Party der letzte Ort, an dem sie sich aufhalten sollte. Ich habe sie sogar heute Abend im Auge behalten. Sie ist von Rechts wegen alt genug, um Alkohol zu trinken, doch eine genesende Drogensüchtige sollte auch keinen Tropfen Alkohol zu sich nehmen, selbst wenn sie nicht danach süchtig war. Abhängigkeit ist Abhängigkeit. Und die läuft in ihrem Blut blindwütig und unkontrolliert Amok.
»Du bist ein Arschloch.«
»Zur Kenntnis genommen. Und jetzt … die Party.« Ich verschränke die Arme. Meine Anweisung ist klar: Beantworte die verdammte Frage!
Sie drückt den Rücken durch – die Stärke und Sturheit der Mercers, die ich bewundere, stets präsent. Ich sehe zu, wie ein heißes loderndes Feuer ihre himmelblauen Augen verräuchert. »Du bist nicht mein Vater.«
»Dann zwing mich nicht, es zu sein, Annabelle«, antworte ich mit etwas weicherer Stimme.
»Ich bin erwachsen. Ich schulde dir keine Erklärung.«
Ich atme tief durch, da meine Geduld schnell nachlässt. Annabelle braucht meine Aufmerksamkeit, doch dadurch ist Willow jetzt schutzlos einem Raubtier alias ihrem Ex ausgeliefert. Je schneller wir das klären, damit ich zu Willow zurück kann, umso besser. »Dann benimm dich auch so. Man erörtert seine persönlichen Probleme nicht in der Öffentlichkeit. Das solltest du doch besser wissen. «
Sie seufzt und weicht meinem Blick aus, bevor sie bockig sagt: »Es war die Geburtstagsparty eines Freundes, der einundzwanzig wurde, okay?«
»Und ich vermute mal, dass diese Party nicht bei Chuck E. Cheese stattgefunden hat?«, antworte ich in dem Bemühen, witzig zu sein.
Das bringt mir einen übellaunigen Blick ein. Was mir eigentlich ziemlich egal ist. Ich bin gegen ihre Theatralik immun.
»Ich muss irgendwann lernen, damit umzugehen, Shaw.«
»Du bist nicht einmal ein Jahr clean, Bluebelle. Das ist keine gute Idee.«
»Ich kann nicht nur in meiner Wohnung sitzen und zusehen, wie mein Leben an mir vorbeizieht.«
»Das habe ich nie von dir verlangt«, erwidere ich finster. »Aber du musst kluge Entscheidungen treffen, sonst …«
Sie lehnt sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl zurück. Ihre Haare sind unordentlich, ihre Wangen rot vor Ärger. Sie wirkt älter als ihre jungen Jahre. »Es war schwer. Ich behaupte nicht, dass es das nicht war. Aber ich hab’s geschafft. Ich habe alle Angebote abgelehnt und bin völlig nüchtern nach Hause gegangen.«
Sie reckt in einer für sie typisch trotzigen Bewegung das Kinn hoch. Im Grunde will sie nur Anerkennung. »Ich bin stolz auf dich, Bluebelle. Das war bestimmt nicht einfach.«
»Nein, aber Dean …« – Dean, so heißt er – »hat auch nichts getrunken, das hat mir geholfen.« Sie senkt den Blick auf ihren Schoß und streicht ihren pastellfarbenen Rock glatt. »Ich habe überreagiert«, gesteht sie leise.
»Das dachte ich mir«, antworte ich und weiß, dass sie das Debakel eben im Festsaal meint. »Magst du ihn?«
Sie wirft mir unter mit schwarzer Mascara verkrusteten Wimpern einen schüchternen Blick zu. Sie nickt fast unmerklich. » Er hat recht. Ich habe mich aufgeführt wie eine Irre.« Ich will unbedingt wieder zu Willow und dann nach Hause gehen, doch ich warte geduldig, damit sie ihre Gedanken sammeln kann. »Ich bin nur sowieso schon so gereizt seit …«
Sie führt den Gedanken nicht zu Ende, doch das braucht sie auch nicht. Ich weiß genau, wovon sie spricht. Ich wusste, dass sie mir neulich nicht geglaubt hat.
