27. KAPITEL
Shaw
Die letzten vierzehn Tage waren die reinste Höllenfahrt.
Jede einzelne Sekunde.
Seit dem Fiasko auf der Benefizveranstaltung meines Vaters habe ich nicht nur vierzehn Nächte allein in meinem Bett verbracht, sondern auch noch rund um die Uhr auf Annabelle aufgepasst und versucht, den nuklearen Niederschlag, der aus dem Artikel in der 7-Day
letzte Wochen resultierte, zu beseitigen. Außerdem musste ich, um Letzteres zu erreichen, Seite an Seite mit meinem Erzfeind arbeiten.
Inzwischen würde ich mir am liebsten die Pulsadern aufschneiden. Ich bin erschöpft. Ich bin wütend, und ich hungere nach einer Frau, von der ich nicht weiß, ob ich sie je wieder schmecken werde.
Innerhalb einer Stunde, nachdem die Enthüllungsstory erschienen war, hatte Mergen einen Schlachtplan entworfen und damit endlich den Wert unter Beweis gestellt, den er für die Wahlkampagne meines Vaters hat. Ich musste widerwillig zustimmen, dass es ein guter Plan war, doch er erforderte Willows Kooperation, und ich war mir nicht sicher, ob sie mitziehen würde. Ich wusste nicht mal, ob ich ihr eine Verweigerung hätte verübeln können.
Ich wollte der Mann sein, der ihr Sicherheit vermittelt. Der, auf den sie vertrauen kann. Deshalb kann es gut sein, dass ich,
als mir klar wurde, dass Noah mit ihr sprach – dass sie ihn
zurückgerufen hatte, um die Details zu erfahren, und nicht mich
–, die Beherrschung verlor.
Mein Vater, Mergen, Noah und ich waren zu dem Zeitpunkt bei mir zu Hause in meinem Arbeitszimmer, in dem es jetzt eine Flasche sehr teuren Hennessy 250 weniger gibt. Obwohl ich später den gesamten Teppich habe dampfreinigen lassen, kriege ich den Alkoholgestank nicht wieder raus. Und die Delle in der Wand, gegen die ich die volle Flasche geworfen habe, muss immer noch in Ordnung gebracht werden.
Doch nach diesem kleinen Wutausbruch musste ich über die Qual hinwegsehen, die sich durch meine Seele fraß, und mich dem unmittelbar vorliegenden Problem widmen. Ich saß nicht besonders geduldig da, während Noah in aller Ruhe meiner
Freundin erklärte, welche Schritte wir unternehmen müssten, um den Schaden zu begrenzen.
Überraschenderweise willigte sie ein, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund würde Willow für Noah alles tun. Wenn ich
sie darum gebeten hätte, hätte ich mir wahrscheinlich fantasievolle Kraftausdrücke anhören müssen.
In den vergangenen sechs Tagen haben Willow und ich dem World Herald
, der größten und seriösesten Tageszeitung in Seattle, ein Interview gegeben sowie weitere Interviews jedem größeren Nachrichtensender der Stadt. Natürlich entkräfteten wir den 7-Day
-Artikel, indem wir ihre vergangene Berichterstattung als typisch für ihre unverfrorene Unterstützung von Harrington bezeichneten und darauf hinwiesen, dass sie ganz offensichtlich mit mir ein Hühnchen zu rupfen hätten.
Indem Mergen aufdeckte, dass die Chefredakteurin der 7-Day
rein zufällig und praktischerweise die Großcousine von Harringtons Frau ist, zogen wir subtil ihre Integrität in Zweifel. Ich wünschte, das hätte ich gewusst
.
Und neben all dem haben wir uns demonstrativ oft gemeinsam in der Öffentlichkeit gezeigt, während Mergen Reportern anonyme Hinweise gab, wo wir anzutreffen wären.
Händchenhaltend aus dem Rathaus kommend.
Bei intimen Abendessen auf dem Wasser.
Bei einem Ausflug ins Kindermuseum mit meiner Nichte und meinen Neffen.
