24. KAPITEL
Shaw
»Geht’s ihr gut?« Meine Brust schmerzt so sehr, dass ich überzeugt davon bin, dass jemand auf sie drückt. Ich leide unter Sauerstoffmangel und ersticke schon langsam ohne sie.
»Sie hat auf dem ganzen Weg kein Wort gesagt. Sie schien ziemlich neben der Spur zu sein. Ich habe sie nach drinnen geschafft und wollte bleiben, bis Sierra von der Arbeit nach Hause kommt, aber sie befahl mir zu gehen, deshalb habe ich draußen in meinem Wagen gewartet, bis Sierra kam.«
»Hast du mit ihr gesprochen?«
»Mit wem?«
»Mit Sierra.«
»Nein. Sie hat mich nicht gesehen.«
»Danke«, antworte ich müde. »Dass du dich um sie gekümmert hast.«
»Tu das nicht. Dank mir nicht.« Noah setzt sich neben mich auf die kotzgrüne Secondhand-Couch meiner Schwester. Die flusigen Kissen sind verfilzt und schmutzig. Das ganze beschissene Dekor stammt geradewegs aus den Siebzigern. Die Einrichtung ist museumsreif, aus diversen Stilrichtungen zusammengestellt. Sie passt zu ihr. »Wie geht’s Bluebelle?«, fragt er.
»Wie’s Bluebelle geht?«, wiederhole ich.
Tja, schauen wir mal. Nachdem ich Noah gesimst hatte, dass
er Willow heil nach Hause bringen soll, beschloss ich, meinen Arsch in Bewegung zu setzen und Annabelle selbst zu suchen. Doch als ich in den Flur trat, sah ich sie benommen an der Wand kauern. Statt zurück zur Party zu gehen, wie ich sie angewiesen hatte, war die Göre mir gefolgt und hatte alles mitgehört. Jedes schmutzige Detail einer Nacht, in der sich auf verdrehte, entsetzliche Art die Zukunft zweier Familien überschnitt. Also war mir nicht nur die Chance entgangen, es Willow unter meinen Bedingungen zu erzählen, sondern ich konnte es auch Annabelle nicht schonend beibringen.
Der gesamte Abend war ein Riesenchaos epischen Ausmaßes, und ich kann niemandem dafür die Schuld geben außer mir.
»Sie ist zu ruhig. Ich mache mir Sorgen um sie.«
»Schläft sie?«
Ich stoße einen schweren Seufzer aus. »Sie tut jedenfalls so.«
Noah war stundenlang weg. Inzwischen ist es vier Uhr morgens. Ich bin überrascht, dass er hier aufgekreuzt ist, aber auch wieder nicht. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn hier haben will, schicke ihn aber nicht weg.
Ich starre auf das abscheuliche Kunstwerk an der Wand direkt gegenüber von uns – ein sitzender Frauenkörper, dessen Kopf aus einem einzelnen riesigen Augapfel mit einem weißen Turban besteht, dessen Stoff über die Schultern der Frau drapiert ist. Der Augapfel beobachtet einen, folgt einem durch den Raum. Es ist grotesk und verstörend.
Als Annabelle das Bild für fünf Dollar auf einem Garagenflohmarkt kaufte, war sie so aufgeregt, dass sie kaum an sich halten konnte. Damals sagte ich zu ihr, dass sie für die Mitnahme des Bildes eigentlich Geld hätte kriegen müssen. Sie hatte auf ihre übliche flapsige Art geantwortet: »Du solltest es erst sehen, wenn du high bist.« Als ich es von der Wand reißen
wollte, sagte sie lachend zu mir: »Entspann dich. Ich hab das Bild nie gesehen, wenn ich high war.« Sie trat zurück und betrachtete es nachdenklich. »Ich weiß, du siehst etwas Ekelhaftes, wenn du es betrachtest, aber ich sehe eine Mahnung, auf Kurs zu bleiben. Mit offenen Augen. Ein Fuß vor den anderen. Mehr zu sein, als alle in mir zu sehen glauben.« Sie ist nicht nur klug, sie ist auch einfühlsam. Ich liebe diese introspektive Seite an ihr.