Schwer seufzend stehe ich auf, weil ich nicht mehr sitzen kann. Ich reibe mir mit beiden Händen das Gesicht und mache den Mund auf, um ihr die Wahrheit zu sagen. Das muss ich, auch wenn dies weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort ist. Ich kann mir eigentlich keinen schlechteren Ort dafür vorstellen, kann es aber auch nicht mehr hinausschieben. Das ist niemandem gegenüber fair. Genau in dem Moment, als ich versuche, die Worte über die Lippen zu bekommen, die sie ins Schlingern geraten lassen könnten, brummt mein Handy.
Ich greife in meine Tasche, ziehe das Telefon heraus und werfe einen Blick auf die Nachricht.
Noah : Wo bist du? Ich kann sie nicht finden .
Es gibt nur eine Sie , die er meinen könnte.
Willow.
Dieser Wichser. Kaum bin ich fünf Minuten weg, schlägt er zu. »Ich muss gehen«, informiere ich meine Schwester und stecke mein Handy wieder ein.
»Was ist los?«
»Nichts.« Mein Herz rast. Ich habe keinen Zweifel, dass Mergen bei ihr ist, und ich habe allen Grund anzunehmen, dass er ihr sein Herz ausschütten, dabei die Tatsachen jedoch zu seinem Vorteil verdrehen wird. »Geh zurück zur Party und halte dich an Dad. Und benimm dich.« Ich bin an der Tür, drehe am Knauf und werfe keinen Blick mehr zurück, um mich zu vergewissern, ob Annabelle meinen Anweisungen auch folgt.
Statt zurück zur Party zu gehen, laufe ich aus irgendeinem Grund weiter über den Flur links von mir, wo sich noch mehr Konferenzräume befinden. Ich zwinge mich, langsam zu gehen, und strenge mich an, Stimmen zu hören. Da dieser Teil des Hotels heute Abend nicht belegt ist, sollte ich ungewöhnliche Aktivitäten mitbekommen.
Nach etwa fünfzehn Metern komme ich zu einer Gabelung, an der ich mich entscheiden muss. Rechts oder links. Rein nach Bauchgefühl schwenke ich nach links und gelange noch tiefer ins Innere des Nobelhotels. Als ich einen schwachen Hauch des Blumendufts registriere, den ich vorhin an Willow gerochen habe, weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Trotzdem höre ich nichts, während ich in dem besonders breiten Gang an einem Raum nach dem anderen vorbeigehe.
Bis ich zum letzten komme.
Leise Stimmen leiten mich zum letzten Raum rechts von mir. Die Tür steht einen Spalt offen, und als ich mich nähere, ist Willows Stimme sehr deutlich zu hören. Ich drücke mich draußen herum und lausche.
»Das ist total unangemessen, Reid«, zischt sie. Sie ist wütend. Braves Mädchen.
»Du hast mir keine Wahl gelassen, Willow«, antwortet er beißend. »Du beantwortest meine Anrufe und SMS nicht.«
Arschloch.
»Weil es nichts zu bereden gibt.«
»Ach, es gibt eine Menge zu bereden. Warum gibst du dich überhaupt mit einem Typen wie Mercer ab? Er ist ein Aufreißer, Willow. Du verdienst etwas Besseres als einen Arsch, der an öffentlichen Orten irgendwelche Frauen vögelt und dann in der Zeitung landet! «
Das reicht. Meine Hand hebt sich automatisch, um die Tür aufzustoßen, doch mein Instinkt lässt mich innehalten, als Willow faucht: »Sag kein Wort mehr. Soweit ich weiß, hattest du etwas mit der ganzen Sache zu tun.«
Ein langsames Lächeln breitet sich über mein Gesicht aus. Ich liebe diese Frau aus tiefstem Herzen.
Mergens Lachen klingt bitter. »Ich wünschte, es wäre so. Ich musste Überstunden machen, um diesen Mist wieder aus der Welt zu schaffen.« Er hat keinen verdammten Finger gerührt. Das habe alles ich geregelt.
»Das bist nicht du, Reid«, sagt sie traurig. »Warum verhältst du dich so?«
»Weißt du, wie qualvoll es ist, jeden Tag in dem Wissen aufzuwachen, dass du nicht mehr mir gehörst? Es ist die Hölle, Willow. Jede Sekunde eines jeden Tages in den letzten vier Jahren war die pure, reine Hölle.«
Ich beiße fest die Zähne zusammen. Wenn er nicht versuchen würde, meine Familie auseinanderzureißen, könnte mir das Arschloch fast leidtun. Okay, nein . Das wird nie passieren.
