25. KAPITEL
Willow
»Was tust du da?«, fragt Sierra, die im Eingang zum Wohnzimmer steht und mich fragend ansieht.
»Wonach sieht es denn aus?«, antworte ich süß und mache mir nicht einmal die Mühe, zu ihr aufzublicken. Okay, »süß« war vielleicht übertrieben. Egal
. Ich kriege in letzter Zeit ein bisschen wenig Schlaf.
Sie bleibt dort stehen und wartet geduldig, bis ich den Anblick ihrer nackten Füße nicht mehr ertragen kann. Ich blicke von dem Chaos auf, das ich auf dem Teppich angerichtet habe, und sehe in ihre von Sorge erfüllten dunklen Augen.
»Es sieht so aus, als hätte Shutterfly hier drin gekotzt.«
Da könnte sie recht haben. Mein gesamtes Erbe liegt vor mir ausgebreitet.
Überall, auf jeder verfügbaren Fläche, liegen Bilder verstreut. Ich habe alle mit Fotoalben und losen Abzügen vollgestopften Tragetaschen, die ich finden konnte, vom Dachboden meiner Mutter geholt und sie mit nach Hause genommen. Fünf Vorratsbehälter aus Plastik, voll mit Abertausenden von Erinnerungen. Die Hochzeit meiner Eltern, Violets Geburt, meine erste Geburtstagsparty, mein Grundschulabschluss, Violet und ich beim Schneemannbauen vor der Ferienwohnung in Breckenridge, in der wir fünf Tage Urlaub machten, als ich acht war. Meine Eltern kriegten mich nur zum Schlafen ins Haus.
Die Haut an meinen Wangen war noch eine Woche nach unserer Rückkehr aufgesprungen.
»Ich wollte sie schon länger ordnen«, erkläre ich ihr und mache mich wieder an die Arbeit. Meine Mutter hat früher wahnsinnig gern Schnappschüsse gemacht und glaubte nicht an digitale Archivierung. Sie wollte etwas, das sie in der Hand halten, anfassen konnte. »Ein Foto sollte man sich jederzeit ansehen können und nicht im Inneren eines Stücks Plastik aufbewahren«, sagte sie immer.
Nach Violets Tod fotografierte sie immer weniger, meist nur noch zu besonderen Anlässen, deshalb stammt das meiste davon, was sich in diesen Behältern befindet, aus der ersten Hälfte meines Lebens und dem meiner Eltern. Einige Bilder sind schon sortiert, die meisten aber nicht. Sie fristen ihr Leben in dunklen, feuchten, muffigen Schuhkartons.
Ich sehe auf das Bild in meiner Hand und streichele das attraktive jugendliche Gesicht meines Vaters. Seine dicken Brillengläser ließen ihn viel älter wirken als seine siebzehn Jahre. Doch schon damals war er stoisch und gutaussehend. Am Schalk in seinen Augen und der Entschlossenheit in seinem Lächeln kann man erkennen, dass er für Großes bestimmt ist.
Genau wie ein anderer Mann, den ich kenne, an dessen Namen ich im Moment nicht einmal denken kann, ohne zu hyperventilieren.
»Ist das dein Dad?«, fragt Sierra, die mir jetzt über die Schulter sieht.
»Pass auf«, sage ich und ziehe an der Ecke eines Fotos, das sie mit ihren Füßen in Größe einundvierzig zerknittert. Sie hebt seufzend den Fuß, bückt sich und schiebt mehrere Schnappschüsse nach links, um genug Platz zu schaffen, damit sie sich neben mich hocken kann.
»Hey«, schimpfe ich. »Die hatte ich schon geordnet.