Irgendwie haben wir die Öffentlichkeit davon überzeugt, dass wir stärker sind als je zuvor, obwohl wir alles andere sind als das. Nach einer qualvollen Woche, in der wir getrennt waren, verbrachte Willow nicht aus freien Stücken Zeit mit mir, sondern weil sie dazu gezwungen war. Sie stürzte sich in die Aufgabe, die sie am besten beherrscht. Für die ich sie ursprünglich engagiert hatte. Sie spielte meine Freundin mit Perfektion, und mit Spielen meine ich eindeutig Schauspielern.
Sie kleisterte sich das verträumte Lächeln ins Gesicht, das sie mir unzählige Male geschenkt hatte.
Sie ließ sich für die Kameras von mir berühren und mit Aufmerksamkeiten überhäufen.
Sie streifte mit ihren Lippen meine Kieferpartie und klimperte mit routinierter Schüchternheit mit den Wimpern, wenn ich ihr sagte, dass sie mir den Atem raubt.
Doch wenn sich das Blitzlichtgewitter legte und wir allein waren, sah ich es. Ich hatte Monate gebraucht, um bis zum Grund dieser verborgenen blauen Tiefen vorzustoßen, doch jetzt nahm mir eine trübe, undurchdringliche Dunkelheit die Sicht.
Davor habe ich mich am meisten gefürchtet.
Sie hat vollkommen dichtgemacht. Mich total ausgeschlossen. Sie sitzt neben mir und ist eine ganze Welt entfernt, und ich weiß nicht, wie ich sie zurückbekommen soll.
Diese Wahrheit verbrennt mich bis ins Mark
.
Sie verbrennt mich genau in dieser Sekunde, während ihr warmer Körper an meinen geschmiegt ist und ihr Arm um meine Taille liegt.
Es ist Tag X. Wahlabend. Der Tag, vor dem ich mich gefürchtet habe, seit ich Randi Deveraux’ Büro mit Willows noch feuchter Unterschrift verließ.
Meine ganze Familie ist hier und wartet. Da würde es doch merkwürdig aussehen, wenn meine Freundin nicht an meiner Seite wäre, oder?
»Kann ich dir etwas holen, meine Schöne?«, frage ich sie. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Schläfe und atme den Kokosnussduft ihres Shampoos ein. Sie atmet schneller. Mein Schwanz zuckt. Er vermisst sie so sehr wie ich.
»Nein danke. Ich brauche nichts«, antwortet sie kurz angebunden.
Ich ziehe einen Mundwinkel hoch, bin jedoch weit von einem Lächeln entfernt.
Ich habe es satt. Ihre Ausweichmanöver. Ihre Sturheit. Ich toleriere das jetzt seit zwei Wochen, und meine Geduld ist langsam am Ende.
»Wenn das vorbei ist, unterhalten wir uns.«
»Wir unterhalten uns doch jetzt.«
Allmächtiger. Am liebsten würde ich mein Gesicht zwischen ihren Beinen vergraben, bis sie so erschöpft und ermüdet ist, dass sie sich jedes gottverdammte Wort anhört, das ich zu sagen habe.
Stattdessen sehe ich an die Decke und bete um Geduld. Ich habe nicht mehr so viel gebetet, seit ich mir mit zwölf Jahren einen hellen Labrador gewünscht habe.
»Ich habe diesen Quatsch satt, Willow. Diesen ganzen oberflächlichen Mist, den du mir diese Woche geboten hast. Wir müssen uns wie Erwachsene unterhalten, ohne die Kameras.
Nur du und ich.« Sie versteift sich neben mir, behält jedoch das falsche Lächeln auf den Lippen. Ich beuge mich zu ihr hinunter und flüstere ihr ins Ohr: »Das schuldest du mir, Goldlöckchen.«
Ihr Lächeln gerät ins Wanken. Nur ein wenig, aber sie kriegt es in Rekordzeit wieder in den Griff. Sie sieht zu mir auf und klimpert liebevoll mit ihren langen Wimpern, doch ihre Stimme strotzt von Ungläubigkeit. »Ich
schulde es dir?