»Reid.« Sie zieht seinen Namen voll Mitleid in die Länge. »Ich … ich weiß nicht, was du von mir hören willst.«
Aber ich weiß, was ich von ihr hören will.
»Sag, dass das … was auch immer du mit Shaw Mercer tust, vorübergehend ist.«
Sie braucht lange, um zu antworten. Zu lange. Ehrlich gesagt, braucht sie so lange, dass ich mich langsam frage, wie ihre Antwort lauten wird, doch als sie endlich spricht, wird mir klar, dass es nicht daran liegt, dass sie an uns zweifelt, sondern daran, dass sie versucht, es ihm so schonend wie möglich beizubringen. So sehr ich mir auch wünsche, dass sie ihm nahelegt, sich zu verpissen, liebe ich auch diese fürsorgliche Seite an ihr .
»Das ist es nicht, Reid. Ich bin in ihn verliebt. Das habe ich dir schon gesagt. Ich weiß, ich habe dich all die Jahre im Unklaren gelassen, und das tut mir unglaublich leid. Es war falsch von mir. Ich will dir nicht wehtun, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass meine Beziehung zu ihm real ist. Er ist … der Richtige für mich.«
»Er kennt dich nicht so wie ich. Das wird er nie«, protestiert er.
»Du hast unrecht.«
»Was gibt er dir, was ich dir nicht geben kann, hm? Geld? Geld habe ich, Willow. Vielleicht nicht so viel wie er, aber genug um zu deinem Lebensunterhalt und dem deiner Mutter beizutragen.«
»Jetzt beleidigst du mich aber«, antwortet sie hitzig.
Es folgt ein langes Schweigen. »Er wird sich nie an dich binden.«
Mir reicht’s. Ich habe genug gehört. Ich stürze mit solcher Wucht in den Raum, dass die Tür gegen die Wand schlägt und ich sie fast abbekomme, bevor ich ihrem Rückprall ausweichen kann. »Ich habe mich schon an sie gebunden, Arschloch«, verkünde ich und nehme Willows erschrockenes Gesicht nur kurz wahr, bevor ich vor ihr stehe. Dann liegt sie in meinen Armen, und meine Augen schließen sich kurz, als sie ihre Arme um meine Taille schlingt.
»Woher wusstest du, wo ich bin?«, murmelt sie an meiner Brust.
»Ich bin deinem Geruch gefolgt«, sage ich in ihre Haare und atme tief ein.
Sie hebt den Kopf und lächelt strahlend. Ihr ganzes Gesicht strahlt, und ich falle weiter und weiter in sie. Ich streiche mit den Daumen über ihre Wangenknochen und küsse sie auf die Nasenspitze .
»Gehen wir.« Ich fahre mit der flachen Hand an ihrem Arm hinab, nehme ihre Hand und steuere auf die Tür zu. Wir sind zwei Schritte gegangen, als Mergens selbstgefällige Stimme uns wie angewurzelt stehen bleiben lässt. »Er benutzt dich. Wusstest du das, Willow?«
Ich spüre, wie sich ihr ganzer Körper neben mir versteift. »Tu das nicht, Reid.«
»Tu was nicht?«, spottet er. Er lehnt sich gespielt lässig an den langen Konferenztisch, verschränkt die Arme und streckt die Schultern in seinem maßgeschneiderten grauen Anzug. »Dir die Wahrheit sagen? Willst du nicht wissen, an was für einen Mann du dich bindest? Denn ein Ehrenmann ist er nicht, das ist verdammt sicher.«
»Klar.« Ich schnaube verächtlich. »Sagt das tugendhafte Arschloch, das mir mein Mädchen ausspannen will.«
Mergen reagiert kaum, so konzentriert ist er auf Willow. »Wusstest du, dass dieses« – er deutet mit dem Kopf auf uns beide – »Arrangement ein Schwindel ist? Dass er dich ausgewählt hat, um ein paar Monate seine Freundin zu sein, mit der festen Absicht, dich in der Sekunde wieder loszuwerden, in der Preston wiedergewählt wird?«
»Hör auf, Reid«, bittet Willow leise. Sie hält sich fester an mir.
»Aufhören? Scheiße, nein. Ich höre nicht auf, bevor du alles weißt. Du entscheidest dich für einen Mann, der das, was du zu haben glaubst , auf einem Lügengebäude aufgebaut hat. Er liebt dich nicht. Er benutzt dich!«
Ich will sie loslassen, stelle schon einen Fuß vor, entschlossen, dieses Arschloch umzubringen, doch Willow zieht mich zurück. Sehr energisch, könnte ich hinzufügen. »Nicht«, sagt sie leise zu mir.
