26. KAPITEL
Willow
»Woher zum Teufel hast du meine Nummer?«, höre ich Sierra blaffen.
Ihre Stimme klingt, als würden pfeifende Kugeln von meinem Gehörgang abprallen. Allmächtiger Gott, das schmerzt. Als ich mich umdrehe und eine Bestandsaufnahme meiner Umgebung mache, stelle ich fest, dass mir alles wehtut.
Meine Lippen sind aufgesprungen. Meine Zunge fühlt sich an wie eine dicke Wurst. Meine Kehle ist so trocken, als hätte mir jemand, während ich schlief, einen Löffel feinen Sand in den Mund geschaufelt. Als ich gedanklich meinen Körper durchchecke, fällt mir eine Enge in der Brust auf, doch dann komme ich zu meinem Magen.
Süße Mutter aller Kater.
Mein Magen. Er hüpft, als würde ich mit einem Schwimmreifen eine neun Meter hohe Welle reiten. Die halbe Flasche Tequila, die ich getrunken habe, drängt sich meine Speiseröhre hinauf. Ich halte dagegen, aber der Tequila hat heute Morgen mehr Muckis als ich. Er hat trainiert.
Oh Scheiße
.
Ich atme tief ein und konzentriere mich nur darauf, wie die Luft meine Lungen füllt, und nicht auf die Brühe, die in meinem Magen schwappt, als ich spüre, wie sich das Bett neben mir senkt, weil Sierra sich aufsetzt
.
Um Himmels willen!,
schreie ich sie im Geiste an. Nicht bewegen! Nicht atmen, nicht sprechen, lass mich das nie wieder tun!
»Was für eine Freundin bist du überhaupt?«, stöhne ich und lege mir das Kissen, das ich umklammert gehalten habe, vorsichtig aufs Gesicht. Ich will sterben. Nein, zuerst will ich mir die Zähne putzen und dann will ich sterben.
»Mir ist scheißegal, warum du anrufst, Wilder.«
Wilder? Der einzige Wilder, den Sierra meines Wissens kennt, ist Noah. Warum ruft Noah sie an? Hat Shaw ihn um Vermittlung gebeten, weil ich ihn ignoriere? Da kommt mir ein anderer Gedanke. Er raubt mir den Atem.
Oh Gott … was ist passiert? Geht es Shaw gut? Geht es Annabelle gut? Irgendwas ist passiert. Ich spüre es schwer wie einen Sack Steine auf mir lasten.
Jetzt gesellt sich noch Panik zu der Zusammenkunft in meinem Magen. Ich werfe das Kissen von meinem Gesicht auf den Boden und öffne ein Auge. Aus Angst, den Krieg gegen den Tequila zu verlieren, kann ich mich nicht bewegen. Sierra hat ihre übliche mürrische Miene aufgesetzt, während sie der Männerstimme am anderen Ende zuhört. Während der Anrufer spricht, verdüstert sich ihre Miene noch mehr. Sie sieht mich an, und ihre Augen werden groß, während sie der Stimme noch ein paar Sekunden lauscht, bevor sie mir das Telefon reicht. Sie schnappt sich sofort mein iPad vom Nachttisch, woraufhin mir ganz anders wird.
Was ist denn jetzt wieder?
»Red nicht drumherum, Noah. Sag mir, was los ist«, krächze ich. Die Steine liegen jetzt auf meinen Stimmbändern.
»Willow?«
Aber es ist nicht Noahs Stimme, die durch den Lautsprecher dringt, sondern Shaws, voll und wunderbar. Mein Herz
stolpert. Setzt einen Schlag aus. Eine Welle der Erleichterung überkommt mich, weil er okay ist, legt sich jedoch schnell wieder und wird durch die Erinnerung an alles, was er mir zugemutet hat, ersetzt. Ich sehe zu Sierra auf, um sie mit meinem Blick zu erdolchen, weil sie mich in dem Glauben gelassen hat, Noah sei am Apparat, doch ihr Blick rast über den Bildschirm des iPad.