«
»In welcher Reihenfolge?«
»Chronologisch. Was für eine Reihenfolge gibt es sonst noch?«
Lachend lässt sie den Blick durch den Raum gleiten. Schneller als ich reagieren kann, reißt sie mir einen dicken Stapel Fotos aus der Hand und hält sie von mir weg, als ich danach greife, um sie zurückzubekommen. Da Sierras Arme gut fünfzehn Zentimeter länger sind als meine, beschließe ich schnell, dass meine Mühe vergeblich ist, und gebe auf, bis sie ihre Meinung losgeworden ist.
»Ich glaube, du betäubst dich mit Mist, der niemandem etwas bedeutet, dich eingeschlossen, damit du dich nicht damit auseinandersetzen musst, weshalb ich in den letzten Tagen die Clique abwehren musste.«
Ich schnaube verächtlich. Die Clique
. Der Einzige, den sie vertreiben musste, war Reid. Er stand jeden verflixten Tag vor der Haustür. Manchmal erweist sich Sierras ungehobeltes Verhalten als nützlich. Sie gibt einen guten Wachhund ab.
»Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Kram?«, schnauze ich sie an und knirsche mit den Zähnen, weil ich so leicht zu durchschauen bin.
»Nun komm schon, du kannst es doch besser, Löw.«
Sie glaubt, sie hätte mich ausgetrickst, doch das hat sie nicht. Ich überlasse ihr den Stapel Fotos, den sie als Geisel hält, und mache mit dem nächsten genau so weiter, wie ich es schon seit Stunden mache.
Alles, um den Schmerz in Schach zu halten.
Nur, dass sie mir auch den nächsten Stapel Schnappschüsse entreißt. Miststück
. Ich werde langsam sauer. Kann man sich nicht mal ungestört in seinem Selbstmitleid suhlen?
Ich nehme mir einen anderen Stapel und sehe sie an. »Ich kann den ganzen Tag so weitermachen.
«
»Ich auch«, kontert sie und nimmt mir auch diese Fotos weg. Sie zieht eine Augenbraue bis zum Anschlag hoch und wartet feixend auf meinen nächsten Schachzug.
»Was willst du, Sierra?«
»Ich will, dass du aufhörst, dich wie eine Bitch zu benehmen und mir sagst, was hier wirklich los ist.«
Verdammt. Das war brutal, sogar für die taktlose Sierra.
»Jetzt bist du ein ganz schönes Biest«, sage ich.
Beleidigt will sie die drei Stapel, die sie konfisziert hat, vor sich auf den Boden werfen, doch sie rutschen aufgrund ihrer Hochglanzveredelung in alle Himmelsrichtungen, und plötzlich ist ihr Schoß voll mit Hunderten von Fotos. Und als eine ziemlich große Spinne zwischen zwei Bildern hervorflitzt und über ihren nackten Fuß huscht, schreit sie, als sei die Apokalypse über uns hereingebrochen. Als sie wild um sich schlägt und tritt, ducke ich mich seitlich weg, um einem unbeabsichtigten rechten Haken auszuweichen.
Sie kreischt, springt umher und zappelt. Bilder kleben an ihren Füßen, Händen und der Hinterseite ihrer Schenkel, und die, die nicht irgendwo kleben, fliegen durch die Gegend.
Die Situation ist so lächerlich, dass ich zu lachen anfange, und ich lache und lache, bis mir die Tränen kommen. Und dann weine ich, bis Sierra wieder neben mir sitzt und mich während meiner quälenden Schluchzer in den Armen hält.
»Du machst mich langsam sauer, weißt du das? Wenn du nicht bald redest, muss ich ihn doch noch anrufen.«
»Tu das nicht«, keuche ich. Ich habe ihr vor sieben Nächten verboten, seinen Namen zu erwähnen. Wenigstens das hat sie respektiert. »Wenn du das machst, werde ich dich für immer hassen.«
»Nein, wirst du nicht. Du wirst mich zur Patentante deines imaginären Babys machen, weißt du noch?