Sie drückt ihr Rückgrat durch und fixiert ihren Ex. Sie hat die Schultern zurückgezogen und schiebt ihr eigensinniges Kinn vor. Die Haltung kenne ich. Das ist mein Mädchen: kämpferisch und gefechtsbereit. Umwerfend.
»Und ich nehme an, dafür sollte ich mich bei dir bedanken, was?« Die Verärgerung, in der Mergen seit Wochen schmort, verpufft. Als er nicht antwortet, fügt Willow hinzu: »Es war doch deine Idee, oder?« Sie deutet auf uns beide. »Das hier?«
Am liebsten würde ich lächeln, aber ich verkneife es mir. Nein, ich will uns hier rausschaffen, bevor der ganze Raum um uns niederbrennt, denn wenn Mergen sieht, dass er mit seiner kleinen Enthüllung nichts erreicht, wird er schwerere Geschütze auffahren.
Ich lege die Hand auf ihren Rücken und will sie vorwärts schieben, doch sie gibt kein Jota nach.
»Nein, nur noch einen Moment«, sagt sie zu mir, ohne den Blick von Mergen zu wenden. »Er hat mir alles erzählt, deshalb wird dein Plan nicht aufgehen, Reid. Er lässt dich nur verzweifelt wirken.«
Der Schmerz, der über sein Gesicht zuckt, ist unverkennbar, doch dann umspielt ein niederträchtiges Lächeln seine Lippen, während er mich ins Visier nimmt. »Er hat dir also alles gesagt, ja?«
»Ja«, antwortet sie im selben Moment, als ich ihr einen kleinen Schubs nach vorne gebe und zu ihr sage: »Wir gehen.«
Ich rieche den Rauch. Ich spüre einen Kringel aus glühenden Flammen, der meine geschwärzte Seele peitscht, weil ich es ihr nicht in derselben Sekunde gestanden habe, in der ich es erfuhr. Und wenn ich sie nicht sofort hier rausschaffe, wird mein ganzer Körper von Verbrennungen dritten Grades übersät sein.
Diesmal schaffen wir es bis zur Tür. Wir sind fast in Sicherheit, als Mergens schleimige Stimme sich hinter uns her schlängelt. »Dann nehme ich an, er hat dir auch erzählt, dass dein Vater gar nicht Selbstmord begangen hat?«
Sie erstarrt.
»Gehen wir«, sage ich und kann meine Wut nur mit Mühe im Zaum halten. Ich versuche sie nach vorn zu schubsen, doch sie ist steifer als eine Leiche. Sie schiebt mich mit einer Hand fort und dreht sich wieder um.
»Was hast du gesagt?«, fragt sie barsch.
Mergen richtet sich auf und lässt die Hände sinken. Er wirkt fast zerknirscht. Arschloch. Am liebsten würde ich ihn hier und jetzt umbringen.
»Komm, Willow, wir gehen«, sage ich bittend. Sie muss es von mir erfahren. Nicht von ihm. Von mir . Ich fasse sie am Arm, aber sie stößt mich wieder weg und geht zwei Schritte auf Mergen zu.
»Wiederhol das, was du gerade gesagt hast.« Ihre Stimme ist jetzt bitter und beißend.
Mergen wirkt nervös, spricht aber trotzdem weiter. »Dann hat er dir doch nicht alles gesagt.«
»Willow –« Ich greife nach ihr, doch sie weist mich zurück und tritt noch einen Schritt von mir weg.
»Nicht«, sagt sie mit rasiermesserscharfer Stimme. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mit ihm oder mit mir spricht, doch das klärt sich bald. »Wag es nicht, meinen Vater da mit reinzuziehen. Was für ein krankes Spiel spielst du da, Reid?«
»Ich?« , knurrt er. »Das solltest du ihn fragen.«
»Er hat damit nichts zu tun. Wie kannst du so was sagen?« Die letzten Worte presst sie nur mit Mühe hervor. Ich will sie so gern in die Arme nehmen und vor dieser Sache beschützen, aber ich kann es nicht. Und in weniger als zwei Minuten wird sie mich auch nie wieder lassen .