»Was willst du, Shaw?«
Er seufzt, eindeutig geknickt wegen meines barschen Tones, antwortet mir jedoch trotzdem. »In der Morgenausgabe der 7-Day
ist ein Artikel.«
Was du nicht sagst.
»Was steht drin?«, frage ich, wobei es mir gelingt, nicht ganz so heiser zu klingen.
»Verdammt, Willow«, ist alles, was er erwidert. Ich höre die schiere Frustration und unausgesprochene Entschuldigung in seiner tiefen Stimme, als er hinzufügt: »Ich weiß zwar noch nicht wie, aber ich verspreche dir, dass ich das in Ordnung bringe.«
»Was willst du in Ordnung bringen?«
Wut flackert in mir hoch. Ich setze mich mühsam auf und klemme mir das Handy zwischen Schulter und Ohr. Ich schlucke ein paarmal, bis ich mir sicher bin, dass die schlechten Entscheidungen, die ich am Abend zuvor getroffen habe, erst einmal bleiben, wo sie sind, und reiße Sierra das iPad aus den Händen. »Ist wieder einer deiner und Noahs Fehler
auf Seite eins gelandet?«
Ein scharfes Einatmen, gefolgt von einem leisen »Das habe ich verdient« dringt an mein Ohr, aber ich kann nicht antworten. Ich bin angesichts des vernichtenden Artikels in der 7-Day
erstarrt
.
Eine Wahlkampagnen-Finte?
Noch eine Woche bis zur Wahl, und Bürgermeister Mercers Wahlkampagne wird von einem möglichen Skandal erschüttert.
Schon früh war klar, dass sich Seattles derzeitiger Bürgermeister, Preston Mercer, und sein Konkurrent um das Amt, Wicklow Harrington III, ein angesehener Unternehmer, der schon sein Leben lang in Seattle wohnt, nicht grün sind. Bürgermeister Mercer war in seine jetzige Position gelangt, als Bürgermeister Thurston im April 2015 plötzlich an einem Schlaganfall verstarb.
Auch wenn beide Seiten mit dem Näherrücken des Wahltags den Druck erhöht haben, ist es beiden Lagern gelungen, die typischen Wahlkampf-Schlammschlachten auf ein Minimum zu reduzieren. Jedenfalls bis vor Kurzem.
In einem Interview mit Bürgermeister Mercer letzte Woche sagte er auf die Frage nach den Anschuldigungen durch seinen Gegner, dass er Anreize für neue Firmen, sich in Seattle anzusiedeln, blockiere, freimütig zu einem unserer Reporter: »Meine Bilanz spricht für sich.« Als er gedrängt wurde, auf Harringtons Anschuldigungen zu reagieren, sagte Bürgermeister Mercer: »Ich will einen sauberen Wahlkampf führen, der auf meinen Führungsleistungen basiert und nicht auf meiner Fähigkeit, meinen Gegner zu übertrumpfen. Statt uns einer Rhetorik zu bedienen, die nicht auf Leistung basiert, sollten wir uns weiter auf die Themen konzentrieren, die den Einwohnern von Seattle wichtig sind, wie zum Beispiel die Obdachlosigkeit zu verringern, für bezahlbaren Wohnraum für alle zu sorgen und eine Zivilkontrolle für die Polizei einzuführen. Mein Augenmerk liegt auf meinen Verpflichtungen den Menschen
von Seattle gegenüber. So war es immer und wird es auch immer sein, solange ich das Privileg habe, der Stadt, die ich liebe, zu dienen. Alles andere ist schlicht und ergreifend Zeitverschwendung.«
Angesichts dessen ist es interessant, dass die 7-Day herausgefunden hat, dass Bürgermeister Mercers Wahlkampf vielleicht doch nicht so blitzsauber ist, wie er uns glauben machen will, und dass er vielleicht die frische und zu einem günstigen Zeitpunkt erblühte Beziehung seines ältesten Sohnes mit Willow Blackwell als Finte benutzt, um eine stabile Bilderbuchfamilie vorzugaukeln, die erst kürzlich ebenfalls von der Harrington-Kampagne in Zweifel gezogen worden war.
