28. KAPITEL
Willow
Ich klingele an der Tür und drehe mich zur Einfahrt, während ich warte.
Es ist kalt heute, mit Temperaturen unter zehn Grad. Und es ist trist, selbst für Seattle. Das Wetter spiegelt perfekt meine Stimmung wider.
Vor einer Stunde hat der dunkle Himmel seine Schleusen geöffnet, und seitdem regnet es in Strömen. Kalter Regen durchschneidet die Luft im Dreißig-Grad-Winkel, und ich rücke näher ans Haus, um nicht noch nasser zu werden, als ich schon bin.
Meine Jeanshose klebt an meinen Beinen. Aus meinen Haarspitzen tropft Wasser, und das alles nach einem kurzen Sprint von meinem Wagen zum Hauseingang. Ich fahre mit dem Finger unter meinen Augen entlang, um zu sehen, ob meine Mascara verläuft. Ein Blick auf die schwarze Farbe bestätigt das.
Ich gebe mir alle Mühe, mich salonfähig zu machen, und verfluche die Tatsache, dass der Regenschirm, den ich sonst immer im Wagen habe, mitsamt dem Fiat abgeholt wurde, als Shaw ihn hat abschleppen lassen. Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihn durch einen neuen zu ersetzen.
Ich starre den schwarzen Audi an und erinnere mich an den Tag in Shaws Büro, als ich versuchte, ihm den Wagen
zurückzugeben. An den grimmigen besitzgierigen Ausdruck, der seine Kieferpartie schärfte und seine Augen verdunkelte. An das Schwächegefühl, als er verlangte, dass ich mich ausziehe, und das Gefühl der Macht, als ich ihm ein langes Stöhnen entlockte, als er mich über seinen Schreibtisch beugte. Das Gefühl, besessen und verehrt und verzehrt zu werden, als er über mich herfiel. Erfüllt zu sein.
Ich erinnere mich an Dinge, an die ich mich nicht erinnern will, kann mich aber nicht zwingen, sie zu vergessen.
Warum geht er mir nicht aus dem Kopf? Warum kann ich diesen verdammten Splitter nicht finden und das Scheißding rausziehen, damit die Wunde heilen kann? Wann werde ich morgens aufwachen und mich nicht schmerzlich nach seiner Umarmung sehnen?
Vielleicht niemals.
Es ist fast zwei Wochen her, seit ich ihn verlassen habe, damit er mit seiner Familie Prestons Sieg feiern konnte, und doch geht es mir nicht besser als am ersten Tag ohne ihn. In mancher Hinsicht geht es mir sogar schlechter.
Er schickt mir jeden Tag Nachrichten, ruft inzwischen sogar an. Was ich alles ignoriere.
Ich hasse mich selbst. Ich hasse meine Angewohnheit, vor Problemen wegzurennen und mich zu verstecken. Ich hasse es, dass ich mich innerlich verletzter fühle als jemals zuvor, was daran liegt, dass ich ohne ihn nichts bin. Ich habe genau das getan, was ich mir geschworen hatte, nicht zu tun.
Ich habe seine Hand losgelassen.
Wieder einmal stelle ich mir dieselbe Frage, die ich mir Tag und Nacht stelle: Mache ich einen Fehler? Gibt es eine Möglichkeit, das hinter uns zu lassen? Habe ich die innere Kraft, Annabelle zu verzeihen? Das ist die Frage, die ich zu beantworten versuche
.
Mein Herz und mein Verstand befinden sich im Krieg, und ich bin mir nicht sicher, wer gewinnen wird.
»Es zeugt von guten Manieren, anzurufen, bevor man bei Leuten vor der Tür steht, vor allem sonntags.«
Beim Klang von Randis brüsker Stimme wirbele ich herum. Ich bin überrascht, dass sie persönlich die Tür öffnet. Nach ihrem schlichten weißen T-Shirt und der zerlumpten Jeans zu urteilen, beides mit Farbe bespritzt, habe ich sie total überrumpelt.
»Tut mir leid«, stoße ich hervor, während mir rote und gelbe Farbkleckse auffallen, die ihr Gesicht und ihre blonden Haare sprenkeln, die zu einem unordentlichen Knoten frisiert sind. Ich bin sprachlos. Randi ist sonst die Perfektion in Person. So entspannt wirkt sie leger und frisch. Zugänglich. Fast wie ein richtiger Mensch, statt wie jemand, der mich das Fürchten gelehrt hat. »Äh, das konnte nicht warten.«
Hier unangemeldet aufzukreuzen war nicht die schlauste Idee, die ich jemals hatte. Randi war stinksauer, als ich endlich den Mut gefasst hatte, sie anzurufen, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie wütend auf mich oder über die Situation war.