«
Das bringt mich nur noch mehr zum Weinen. Vor meinem Gesicht erscheint ein Taschentuch. Ich schnappe es mir und putze mir als Erstes meine triefende Nase. Ich befreie mich aus ihrer Umarmung und rutsche ein paar Zentimeter zurück, damit ich mich an die Couch lehnen kann. Sierra tut es mir nach und legt ihre Beine auf den Couchtisch.
Seit ich Shaw Mercer kenne, habe ich mehr geweint als je zuvor im Leben. Ich frage mich, was das bedeutet.
»Irgendwann musst du darüber reden, Löwenbräu. Beichten entlastet die Seele«, sagt die Heuchlerin.
Aber ich kann nicht. Ich werde es nicht tun. Ich kann nicht an ihn denken. Ich kann nicht darüber reden. Ich kann nicht ich kann nicht ich kann nicht
. Ich bin nicht stark genug, um mich jetzt damit auseinanderzusetzen.
Ich zupfe ein Bild ab, das Sierra an ihrer Wade übersehen hat, und hebe es hoch.
Johnny Hankins. Mein Date vom ersten Schulball. Von all diesen Bildern musste ausgerechnet das
an ihr kleben.
»Oh Gott, lass mich mal sehen.« Sierra nimmt es mir vorsichtig ab und betrachtet es. »Du hattest das scheußlichste Kleid überhaupt. Ich hab dir ja gesagt, dass du nichts tragen sollst, das im Prinzip wie eine Steppdecke aus Zuckerwatte aussieht.«
»Hey.« Ich entreiße es ihr wieder. »Das war damals in Mode.« Es war wirklich scheußlich. Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich sah aus, als sei ich aus Die Schöne und das Biest
entflohen, nur in knalligem Neonpink und nicht annähernd so elegant.
Sie verzieht das Gesicht. »Das ist ein Bettwärmer.«
»Das war Violets Lieblingsfarbe«, sage ich leise. In jenem Jahr waren Meerjungfrauenfarben in. Blau-, Gold- und Grüntöne. Pinke Kleider waren schwer zu kriegen, und mein erster
Schulball fand zufällig an dem Tag statt, an dem Violet zweiundzwanzig geworden wäre. Ich glaube, ich wollte damals etwas für sie tun. Es war dumm.
Jetzt zieht Sierra die Mundwinkel nach unten, und die Stimmung kippt wieder. Meine Augen werden erneut feucht. Sierra fährt mit einem Finger unter meinem Auge entlang und fängt die erste Träne auf. »Ach Löw … hast du nach all dieser Zeit nicht gelernt, dass du nicht alle Lasten allein tragen musst? Laugt es dich nicht aus?«
Doch
. Ich bin so verdammt erschöpft, dass sich jeder Muskel verkümmert anfühlt.
»Mein Vater hat keinen Selbstmord begangen«, platze ich heraus. »Er hat versucht, Shaws Schwester Annabelle vom Selbstmord abzuhalten, und ist dabei gestürzt.«
»Was?« Ihre Augenbrauen ziehen sich zusammen. Ihre Stimme ist schrill vor Ungläubigkeit. Sie ist von diesem unerwarteten Schlag so verwirrt, wie ich es war.
Ich ziehe die Knie unters Kinn, lege die Arme um meine Schienbeine und betrachte das Chaos, das ich geschaffen habe. Es ist unbegreiflich, dass das Schicksal so grausam sein kann.
Ich hatte ein annehmbares Leben, bevor Shaw aufkreuzte. Manchmal schwer. Einsam vielleicht. Aber ich kam zurecht. Ich hatte akzeptiert, was ich war, wer ich war, mit allen Fehlern. Ich hatte sogar akzeptiert, dass ein Mann oder eine eigene Familie wahrscheinlich für mich nicht vorbestimmt war.