»Er hat sogar alles damit zu tun!« Mergens hitziger Blick zuckt zu mir. »Sagen Sie es ihr, Mercer. Erzählen Sie ihr von der Verstrickung Ihrer Schwester in den Tod ihres Vaters.«
Wenn ich geglaubt hätte, dass es auch nur annähernd etwas bringen würde, hätte ich ihn krankenhausreif geschlagen. Ich hätte eine Anklage wegen Körperverletzung auf mich genommen. Ich hätte mit Freuden tagelang in einer drei Quadratmeter großen Gefängniszelle aus Beton gesessen. Doch das hätte nichts geändert. Es hätte die Verwirrung in Willows Gesicht nicht getilgt. Es würde das Entsetzen nicht wegwischen, wenn ihr klar wird, dass Mergen sich nicht nur wie ein Arschloch verhält. Und es wird ganz sicher nichts an der Wahrheit ändern.
»Was meint er damit?«, murmelt sie und zieht ihre feinen Augenbrauen fest zusammen. Sie bewegt sich fast unmerklich auf Mergen zu. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie sich dessen bewusst ist. Am liebsten würde ich mich ihr zu Füßen werfen und um Verzeihung bitten. »Shaw, sag mir, was er damit meint.« Diesmal hat sie die innere Stärke wiedergefunden, die ich so an ihr verehre.
»Ich –« Verdammte Scheiße. Ich stemme die Hände in die Hüften und sehe sekundenlang zu Boden. Ich nehme einen bestärkenden Atemzug und bete, dass Gott barmherzig sein möge, als ich den Blick wieder zu ihr hebe und gegen jede Hoffnung dafür bete, dass wir das überstehen können. »Es war ein Unfall.«
»Ein Unfall?« Ihre Beine geben nach, aber es bin nicht ich, der zur Stelle ist, um sie aufzufangen, um sie zu beruhigen. Sondern er . »Ich verstehe nicht. Mein Vater hat Selbstmord begangen. Das steht im Polizeibericht. Es steht auf seiner Sterbeurkunde. Es war sonst niemand dort. Keine Zeugen. Es war kein Unfall. «
»Doch.« Ich trete einen Schritt auf sie zu, doch sie weicht zurück, zurück in seine Arme. Sie sieht mich an, als wüsste sie nicht, wer ich bin. Am liebsten würde ich sterben. »Willow, lass uns irgendwo hingehen und das besprechen. Allein.«
»Wir gehen nirgendwo hin, bevor du mir sagst, was passiert ist.«
»Ich mache das nicht hier vor ihm.«
»Gottverdammt, Shaw! Es reicht! Sag es mir einfach«, feuert sie zurück. Gott sei Dank macht sie sich von ihm los, doch sie steht dort, so verdammt majestätisch neben dem Mann, der sie heiraten wollte. Dem Mann, der sie immer noch erbittert liebt und für sie da sein wird, wenn sie mich hochkant rausschmeißt.
Wenn es eine schlimmere Hölle gibt als diese, will ich es nicht wissen.
Ich schlucke mit Mühe den Speichel hinunter, der sich in meinem Mund angesammelt hat, bevor ich mit den Tatsachen beginne, die ich kenne.
»Meine Schwester –«
»Annabelle?«, fragt sie, um das klarzustellen.
»Ja. Annabelle«, antworte ich. »Sie war in jener Nacht von der Rolle –«
»Von der Rolle?«, unterbricht sie mich wieder.
Ich seufze schwer. Mir ist klar, dass dies nicht der Zeitpunkt ist, um Informationen zurückzuhalten. »Drogen, Alkohol. Such dir was aus, sie hat alles genommen.« Sie zieht die Mundwinkel nach unten. Der Lippenstift von vorhin ist fast weg, und was davon noch übrig ist, kaut sie jetzt ab. Sie sieht schon den Weg, den ich bereite, der voller Haarnadelkurven und steiler Abgründe ist. Wenn wir überleben, wird es ein verdammtes Wunder sein. »Sie war in einem elend schlechten Zustand, Willow, auch schon davor. Sie war leichtsinnig, unbedacht, gedankenlos. Doch in jener Nacht ist wirklich schlimmer Mist passiert, und es hat sie zerrissen. Ihr war egal, ob sie lebt oder stirbt.«
»Was ist passiert?«, fragt Willow. Ihre Stimme ist ein heiseres Flüstern. Ihre Frage ist sanft und scharf zugleich.