Das ist absurd. Ich erinnere mich deutlich daran, wie du
mir erzählt hast, du würdest immer ehrlich zu mir sein. Und ich war so dumm, dir zu glauben.«
An dem Tag, als die 7-Day
-Story gedruckt wurde, brach der Vorsprung meines Vaters um ganze fünf Prozentpunkte ein, was seine Führung vor Harrington auf einen Minimalabstand verringerte. Eine Woche später sind seine Umfragewerte wieder um drei Prozentpunkte gestiegen, doch es ist immer noch bedrohlich eng, und was ein Erdrutschsieg hätte sein sollen, ist jetzt zu knapp, um den Wahlausgang vorherzusagen.
Es sollte mich mehr interessieren, ob mein Vater gewinnt oder nicht. Immerhin ist das der einzige Grund, warum diese Schönheit mich mit kaum verhohlenem eisigem Blick wütend anstarrt. Doch das Einzige, was mich interessiert, ist sie und wie ich sie zurückgewinnen kann.
Ich drehe mich um und drücke meinen Körper fest an ihren. Ihr Atem stockt, doch sie weicht nicht vor mir zurück, weil eine bis über beide Ohren verliebte Freundin nicht so handeln würde.
Wir stehen im hinteren Teil des brechend vollen Saales, während alle Blicke auf die aktualisierten Umfrageergebnisse gerichtet sind, die über den unteren Teil einer riesigen Leinwand laufen. Aber mir wäre es auch egal, wenn wir im Mittelpunkt des Interesses stünden
.
Es würde mich nicht davon abhalten …
Ich nehme ihr Gesicht in meine Hände und gebe ihr keine Chance, sich mir zu verweigern, als ich meine Lippen auf ihre drücke und sie sanft und zärtlich küsse. Das ist real, keine Show. Ich bewege meinen Mund langsam auf ihrem, mit Entschlossenheit, so wie beim ersten Mal, als ich sie geküsst habe. Ich fahre mit der Zunge über den Rand ihrer weichen Lippen. Ich beiße spielerisch in ihre Unterlippe, bis sie ihren Widerstand aufgibt und ihr Stöhnen zu einer süßen Symphonie der Unterwerfung wird.
Ich spanne meine Muskeln fest an, um sie zu zwingen, mit mir vereint zu bleiben. Sie hat sich die ganze Woche nicht so von mir küssen lassen, und ich bin gierig. Unersättlich. Ich werde nie genug bekommen. Ich küsse sie weiter, bis ihre Hände meinen Rücken hinaufgleiten und sie mich, willentlich oder nicht, fester an sich zieht.
Ich erlaube meinem Herzen, sich hoffnungsvoll in die Höhe zu schwingen.
Sie will genauso wenig wie ich, dass es endet. Sie weiß nur nicht, wie sie diese Sache durchstehen soll. Ich weiß darauf auch keine Antwort. Ich weiß nur, dass wir es Seite an Seite tun müssen.
»Ich liebe dich«, sage ich entschieden an ihren geschwollenen Lippen, als ich mich von ihr löse und meine Stirn an ihre lege. Ihre Augen schließen sich, während ich spreche, doch ich muss meine offen halten. Ich muss jede einzelne Reaktion beobachten. »Du hattest in der Sekunde, als ich davon erfuhr, die Wahrheit verdient. Es tut mir leid. Das war falsch von mir. Ich hatte Angst. Ich hatte noch nie im Leben solche Angst, etwas zu verlieren, Goldlöckchen. Dich, Annabelle. Alles, was ich liebte, stand auf dem Spiel.«
Ihr Griff lockert sich. Ihre Hände sinken zu meinem
unteren Rücken, und jetzt berührt sie mich kaum noch, nur ihre Fingerspitzen halten Kontakt. Ich fühle mich ihrer Nähe beraubt.
»Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, Shaw«, sagt sie leise. Sie verbirgt immer noch ihre Augen vor mir, obwohl sie offen sind. Sie hält den Blick gesenkt, während sie mit den Händen von meinem Rücken zu meinen Seiten fährt und sich in den Stoff meines Anzughemds krallt. Jetzt spüre ich nicht einmal mehr ihre Wärme. »Ich liebe dich, aber ich weiß nicht, ob das reicht.«
Der Wind, der noch vor einer Minute meine Segel aufgebauscht hat, ist plötzlich still und stickig. Ich sitze auf dem Wasser fest.
Was soll ich tun? Ich versuche, nicht in Panik zu geraten. Logisch zu denken, strategisch.
Meiner Erfahrung nach wird Bitten bei Willow nichts bringen, aber vielleicht die Wahrheit. Das ist mein letzter Schachzug.
»In jener Nacht ist ihr etwas Schlimmes passiert, Willow. Selbst ich habe erst vor Kurzem die Einzelheiten erfahren.« Ich halte inne, weil es mir schwerfällt, an den nächsten Teil zu denken, ganz zu schweigen davon, es auszusprechen. »Sie wurde fast von ihrem Junkie-Arschloch von Freund vergewaltigt und … ja, sie stand unter Drogen, aber ihr ging es schon vorher psychisch nicht gut.«
Ich sollte das nicht hier mit ihr bereden, doch nach heute Abend habe ich vielleicht keine Chance mehr dazu. Wenn sie beschließt, dass zwischen uns Schluss ist, könnte ich sie nie mehr wiedersehen, denn sie ist stur, entschlossen und standhaft in ihren Entscheidungen. Wie ich.
»Ich will das nicht entschuldigen, aber Annabelle erinnert sich nicht, was in jener Nacht passiert ist, nachdem sie
weggelaufen war. Sie erinnert sich nicht, dass sie springen wollte, oder daran, dass dein Vater vorbeikam oder … an den Unfall. An nichts davon. Ihr war nicht einmal klar, dass da eine Verbindung bestand. Das wusste keiner von uns, bis Mergen damit drohte, dir davon zu erzählen, wenn ich mich nicht zurückziehe.«
Jetzt schlägt sie ihre faszinierenden Augen auf. Unzählige Emotionen durchfahren sie, und ich sehe jede einzelne davon in die nächste überblenden. Verwirrung, Erkenntnis. Traurigkeit, dann Besorgnis.
»Ich wollte, dass du die ganze Geschichte kennst, nicht die fragwürdige Version, die dein Ex zu verbreiten gewillt war. Ich habe nicht versucht, etwas vor dir geheim zu halten, Willow. Ich habe nur überlegt, wie ich es dir am schonendsten beibringen kann. Ihnen allen. Aber ich hatte immer vor, es dir zu sagen. Bitte glaub mir das.«
»Annabelle stand vor der Tür, als ich ging. Sie wirkte …« – sie hält nachdenklich inne – »verstört.«
Ich nicke. »Sie hat es zur selben Zeit erfahren wie du. Sie ist mir gefolgt und hat gelauscht. Ich hatte versucht, einen Weg zu finden, es euch beiden zu sagen, ohne …« Ich reibe mir mit einer Hand das Gesicht. Ich will jetzt alles offenlegen. Wie selbstsüchtig ich gewesen bin
. »Ohne einen von euch zu verlieren.«
Sie verzieht ungläubig das Gesicht, während sie verarbeitet, was ich ihr sage. »Oh mein Gott.« Sie macht sich von mir los, tritt beiseite und sieht sich im Saal um.
Ich habe mich heute Abend absichtlich von meinen Eltern ferngehalten. Gemäß meiner Weisungen weicht Annabelle ihnen nicht von der Seite, während Noah sie im Auge behält. Ich hielt es für keine gute Idee, wenn Annabelle und Willow heute Abend aufeinanderträfen. Dafür sind die Wunden zu frisch
.