Ihr Blick wandert meinen durchnässten Körper hinab und kurz über meine Schulter. Sie schürzt die Lippen, und ein paar Sekunden glaube ich, dass sie mich zum Teufel jagt, doch dann tritt sie beiseite und winkt mich herein, während sie mit einer Hand die Tür aufhält.
»Bleib da«, bellt sie, sobald meine Füße den kleinen Teppich im Eingangsbereich berühren. »Du bist pudelnass, und ich will nicht, dass du auf meinen sauberen Böden Dreck verteilst.«
»Okay«, murmele ich, als sie fortschlendert. Ich hab zwar nirgends Dreck an mir, aber egal. Ich komme mit ihrer Wut klar, wenn es bedeutet, dass sie mich hineinlässt. Eine volle Minute später kommt sie mit einem Badehandtuch zurück. Ich
habe meinen Regenmantel schon an die Garderobe gehängt und mir die Schuhe mit dem nicht existenten Dreck ausgezogen. Ich nehme das Handtuch, wische mir damit das Gesicht trocken und rubbele mir die Haare, bis sie zufrieden zu sein scheint.
»Wirf es einfach hierhin.« Sie deutet neben mich auf den Fußboden, dreht sich um und geht weg. Ich nehme an, dass ich ihr folgen soll, also tue ich das. Ich rechne damit, dass sie in ihr Büro geht, doch sie führt mich wortlos durch einen Teil ihres Hauses, den ich noch nie zuvor gesehen habe. Aber die zwei Male, die ich schon hier war, habe ich auch keine umfassende Besichtigungstour bekommen.
Als wir unser Ziel erreichen, bleibe ich ehrfurchtsvoll stehen, da ich eine ganz neue Seite von Randi Deveraux, der Herzdame, sehe.
Wir befinden uns in einem Raum mit freiliegenden Holzbalken an der Decke und einer Wand aus gläsernen Schiebetüren mit Blick auf ihren weitläufigen Garten. Alle anderen Wände werden von nicht zusammenpassenden, uneinheitlichen Einbau-Werktischen gesäumt, auf denen das gesamte Farbangebot steht, das die Menschheit kennt. In der Mitte des Raumes verteilt stehen mehrere Staffeleien, jede mit einer Malerleinwand in einer anderen Größe. Alle befinden sich in verschiedenen Phasen der Vollendung, doch das Motiv ist gleichbleibend.
Es sind Akte.
Randi malt nackte Frauen.
Geschmackvolle nackte Frauen. Und sie ist … gut
darin. Wirklich gut. So gut, dass sie die Gemälde verkaufen und davon leben könnte.
Sie geht mit großen Schritten zur größten Leinwand mit einer geschätzten Breite von sechzig Zentimetern und nimmt
einen Pinsel vom Tisch daneben. Ich trete leise hinter sie, um das Bild besser sehen zu können.
Eine nackte Frau liegt mit dem Rücken zum Betrachter auf einem pastellenen Wollschal. Sie hat den Arm nach hinten gebogen und ihre Finger in ihren langen kastanienbraunen Haaren vergraben. Über ihren Schenkeln liegt ein beerenfarbener Überwurf, der ihren herzförmigen Po nicht bedeckt. Ihr unterer Rücken ist gekrümmt, als würde sie sich mit der Hand, die der Betrachter nicht sieht, selbst befriedigen.
Es ist fantastisch. Und traurig. Und in einzigartiger Weise erotisch.
»Wow. Haben Sie das gemalt? Das ist wahnsinnig gut.«
Sie tunkt die Spitze ihres Pinsels in etwas schwarze Farbe und vermischt sie mit Grellrot, um ein sattes Bordeauxrot zu bekommen. Dann führt sie den Pinsel an das Gemälde, tippt leicht auf die Leinwand und schattiert den Rand des Tuchs, das über die Frau drapiert ist.
»Was ist so weltbewegend, dass du deine Manieren vergessen hast?«, fragt sie kurz angebunden, ohne mein Kompliment zur Kenntnis zu nehmen.
Ich trete ein paar Schritte zurück, da ich sie nicht bedrängen will.
Ich habe pausenlos darüber nachgedacht, was ich tun muss, welche Verbindungen ich kappen muss und welche nächsten Schritte ich unternehmen muss. Für Randi zu arbeiten war vergleichbar mit dem Überqueren einer Brücke. Das Bauwerk ist zu einem bestimmten Zweck da. Um mit Leichtigkeit über unwegsames Gelände zu kommen. Aber ich bin jetzt auf der anderen Seite, und obwohl ich dankbar für ihre Hilfe bin, ist weiterzugehen die einzige Option.
Außerdem wussten wir beide, dass es so kommen würde, als ich den Job bei Shaw annahm
.