Zumindest, bis ein provokanter, umwerfender, göttlicher Mann in meine Welt stieß. Buchstäblich. Shaw hat mich mit Haut und Haaren erobert, und schon nach wenigen Monaten weiß ich nicht mehr, wo ich ende und er beginnt. Er ist so sehr in jeden Gedanken, jede Handlung und jede Entscheidung eingebunden, dass ich nicht begreifen kann, dass ich nie
mehr hören werde, wie er meinen Namen stöhnt, während er in mich stößt, oder ich nie mehr mitten in der Nacht wach bleiben werde, nur um ihm beim Schlafen zuzusehen, oder dass ich ihm nie wieder Widerworte geben werde, wenn er seine Machtspielchen übertreibt.
Aber wie kann ich das hinter mir lassen? Wie kann ich es akzeptieren? All die Jahre habe ich eine Lüge gelebt, und der Schmerz, der mich verzehrt hat, als mein Vater starb, beherrscht mich jetzt von Neuem. Ich stehe wieder ganz am Anfang. Wie kann ich Shaw oder Annabelle je wieder ansehen, ohne daran zu denken, was ich verloren habe? Wie kann ich ihr verzeihen, selbst wenn ich glaube, dass es ein Unfall war? Wie kann ich Shaw je wieder vertrauen, nachdem er diese Information Gott weiß wie lange vor mir geheim gehalten hat?
Wie?
Gott, ich weiß es nicht.
»Woher weißt du das?«
Ich öffne den Mund, um zu antworten, endlich bereit, ihr mein Herz auszuschütten, als sie schreit: »Warte! Dafür brauchen wir Alkohol. Massenhaft Alkohol.«
Es ist zwei Uhr nachmittags, aber irgendwo auf der Welt ist es schon fünf, oder?
Keine Minute später ist sie mit zwei Schnapsgläsern und einer vollen Flasche Tequila zurück. Das könnte hässlich werden.
»Du machst keine halben Sachen.«
»Ich habe so ein Gefühl, dass Bud Light es nicht bringen wird.«
Mein Lächeln ist dünn, kaum vorhanden. »Da ist was dran.« Ich bin mir nicht sicher, ob mir irgendwas da durch helfen wird. Sie gießt jedem von uns ein Glas ein, das wir schnell
herunterkippen. Dann füllt sie unsere Gläser sofort von neuem. Ich werfe ihr einen strafenden Blick zu, doch sie prostet mir nur zu und wartet, bis ich mit ihr anstoße und trinke. Ich genieße das Gefühl, wie die Wärme sich einen Weg durch meine Brust brennt. Zum ersten Mal seit einer Woche ist mir warm.
»Also …«, hakt sie nach.
Ich hole tief Luft. »Also …« und lege los mit dem, was Shaw mir vor einigen Tagen gestanden hat. Während ich für Sierra Details herunterrassele, bemerke ich, dass die Geschichte Lücken hat, da ich nicht dageblieben bin, um mir alles anzuhören. Warum zum Beispiel ist eine Sechzehnjährige so verzweifelt, dass sie sich das Leben nehmen will? Wusste Shaw, dass es ihr so schlecht ging? Wusste es ihre Familie? Hatte sie es schon einmal versucht? Hat sie es seitdem wieder versucht?
Und was hat mein Vater in jener Nacht zu ihr gesagt? Warum hat er nicht die Polizei gerufen? Warum hat niemand sonst angehalten, um ihnen zu helfen? Und warum – verdammt noch mal warum
– hat sich keins dieser Mädchen bei der Polizei gemeldet und meine Mutter und mich von unseren Qualen erlöst?
Zudem gibt es eine offensichtliche Verbindung zu Violet. Wenn ich das denke, hat mein Vater es auch gedacht, denn es verging kein Tag, an dem er sich nicht gewünscht hat, dass er sie hätte retten können. Genau wie ich. Ich kann mir nur vorstellen, was ihm durch den Kopf ging, als er um diese Ecke bog und auf dem Brückenvorsprung ein Mädchen im Alter seiner toten Tochter sitzen sah.