»Geht es ihr gut? Ich meine, ist sie … du weißt schon?«
Oh, wie ich diese Frau liebe. Sie ist so verdammt selbstlos. Und dass sie sich sogar um Annabelle sorgt, heißt
etwas. Ich weigere mich, etwas anderes zu glauben.
Ich schlinge den Arm um sie. »Sie wohnt bei mir.« Auch wenn sie deshalb Tag und Nacht rummeckert. »Sie macht seit letzter Woche eine Therapie, und ich habe ihren Sponsor auf Kurzwahl gespeichert. Sie verbringt momentan nicht viel Zeit allein. Dafür sorge ich.«
Sie stößt einen langen verhaltenen Atemzug aus. »Gut. Das ist … das ist gut.«
»In jener Nacht.« Ich muss mich räuspern und von vorne anfangen. »In jener Nacht hat die Polizei sie und drei ihrer Freundinnen etwa eine Viertelmeile vom Unfallort entfernt aufgegriffen. Ich hatte noch nie im Leben so viel Angst wie in dem Moment, in dem ich diesen Verhörraum betrat und den Geist meiner Schwester dort sitzen sah. Wir haben sie sofort in eine Entzugsklinik gebracht, und ich will ehrlich sein, sie hatte zu kämpfen. Letztes Jahr hat sie einen Fehltritt begangen und ist freiwillig wieder zurückgegangen und …« Ich atme tief durch. »Entsetzen beschreibt nicht mal annähernd, was ich über ihren Rückfall empfinde. Das ist alles sehr schwer für sie. Für uns alle
.«
Stille senkt sich über uns. Ich frage mich, was sie denkt. Ich mache mich bereit, von ihr zu verlangen, dass sie nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses mit mir irgendwo hingeht, wo wir allein sind, als sie ihren Kettenanhänger zwischen zwei Finger nimmt, ihn an der Silberkette hin und her zieht und leise sagt: »Meine Schwester Violet ist mit siebzehn an einer Überdosis Drogen gestorben.«
Ich schnappe nach Luft. Himmel Herrgott. Ihre ganze Familie ist dezimiert worden. Kein Wunder, dass sie so verschlossen
ist. Sie hält die Kette umklammert, als würde sie ihr Kraft geben. Auf einmal ist mir egal, ob Mergen etwas damit zu tun hatte. Mir ist alles egal außer ihr.
»Willow, Liebling. Das tut mir wahnsinnig leid.« Ich ziehe sie näher zu mir und drücke ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Ich war damals zwölf. Sie war meine beste Freundin und die beste große Schwester, die man sich wünschen konnte.« Ich spüre körperlich, wie ihr Schmerz auf mich übergeht. Ich kann es kaum ertragen. »Sie war ein musikalisches Wunderkind. Sie hat Klavier gespielt wie niemand sonst auf der Welt.«
»Wie Annabelle«, flüstere ich unwillkürlich. Ich fange zufällig den Blick meiner kleinen Schwester auf, die mir gezwungen zulächelt.
»Ja, wie Annabelle. Deine Schwester erinnert mich sehr an Violet. Sie ist begabt, klug und schön. Sie hat grenzenloses Potenzial.«
»Allerdings«, stimme ich zu und wünschte, Annabelle würde all das Gute in sich sehen, wie andere es tun.
Willow hebt den Kopf und sieht mir in die Augen. Ihre blauen Augen sind traurig. »Aber sie ist auch sprunghaft, ruhelos und bewegt sich am Rande des Abgrunds. Sie hat denselben Ausdruck, den meine Schwester hatte, bevor …«
Ich brauche einen Augenblick, bis ich antworten kann. »Ich weiß.« Deshalb ist auch rund um die Uhr jemand bei ihr.
»Sie braucht dich jetzt. Deine Familie
braucht dich jetzt.«
Mir behagt das Gefühl nicht, das dieser freundliche Satz bei mir hinterlässt. Ich drücke sie an mich. »Was willst du mir damit sagen?«
Sie spannt sich an, als wollte sie sich zurückziehen, doch ich halte sie unerbittlich fest.