Sie verdient die ganze Geschichte, aber nicht jetzt. Jetzt wird sie die gekürzte Fassung bekommen, weil ich nicht meine ganze Familienscheiße vor jemandem erörtere, dem ich nicht vertraue. Ich richte meine Aufmerksamkeit auf Mergen, dessen Gesichtszüge steinhart sind. Ich habe keine Ahnung, ob er alles weiß, was ich weiß, aber ich liefere ihm nicht noch mehr Munition, die er gegen mich verwenden kann.
»Irgendwie ist sie mit ihren Freundinnen, die alle betrunken oder mit Koks zugedröhnt waren, auf der Schultz Bridge gelandet. Sie …« Ich zögere, da ich diesen Teil immer noch nur schwer akzeptieren kann. Meine kleine Schwester wollte sterben, und wäre Willows Vater nicht gewesen, glaube ich, dass sie damit Erfolg gehabt hätte. »Sie war auf die Brüstung geklettert und drohte zu springen, als dein Vater vorbeikam.«
Ihr steigen sofort Tränen in die Augen. Sie laufen über und strömen ihr über die Wangen. Da ich mir verzweifelt wünsche, sie zu berühren, lege ich den Meter zwischen uns zurück, doch sie streckt die Hand aus und verbietet mir, sie anzufassen.
Aber ihm nicht. Sie stützt sich direkt neben ihm auf den Tisch, und Mergens Arm legt sich jetzt um ihre hängenden Schultern, während sie mich nur anschaut, durch mich hindurchsieht. Tränenüberströmt blinzelnd. Ungläubig. Sie hat zweifellos das Gefühl, im selben Albtraum gefangen zu sein wie ich, ohne ihm entrinnen zu können.
»Er hat gesehen, was los war, und hat angehalten. Er ist zu ihr auf die Brüstung geklettert, als sie sich weigerte, herunterzukommen.« Sie hebt die Hand, um sich das Gesicht abzuwischen. Sie zittert. Ich lecke mir meine trockenen Lippen und fahre fort, bemühe mich sehr, die tausend Nadelstiche aus reiner Qual zu ignorieren, die mein Herz böse zurichten, weil sie sich an ihn lehnt, um neue Kraft zu bekommen. »Sie wollte springen. Er packte sie und stieß sie aus der Gefahrenzone, aber …« Ich kann den Satz nicht beenden. Ich kann es nicht sagen.
Die Luft verdichtet sich um uns, gerinnt aufgrund der krassen Erkenntnis, dass sie all die Jahre mit einer Lüge gelebt hat. Ihr Vater hat sich nicht das Leben genommen. Er hat sie nicht verlassen. Er hat seine Frau nicht verlassen. Er hat selbstlos sein Leben hingegeben, um meine kleine Schwester zu retten.
»Woher weißt du das?«, krächzt sie. »Wie lange weißt du das schon?«
Da ich ihr aufgewühltes Gesicht nicht mehr ertrage, drehe ich mich zur Fensterfront rechts von mir. Ich denke, mit der Zeit und nach einer Selbstüberprüfung wird sie mit diesem schrecklichen Szenario zurecht kommen. Sie ist mitfühlend und versöhnlich. Doch dass ich seit Wochen davon weiß und nichts gesagt habe? Unentschuldbar.
»Lange genug«, ist alles, was ich sage.
»Lange genug«, wiederholt sie mit zittriger Stimme. Sie atmet schwer. »Die ganze Zeit? Hast du es die ganze Zeit gewusst?«
»Nein«, sage ich entschieden. »Nein, Willow. Wenn du auch nichts anderes glaubst, bitte glaub mir das. Ich hätte es dir in der Sekunde sagen müssen, als ich es erfuhr, aber meine einzige Entschuldigung ist, dass ich es erst selbst verdauen musste. Das war falsch. Es tut mir leid. So wahnsinnig leid.«
Sie blinzelt. »Warst du deshalb in letzter Zeit nicht mehr du selbst?« Ich nicke. Es trifft mich tief, dass sie mich so gut kennt, dass sie wusste, dass mit mir etwas nicht stimmt. »Ist es das, was in Charlotte los war?« Wieder nicke ich. »Bist du deshalb nach Charlotte geflogen?« Ich antworte nicht. Sie weiß es sowieso.
»Oh mein Gott. Oh mein Gott.« Sie packt den Stoff über ihrer Brust und knüllt ihn in ihrer Faust.