Würde es eine Rolle spielen, wenn ich die Antworten auf die Hunderte von Fragen wüsste, die mir durch den Kopf gehen? Vielleicht schon, auch wenn ich noch nicht dazu bereit bin, zu tun, was ich tun muss, um sie zu bekommen. Denn das würde
heißen, dass ich mit Annabelle sprechen muss, und ich weiß nicht, ob ich ihren Anblick ertrage.
Ich habe versucht, den verzweifelten Ausdruck in ihrem Gesicht, als ich ihr vor dem Konferenzsaal zufällig über den Weg lief, von mir wegzuschieben, doch sobald ich abends die Augen schließe, sehe ich sie vor mir.
Ihr Blick war gequält. Sie sah verloren aus, zerstört. Vollkommen erschüttert, und ich verstehe nicht warum. Das ist doch nichts Neues für sie. Sie war doch dort
, zum Teufel noch mal. Die ganze Zeit … sie hat es die ganze Zeit gewusst. Sie wusste
, wer ich war. Sie wusste
, was passiert war. Sie wusste
es, und hat nie ein verdammtes Wort gesagt, deshalb hat sie nicht das Recht, am Boden zerstört zu sein. Ich
schon.
»Das ist abgefuckt.«
»Findest du?«
»Was hat dein Ex mit all dem zu tun?«
»Ich weiß nicht genau, aber er wusste es. Er wusste es, und er hat auch nie etwas gesagt. Wie konnte er das tun?« Ich fühle mich so verraten. So unglaublich verraten. Von allen.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Sierra ist sprachlos. Das kommt nicht oft vor.
»Ich brauche noch einen.« Ich halte ihr mein Glas hin, weil ich zu fertig bin, um die Flasche zu heben, die wir jetzt fast um ein Viertel geleert haben.
Sierra schenkt mir noch einen Tequila ein, und wir trinken auch noch ein viertes Glas. Recht bald ist mein Hirn benebelt und meine Finger fangen an zu kribbeln. Es ist ein schönes Gefühl, gefühllos zu werden. Ich sacke in mich zusammen, lehne den Kopf ans Kissen zurück und lasse den Blick nach oben gleiten. Sierra macht es sich neben mir gemütlich.
»Was hast du jetzt vor?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung«, gestehe ich. »Ich liebe
ihn so sehr, aber ich … Ich weiß nicht, wie ich das hinter mir lassen soll, Ser.«
Sierra nimmt meine Hand und hält sie fest und hat ausnahmsweise mal nicht etwas Bissiges oder Sarkastisches zu sagen. Wir sitzen schweigend da, wie wir es schon so viele Male getan haben, wenn das Leben eine von uns so richtig angeschissen hatte.
Ich weiß vielleicht noch nicht, was ich tun werde, aber ich weiß eine Menge anderer Dinge.
Ich liebe Shaw Mercer bis in die dunklen Tiefen meines Wesens. Ich kann ohne ihn nicht atmen. Mein ganzer Körper schmerzt, und bei dem Gedanken, ihn nie wiederzusehen, wird mir schlecht. Sogar meine Haut tut weh. Doch wie kann Liebe ausreichen, um uns da durch zu bringen? Ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist, auch wenn er anderer Meinung zu sein scheint.
Er hat mich nicht angerufen. Er stand nicht vor meiner Tür wie Reid, aber er hat meinen Wunsch, mich nie wieder zu kontaktieren, auch nicht respektiert, und ich weiß noch nicht, wie ich das finden soll.
Jeden Tag erhalte ich dieselbe schlichte Nachricht. Nur eine: Du bist es wert, um dich zu kämpfen
.
Und jeden Tag lösche ich sie, ohne darauf zu antworten, wie am Tag zuvor. Genau so, wie ich es vor all den Jahren bei Reid gemacht habe.