Und was jetzt? Was passiert jetzt, nach all der harten Arbeit, die sie in ihre Genesung gesteckt hat? Ich habe Angst. Eine Wahnsinnsangst. Sie weiß, dass ich bei ihr geblieben bin, und sie kennt auch den Grund. Keiner von uns hat es ausgesprochen, aber ich passe auf, dass sie keinen Selbstmord begeht. Schlicht und einfach.
»Ich könnte was Stärkeres gebrauchen«, verkündet Noah.
»Ja. Ich auch.« Ich mache mir nur Sorgen, dass ich, wenn ich einmal zu trinken anfange, nicht mehr aufhören kann. Außerdem muss ich diesen Mist unbedingt von Annabelle fernhalten. Es ist nicht abzusehen, was sie tut, wenn ich einschlafe, weshalb ich seit Mitternacht schon drei Red Bull getrunken habe. Ich habe vor, bis zum Morgen bei ihr Wache zu halten. Dann werde ich sie unter Protestgeschrei mit zu mir nach Hause zerren, damit ich auf sie aufpassen kann wie ein Schießhund, bis ich mir sicher bin, dass sie nicht vom Kurs abkommt.
»Hast du es deiner Familie erzählt?«
»Nein. Ich habe es als Probleme mit ihrem Freund abgetan. Es war nicht allzu schwer, sie davon zu überzeugen.«
»Und Willow?«
»Ich hab ihnen gesagt, dass sie sich nicht gut fühlte und ich dich gebeten hätte, sie nach Hause zu bringen, weil ich mich um Annabelle kümmern müsste.« Was nicht ganz
gelogen war
.
»Sie werden es herausfinden.«
»Ich weiß. Ich habe vor, morgen mit ihnen zu sprechen. Es ist vermutlich Zeit, reinen Tisch zu machen. Außerdem werden wir alle mit anpacken müssen.« Ich reibe mir mit der Hand übers Gesicht. »Bluebelle wird jahrelang Therapie brauchen, um damit klarzukommen. Und meine Eltern können nicht länger die Köpfe in den Sand stecken.«
»Ich glaube nicht, dass sie es willentlich ignorieren, Merc.«
»Das spielt keine Rolle. Es ist schwer, damit klarzukommen. Das verstehe ich. Aber wenn sie nicht die Augen aufmachen, werden wir sie verlieren.«
Noah nimmt die gleiche Haltung ein wie ich, sackt mit weit gespreizten Beinen auf der Couch zusammen. Wir sind beide noch mit unseren Designer-Anzügen aufgebrezelt und tragen noch unsere teuren Slipper und Zehntausend-Dollar-Armbanduhren.
Ich bin unermesslich reich, doch in dem Moment gibt es auf der ganzen Welt keine ärmere Seele als mich.
Die einzige Frau, die ich jemals lieben werde, will mich nicht wiedersehen, und meine kleine Schwester balanciert auf einem Hochseil, von dem sie in den Tod stürzen kann, wenn sie einmal danebentritt.
»Gib ihr Zeit, Shaw«, sagt er leise, als ich schon denke, er sei eingenickt.
Ich blinzele das Brennen hinter meinen geschlossenen Augenlidern fort. Mir ist zum Heulen.
»Wem von beiden?«, frage ich. Der Frau, die mich hasst, oder der Frau, die weiß, was sie mir genommen hat?
»Beiden.« Er legt die Hand auf meinen Schenkel und drückt ihn. »Beiden.«
Noah rutscht ein Stück weg, lehnt sich in die Ecke und wir verstummen, weil es nichts mehr zu sagen gibt
.
Ich weiß, dass er recht hat, doch mit jeder Sekunde, die ohne Willow verstreicht, ohne von ihr zu hören, ohne zu wissen, was sie denkt, verzweifele ich ein wenig mehr.