Ich schnappe nach Luft und lasse das Telefon fallen, während ich den Artikel weiter überfliege.
Blackwell, die als Hörbuchsprecherin für LLK Publishing arbeitet, begann ihre Beziehung zu Shaw Mercer, Co-CEO von Wildemer & Company, nur wenige Tage vor der offiziellen Wahlkampagne für Bürgermeister Mercer. Es gibt Spekulationen, dass Blackwell außerdem für ein exklusives Unternehmen arbeitet, das im Austausch gegen strikte Vertraulichkeit und einen happigen Preis attraktive Begleiterinnen vermittelt, wodurch sie sich laut unserer geheimen vertraulichen Quelle auch kennengelernt haben, und nicht aufgrund eines Autounfalls, wie es das Paar vor wenigen Wochen in einem Interview mit der 7-Day behauptet hat.
Oh. Mein. Gott. Ich kriege keine Luft. Ein scharfer Schmerz durchbohrt meine Brust
.
Blackwell und ihre Mutter Evelyn sind die Hinterbliebenen des Wissenschaftsforschers Charles Blackwell. Charles Blackwell, von Kollegen und Freunden »CJ« genannt, nahm sich im November 2012 das Leben, was Aurora Pharmaceuticals und die wissenschaftliche Community in einen Schockzustand versetzte. Eine überraschende Wendung dabei ist, dass Wildemer & Company, eine weltweit tätige Unternehmensberatungsfirma, Aurora Pharmaceuticals bei ihrem Börsengang unterstützt, der für Anfang des nächsten Jahres geplant ist.
Ich suche den Rest des Artikels nach einem einzigen Namen ab, doch Randi wird zum Glück nicht erwähnt. Unfähig, auch die zweite Hälfte zu lesen, lasse ich das iPad auf die Matratze fallen.
Die einzige gute Nachricht ist, dass der Tequila beschlossen hat, mich vorerst zu verschonen.
Wie zum Teufel konnte das passieren? Wer wusste davon? Was für einen Rückschlag wird Prestons Wahlkampf dadurch erleiden? Und, oh mein Gott, was wird Randi tun, wenn sie davon erfährt?
Jesus, Maria und Josef. Das ist niederschmetternd. Und egal was Shaw sagt, das ist nicht in Ordnung zu bringen. Das ist viel schlimmer als das Foto von ihm und der Frau. Das ist existenzbedrohend. Für uns alle.
Ich muss etwas tun. Irgendwas. Ich stelle fest, dass Sierra samt ihrem Telefon verschwunden ist. Ich schnappe mir meins vom Nachttisch und schalte es an. Nur Sekunden später kommen die Mitteilungen rein.
Shaw (7:32): Anruf in Abwesenheit
Reid (7:33): Anruf in Abwesenhei
t
Shaw (7:33):
Ich weiß, dass du noch sauer bist, aber ruf mich bitte an. Es ist dringend
.
Reid (7:34):
Ich muss mit dir reden. Es geht nicht um neulich Abend. Ruf mich bitte sofort zurück
.
Randi (7:44): Anruf in Abwesenheit
Shaw (7:44):
Willow … ich spaße nicht. Ich muss mit dir reden. Es kann nicht warten
.
Randi (7:45):
wir müssen reden … sofort
Reid (7:46):
Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich stur zu stellen. Es ist unerlässlich, dass ich so bald wie möglich mit dir rede
.
Jo (7:53):
Was zum Teufel hast du gemacht, Mädel?
Millie (7:59): Anruf in Abwesenheit
Shaw (8:01): Anruf in Abwesenheit
Reid (8:03): Anruf in Abwesenheit
Randi (8:05):
Ruf mich an oder du bist gefeuert
Shaw (8:10):
Ich verspreche dir, Goldlöckchen, wenn ich in zehn Min nichts von dir höre, wirst du eine Woche nicht mehr sitzen können
.