Kann ich Shaw wirklich so gehen lassen, wie ich es mit Reid getan habe? Obwohl die Situation eine völlig andere ist, handele ich genauso. Ich renne weg, verstecke mich und leide allein. Das ist eine Technik, die ich geübt habe, und ich beherrsche sie gut.
»Hier.« Sierra drückt mir ein weiteres volles Glas in die Hand, das ich widerstandslos entgegennehme. In den nächsten
Stunden wiederholen wir diese Prozedur, bis die Flasche leer und die Sonne untergegangen ist und ich meine Glieder nicht mehr spüre.
Zwischen den Shots und dem Smalltalk schaffen wir es, eine Kleinigkeit zu essen und weitere deprimierende Gespräche zu vermeiden, bevor wir unsere betrunkenen Hintern ins Bett schwingen, in dem Wissen, dass wir in etwa sechs Stunden das brutale Brennen des einschmeichelnden Alkohols verfluchen werden. Sierra kuschelt sich ungefragt neben mich, und ich bin ihr insgeheim dankbar, obwohl ich weiß, dass sie mir immer die Decke klaut.
Ich schalte die Lampe aus. Dunkelheit legt sich über uns. Ich lasse mich vom Alkohol betäubt selig in Orpheus’ Arme sinken, als ich es höre …
Das leise Pingen meines Handys.
Ich liege still, atme schnell und weiß, dass er es ist. Ich will nicht nachsehen, werde aber auch nicht einschlafen können, wenn ich es nicht tue. Meine Hand zittert, während sie über dem Handy schwebt, das jetzt ein zweites Mal gepingt hat.
»Schau auf das verdammte Ding, um Himmels willen«, murmelt Sierra, dreht sich von mir weg und zieht schon die Decke mit sich.
»Ich schalte es nur aus«, erwidere ich und ignoriere ihr spöttisches Na klar
.
Ich nehme das Handy in die Hand und blinzele in das helle Licht in dem verdunkelten Raum. Ich starre auf die SMS, von der ich weiß, dass sie mich auf dem Display erwartet.
Du bist es wert, um dich zu kämpfen
.
Ich starre eine ganze Weile darauf. Ich fahre mit den Fingern über die Worte und spüre den glatten Kanten jeder Silbe nach.
Ich höre, wie er sie mir mit seiner Reibeisenstimme ins Ohr flüstert, während er sich über mir bewegt. Ich lasse mir ihre Entschlossenheit etwas mehr ins Bewusstsein dringen. Mit einem langen Seufzer schalte ich das Gerät ab und bin mir dabei vollkommen bewusst, dass ich den letzten Schritt des Rituals, den ich in den vergangenen sieben Tagen einwandfrei ausgeführt habe, nicht gegangen bin.
Ich weiß, dass ich mich dem irgendwann stellen muss, ihnen
stellen muss, darüber reden muss, darüber nachdenken muss, diese neue Realität begreifen muss. Shaw ist dickköpfig und überzeugungskräftig. Deshalb hatte er auch solchen Erfolg bei mir und hat mein Herz erobert. Deshalb liebe ich ihn ja so sehr. Ich glaube nicht, dass er mich in absehbarer Zeit aufgeben wird, wenn überhaupt. Er wird mich nicht einfach zurücklassen, wie Reid es getan hat. Er wird nicht zulassen
, dass ich ihn zurücklasse. Das weiß ich schon.
Deshalb lautet die Entscheidung, die ich treffen muss: Ist Shaw
es wert, um ihn zu kämpfen? Sind wir
es wert? Bin ich willens, mich durch diese unvorstellbare Hölle durchzuschlagen, um herauszufinden, was wir auf der anderen Seite sein könnten? Das ist doch die wahre Frage, denn ob Shaw uns will, spielt keine Rolle. Sondern ob ich
es will.
Und als ich mir endlich erlaube, ins Nichts abzudriften, wünschte ich wirklich, ich hätte die Antwort auf diese Frage. Doch das habe ich nicht.
Jedenfalls nicht heute.