Noch vor wenigen Monaten war mein Leben einfach und unkompliziert. Ich tat, was mir Spaß machte, wann ich es wollte und wie ich es wollte. Ich hatte Verabredungen und zahllose Frauen, ohne jedes Schuldgefühl oder mich nach mehr zu sehnen. Ich war frei und zufrieden. Ich hatte alles. Zumindest dachte ich das.
Doch dann kam dieses Höllenfeuer namens Willow Blackwell des Weges, stellte meine Geduld auf die Probe und versetzte meine Seele in Hypnose. In ihr fand ich, was in mir verloren war. Sie ist Farbe, sie ist Sonne, sie ist Regen, sie ist Erde, sie ist Atem, sie ist Wärme, sie ist Salz, sie ist Süße.
Sie ist das Leben.
Sie gehört mir.
Ohne Willow bin ich nichts.
Nur noch der Schatten des Mannes, für den ich mich gehalten habe.
Ich kann sie nicht aufgeben. Egal was sie sagt oder wie viele Barrieren sie mir in den Weg stellt, ich werde es nicht wie Mergen machen und uns aufgeben. So bin ich nicht gestrickt. Das wird nie passieren. Mein Leben war vor ihr auf Pause und wird es ohne sie wieder sein.
Ich habe mich stets für einen recht selbstlosen Menschen gehalten, doch wenn es um Willow geht, bin ich mehr als selbstsüchtig. Ich will alles. Ich will jede Sekunde, jeden Tag, jedes Jahr, jedes Jahrzehnt mit ihr, bis dass der Tod uns scheidet. Ich will mir ein Leben mit ihr aufbauen, um das uns andere beneiden, und ich werde nicht aufgeben, bis ich es habe.
Ich wünsche mir verzweifelt, zu ihr zu gehen und sie zu zwingen, mir zuzuhören, meine Entschuldigung anzunehmen.
Sie zu überzeugen, dass wir das überstehen können, irgendwie. Noch nie im Leben war ich so hin- und hergerissen. Je mehr Zeit ich ihr gebe, desto weiter wird sie sich von mir entfernen.
Aber ich kann Annabelle nicht alleinlassen. Ich kann es nicht. Keine Sekunde. Willow mag sauer und verwirrt und verzweifelt sein, aber ich weiß, dass Sierra gut auf sie aufpassen wird, bis ich es tun kann.
So schwer es auch ist, ich muss hierbleiben. Annabelle ist in Lebensgefahr, und egal wie sehr ich mich nach Willow sehne, mein Platz ist hier. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich nicht hier wäre und sie etwas tun würde, das nicht mehr rückgängig zu machen ist.
Wenn es eine Hölle gibt, dann ist es das, genau hier. Ich stecke bis zu den Eiern in ihrer glühenden Hitze.
Als ich Noahs regelmäßige Atemzüge höre, die signalisieren, dass er eingenickt ist, ziehe ich mein Handy aus meiner Vordertasche und rufe Willows Nummer auf. Sie will nichts mehr von mir hören? Pech. Sie hat anscheinend nicht begriffen, wie hartnäckig ich sein kann, wenn ich etwas will.
Ich tippe eine kurze Nachricht. Mein Finger schwebt nur kurz über der Sendetaste, bevor ich der Frau, die ich mit jeder Faser meines Seins liebe, unmissverständlich klarmache, dass ich sie nicht aufgebe. Ich sage ihr dasselbe, was ich ihr gesagt habe, als sie im Hotel unter mir lag, nachdem ich sie im Skyfall von der Tanzfläche geholt hatte.
Ich werde ihr Zeit und Raum geben. Ich kenne sie. Ich weiß, dass sie es braucht, aber die Uhr tickt, denn das ist nicht unser Ende. Noch lange nicht.
Du bist es wert, um dich zu kämpfen
.
Nichts war es je mehr wert, darum zu kämpfen.