Und die Liste geht immer so weiter, jede Nachricht zunehmend dringlicher und drohender. Mehr und mehr verpasste Anrufe. Mein Blick fällt auf die Digitaluhr. 8:35.
Ich bewerte die Dringlichkeit und beschließe rasch, dass Randi am entscheidendsten ist. Ich bin nicht so wichtig. Was passiert ist, ist passiert. Ich werde schon morgen mit der nächsten Schlagzeile in den Hintergrund rücken. Sie
wird dran glauben müssen. Die »anonyme« Quelle weiß über Randi Bescheid, über ihr Geschäft, und wenn irgendein gieriger Reporter anfängt, weiter zu graben, könnte das großen Ärger für sie bedeuten, egal ob beabsichtigt oder nicht.
Hitze wälzt sich langsam und schmerzhaft prickelnd über meine Haut. Ich will genauso gerne mit ihr reden, wie ich zu
meiner eigenen Hinrichtung eskortiert werden will. Und ich habe zur Aufklärung nichts beizutragen, da ich keinen Schimmer habe, was passiert ist.
Scheiße.
Scheiße, scheiße, scheiße!
Ich bin tot. Sie wird mich umbringen. Ich wusste, dass das eine schlechte Idee war. Ich weiß, ich hätte aus ihrem Büro und von dem einzigen Mann, in dessen Gegenwart ich mich lebendig fühle, fortgehen sollen. Selbst wenn ich nicht zu La Dolce Vita zurückkehren wollte, so
sollte mein Abgang ganz sicher nicht aussehen. In einen Skandal verwickelt. Und dass gegen sie möglicherweise Strafantrag gestellt wird.
Megascheiße.
In den wenigen Sekunden, die ich gebraucht habe, um mir das durch den Kopf gehen zu lassen, hat mein Telefon noch sechs Mal gebrummt. Jetzt läutet es. Und als hätten ihr die Ohren geklingelt … ist es Randi.
Ich leite ihren Anruf auf die Mailbox um und rufe sofort die Nummer des einzigen Menschen auf, mit dem ich über die Sache reden kann. Des einzigen Menschen, der mich nicht auf der Stelle erschießen wird.
Das Telefon klingelt nur zwei Mal, bevor er drangeht.
»Ich habe mich schon gefragt, ob du anrufen würdest«, sagt er mit einer Stimme, in der nicht die Leichtigkeit liegt, an die ich mich gewöhnt habe. Obwohl er es nicht sehen kann, ziehe ich die Mundwinkel nach unten.
»Jetzt brauchst du dich nicht mehr zu fragen.«
»Wie geht’s dir?« Seine Stimme ist tief und voller Sorge. Am liebsten würde ich weinen. Ich frage mich, ob Shaw neben ihm steht. Ich stelle mir vor, wie er hin und her tigert und immer aufgewühlter wird, je länger wir reden.
Ich lege mich wieder hin und versuche das Schwappen in
meinem Magen und die Schwere in meinen Gliedern zu vergessen. »Ich würde sagen, auf einer Skala von eins bis zehn bin ich etwa bei minus drei.«
Noah gibt ein mitfühlendes Geräusch von sich. »Tut mir leid, Süße.«
Ja. Mir auch. Dann komme ich zur Sache. »Du weißt nicht zufällig, wer das war?« Aus irgendeinem Grund kommt mir das alles ein wenig zu persönlich vor, obwohl ich weiß, dass es wahrscheinlich nur schmutzige Politik ist.
»Noch nicht, aber wir finden es heraus. Das kannst du mir glauben.«
Ich habe keinen Zweifel daran, dass Shaw keine Ruhe geben wird, bis er weiß, wer am Marterpfahl gefoltert werden muss.
»Na schön.« Ich seufze und gehe zur nächsten wichtigen Frage über. Denn obwohl mir jetzt egal sein sollte, was mit Shaw und dem Rest der Familie Mercer passiert, lautet die schlichte Tatsache, dass es mir das nicht ist. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es das auch nie sein wird.
»Sag mir, wie ich helfen kann.«