23. KAPITEL
Willow
Ich bin benommen. Innerlich tot.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
»Wieso bist du noch auf?« Ich höre, wie Schlüssel auf Massivholz geworfen werden, dann Schritte. »Was machst du überhaupt hier? Solltest du nicht bei deinem heißen Kaffee sein und üben, dieses fiktive Baby zu machen?«
Ich antworte nicht. Ich kann nicht. Ich bin benommen.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Sierra um die Kücheninsel herum kommt. Seit ich durch die Haustür getreten bin, sitze ich immer noch am selben Fleck. Wie lange ist das jetzt her? Minuten? Stunden? Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich seitdem geblinzelt habe. Kann man die Augen stundenlang offen halten, ohne zu blinzeln? Ist das möglich? Ich glaube schon.
»Warum hast du deinen Mantel noch an?« Sie öffnet einen Schrank.
Ich antworte nicht. Ich kann nicht. Ich bin benommen.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
»Was ist los? Hat dein Märchenprinz an Strahlkraft verloren?«, fragt die sarkastisch und lacht. Sie macht Witze, aber wie recht sie hat!
Aber ich antworte nicht. Ich kann nicht. Ich bin benommen
.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
Ich höre, wie der Kühlschrank aufgeht und eine Flüssigkeit eingegossen wird. Orangensaft. Sierras abendliches Ritual, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommt. Orangensaft und ein Mini-»Baby Ruth«-Schokoriegel. Es ist überraschend beruhigend, heute Abend Teil ihrer merkwürdigen Routine zu sein.
»Löwenbräu, was ist los? Warum antwortest du mir nicht?«
Weil ich nicht kann. Ich bin benommen.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
Sie stellt sich hinter mich und dreht mich zu sich herum. Mein Kopf ist nach unten blickend in einem Winkel von dreißig Grad erstarrt. Sie legt die Hände an meine Wangen und hebt mein Gesicht an, damit ich ihr in die Augen sehe.
Aber das tue ich nicht. Ich kann nicht. Ich bin benommen.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
»Okay, jetzt machst du mir Angst. Genauso hast du dich aufgeführt, als …« Sie führt den Gedanken nicht zu Ende. »Willow.« Sie spricht mich laut und eindringlich an. Sie schüttelt mich. »Willow, sieh mich an.«
Aber das tue ich nicht. Ich kann nicht. Ich bin benommen.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen
.
Ein brennender Schmerz auf meiner Wange holt mich aus meiner Trance, und mir wird klar, dass sie mich geohrfeigt hat. Ich sehe in ihre verängstigten Augen, und der Damm, an dessen Errichtung ich so unermüdlich gearbeitet habe, wird instabiler. Zuerst bilden sich Risse am fragilen Fundament, schlängeln sich schnell nach oben, und bald ächzt und stöhnt die gesamte Konstruktion unter dem zunehmenden Druck.
»Sag mir, was zum Teufel los ist, oder ich rufe Mercer an.«
Mehr braucht es nicht. Seinen Namen. Das ist alles, was ich brauche, um in Abertausende winzig kleine Teile zu zerbrechen,
die richtungslos um mich herumschweben, auf jeder winzigen Scherbe ein Name klar und deutlich zu sehen.
Shaw
Charles
Annabelle
Shaw
Reid
Annabelle
Charles
Shaw
Annabelle
Annabelle
Annabelle …
Sie wirbeln herum, zuerst langsam. Dann immer schneller, mit ohrenbetäubendem Lärm, bis sie sich alle überschneiden und mit elektrisierender Heftigkeit aufeinanderprallen. Sie stürzen ab, landen in einem Haufen zu meinen Füßen, ihr Nachbeben donnernd und todbringend. Die Scherben graben sich so tief in mich ein, dass ich überall blute. Innen und außen.
Ich bin nicht
benommen.
Ich bin nicht
innerlich tot.
Ich habe so furchtbare Schmerzen, dass mir die Luft wegbleibt.
Ich starre in die Augen meiner besten Freundin, die voller Sorge und wachsender Wut sind, und zerbröckele zu nichts.
Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen.
Shaws Schwester ist für seinen Tod verantwortlich … und Shaw hat es gewusst.