»Mit uns ist es nicht vorbei, Willow. Es wird nie
vorbei sein. Du
bist meine Familie. Du bist dazu bestimmt, mein zu sein.
Meine Geliebte. Meine Frau. Die Mutter meiner Kinder. Ich weiß, das durchzustehen, wird nicht leicht sein, aber ich lasse die Liebe meines Lebens nicht von mir gehen.«
Als sie den Mund öffnet, bricht der ganze Saal in Jubel aus. Ich lasse sie automatisch los, um zu sehen, was das Chaos verursacht hat, und als ich zu der Leinwand hochblicke, sehe ich, dass das offizielle Endergebnis da ist.
Mein Vater hat mit 52 Prozent der abgegebenen Stimmen gewonnen.
Mein Vater hat gewonnen.
Süße Erleichterung durchströmt mich. Ich fange den Blick meines Vaters auf und grinse, als er mir dankbar zunickt. Meine Mutter strahlt, und Annabelle täuscht Freude vor, ist aber unruhig. Ich bin hin- und hergerissen, ob ich zu ihr gehen oder bei Willow bleiben soll, doch als ich sehe, wie Noah meiner Schwester den Arm um die Schultern legt und sie ihn scherzhaft in den Magen boxt, weiß ich, dass sie in guten Händen ist.
Ich ignoriere, dass Mergen uns anstarrt, und drehe mich im selben Augenblick zu Willow, als sie sich zu mir dreht.
Sie lächelt, doch ihr steht keine echte Freude im Gesicht geschrieben. Sondern Abschied und Abschluss. Es haut mich fast um. »Gratuliere. Du hast es geschafft.«
»Wir
haben es geschafft«, erwidere ich und will sie wieder umarmen. Sie legt die Hände auf meine Brust und hält mich auf Distanz. Ich hasse diesen Abstand. Jeden verflixten Zentimeter.
Sie schüttelt den Kopf und sagt: »Ich hatte damit nichts zu tun. Ich glaube sogar, dass ich ihn fast den Sieg gekostet hätte.«
»Das stimmt nicht. Du hattest alles damit zu tun, Willow. Alles.«
Du hast mein Leben verändert. Meine Welt. Meine Ziele. Mich
.
Willow knüllt mein Hemd in ihren Fäusten zusammen und zieht dabei an ein paar Brusthaaren, doch ich zucke nicht zusammen. Sie reckt sich auf die Zehenspitzen und drückt mir einen keuschen Kuss auf die Wange. Es fühlt sich endgültig an. Ich schließe die Augen. Sie werden schon feucht.
»Ich muss gehen«, flüstert sie, ihre Lippen immer noch an meiner Wange.
»Du musst bleiben.« Ich halte sie fester. »Bitte«, flehe ich sie an. Ich werde vor ihr kriechen, mich ihr zu Füßen werfen, meinen ganzen Besitz verkaufen. Ohne sie habe ich sowieso nichts mehr. »Bitte, Willow. Ich tue alles, was du willst. Bitte geh nicht ohne mich aus dieser Tür.«
Wenn sie es tut, sind wir fertig miteinander.
»Ich kann einfach nicht.« Sie streicht mit den Lippen über meinen Kiefer bis zu meinem Ohr. »Richte deinem Vater meine Glückwünsche aus und sag ihm, dass es mir leidtut, dass ich es ihm nicht persönlich sagen konnte. Und pass auf deine Schwester auf. Sie braucht dich jetzt mehr als je zuvor.«
»Ich brauche dich
, Goldlöckchen. Jetzt mehr als je zuvor.« Aber wenn sie mich gehört hat, reagiert sie nicht, denn sie geht schon weg. Als hätte die Uhr Mitternacht geschlagen und ihre Kutsche verwandelte sich wieder in einen Kürbis zurück, geht sie fort.
Mit jedem präzisen Schritt, den sie auf den Ausgang zugeht, wird mir ein weiteres Teil meiner Seele gewaltsam herausgerissen, und ich weiß …
Das ist der Abschied.