»Willow.« Ich beuge mich zu ihr. Ich verblute langsam innerlich, weil es sie so sehr schmerzt und ich nichts tun kann. Sie sieht blass aus. Kreidebleich.
»Nicht. Sag … einfach nichts mehr.«
»Mist.« Ich raufe mir die Haare und reiße mir ein paar Strähnen aus. Der Schmerz fühlt sich gut an. Gut. Ich tue es wieder. Und gehe auf und ab. Drei Schritte in die eine Richtung, drei in die andere. Ich behalte sie die ganze Zeit im Auge. Sie ist weit, weit weg. Keiner von uns spricht. Keiner von uns wagt es. Stunden vergehen, und ich werde erst später wissen, dass es nur Sekunden waren. Schrecklich kurze Sekunden, bevor sie aus meinem Leben verschwinden würde.
»Ich … Ich muss gehen.« Ihr Blick ist unkoordiniert, ihre Augen sind glasig. Ihr Gesicht ist tränenüberströmt, ihr Make-up unter den Augen verschmiert. Sie sieht schlimm aus, und doch ist sie das exquisiteste Wesen, das ich je gesehen habe.
»Ich fahre dich«, sagen Mergen und ich gleichzeitig und umzingeln sie.
»Nein. Ich fahre selbst.«
Sie stemmt sich schwankend hoch. Ich bin zur Stelle, um sie zu stützen. »Du hast gar keinen Wagen«, erinnere ich sie. Sie schlägt meine Hand weg. Verdammtes stures Weib. Sie kann so sauer sein, wie sie will – sie hat das Recht dazu –, aber sie geht nur über meine Leiche allein von hier fort. »Ich fahre dich, Willow. Aus und Schluss.«
Sie erwacht ruckartig aus ihrem Zombie-Zustand, und ihr wütender Blick ist so heiß und erstickend, dass mich ein Feuerring umgibt. »Mit einer Sache hast du recht. Es ist Aus und Schluss.«
»Herrgott, Willow«, flehe ich mit gepresster Stimme. »Bitte tu das nicht. Lass mich dir die ganze Sache erklären. Bitte.«
»Und du«, faucht sie und richtet den tödlichen Blick auf Mergen, während sie meine Bitte ignoriert. »Wie kannst du es wagen! Hast du wirklich geglaubt, dass sich das zu deinen Gunsten auswirkt? Wie lange weißt du es schon?«
Immerhin hat der Saftsack den Anstand, reumütig auszusehen. Willow mag mir das nie verzeihen, doch wenigstens ist sie schlau genug, um zu wissen, dass Mergen sich verraten hat, während er versuchte, mich wie den Bösewicht dastehen zu lassen.
Er war mit Willow zusammen, als ihr Vater starb. Er hat ihren Kummer, ihre Verwirrung, ihren lähmenden Schmerz direkt mitbekommen. Jahre später ist er noch frisch und unverheilt. Er muss gewusst haben, wie niederschmetternd nicht nur der Verlust, sondern die Art , wie dieser Verlust sich ereignete, für sie war. Wenn sie ihm auch nur einen Deut wichtig gewesen wäre, hätte er es ihr sofort erzählt, als er davon erfuhr. Er hätte es nicht als Mittel benutzt, um mir zu schaden, sondern als ein Mittel, ihr Leid zu lindern.
»Willow, du verstehst das nicht«, fängt er heiser an.
»Ich verstehe das nicht?« Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Stimme trieft vor Bosheit. »Oh, ich verstehe das sehr gut.«
Mergen tritt mit ausgestreckten Armen auf sie zu, will sich immer noch retten. »Ich –«
Mit einer abweisenden Handbewegung schneidet sie ihm das Wort ab. »Nicht. Sag kein Wort mehr. Ich gehe jetzt. Folgt mir nicht. Ruft mich nicht an. Ich will keinen von euch jemals wiedersehen. «
Ihre Worte sind wie ein Springmesser an meinem Handgelenk; ihr Gewicht versenkt das scharfe Metall in mein Fleisch und schneidet in eine Pulsader.
Und das war’s. Mergen und ich bleiben starr stehen und sehen zu, wie die Frau, die wir beide lieben, aus dem Raum und aus unserem Leben verschwindet.
Es ist der größte Schlag, der mir in meinen sechsunddreißig Jahren je versetzt wurde.