»Ich wollte Ihnen für alles danken, was Sie für mich getan haben, dafür, dass Sie mir eine Chance gegeben haben. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte«, – Ich weiß nicht, was ich jetzt ohne Sie tun soll
– »aber ich kann nicht mehr für Sie arbeiten. Deshalb kündige ich.«
Unsere Blicke treffen sich kurz, als sie ihren Pinsel von der Leinwand nimmt. »Wie kommst du darauf, dass ich dich nach allem, was geschehen ist, weiter für mich arbeiten ließe?«
Verdammt. Diese Ohrfeige schmerzt. Ich reibe mir unbewusst die Wange. »Sie haben recht. Tut mir leid.«
Sie reagiert nicht, sondern malt einfach weiter. Sie hat es nicht gesagt und es geht mich wahrscheinlich auch nichts an, aber: »Ist alles … Ich meine, ist Ihnen irgendjemand wegen dieser Sache auf die Schliche gekommen? Meinetwegen?«
Sie lacht spöttisch und tunkt ihren Pinsel wieder in die Farbe. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen, Willow. Um mein Königreich zu Fall zu bringen, braucht es schon verdammt viel mehr als eine armselige Unterstellung in einer Zeitung mit schlechtem Ruf. Glaubst du, ich wäre nicht schon früher bedroht worden? Wenn man das, was ich tue, lange genug macht, passiert einem solcher Mist.«
Bedroht? Sie?
Hier ging es nicht um sie
.
»Aber hier ging es um die Wahl und –«
»Es ging darum, dass jemand sich auf den Schlips getreten fühlte, weil er nicht haben konnte, was er wollte.«
Ich bin total verwirrt. Wer wollte was? »Und das wäre?«
»Dich.«
Wie bitte?
»Mich?«
»Ja, dich.«
Ich verlagere mein Gewicht auf den anderen Fuß und schiebe die Hände in die Vordertaschen meiner Jeans. Der feuchte
Stoff scheuert an meinen Handrücken. »Ich verstehe nicht«, sage ich, als klar ist, dass sie nicht mehr sagen wird.
»Natürlich nicht«, murmelt sie, während sie sich auf ihre Kunst konzentriert. Ich ziehe die Augenbrauen zusammen, und gerade als ich eine weitere Frage stellen will, sagt sie: »Mächtigen Männern mit Götterkomplexen gefällt es nicht, wenn ihnen etwas verweigert wird.«
»Tut mir leid, Randi. Ich kann Ihnen überhaupt nicht folgen.«
Sie lässt ihren Farbpinsel in ein Behältnis mit trübem Wasser fallen, das mit anderen Pinseln vollgestopft ist, und wendet sich zu mir. »Paul Graber.«
Paul Graber? »Was ist mit ihm?«
»Er wollte dich. Ich sagte nein. Das passte ihm nicht, und er versuchte seine Macht auszuspielen, wie es nur Schlappschwänze wie er können.«
Ich fasse mir an die Kehle, während ich verdaue, was sie mir damit sagt. »Paul Graber hat das getan? Er war die anonyme Quelle der 7-Day?
«
Sie nickt.
Waaas?
Das ergibt keinen Sinn. Er hat das alles gemacht, weil ich nicht mit ihm schlafen wollte? Ich wusste ja, dass das Arschloch nicht ganz koscher ist, als seine Hand meine berührte, doch ich hätte nie damit gerechnet, dass ein Mann seines Formats so kleinlich sein könnte.
Mir fällt das mysteriöse Gespräch zwischen ihm und Noah an jenem Abend ein. Er schien wegen irgendetwas sauer auf Preston zu sein. Selbst wenn er der Übeltäter war, scheinen mir seine Beweggründe politisch motiviert zu sein und nicht persönlich. »Sind Sie sich sicher?«
Verächtlich schnaubend antwortet sie: »Ziemlich.«
»Aber –
«
»Ich weiß, was du denkst. Glaub mir. Es ging dabei um mich, nicht um den Bürgermeister.«
»Woher wissen Sie das?«
Sie nimmt den Behälter hoch, wobei sie ein paar Tropfen Schmutzwasser verschüttet, und schlendert zum Waschbecken, während sie zu mir sagt: »Das ist nicht wichtig. Wichtig ist, dass ich ihn mir vorgeknöpft habe. Er wird keine Probleme mehr machen. Das verspreche ich dir. Und es tut mir leid. Ich bin stolz darauf, meine Klienten auf Herz und Nieren zu prüfen, und in deinem Fall habe ich ganz klar versagt.«
Wow. Eine Entschuldigung von Randi. Das streiche ich mir im Kalender an.
Sie kehrt mir den Rücken zu, während sie die Farbe aus den künstlichen Borsten wäscht. Ein Teil von mir vermutet, dass sie mich ignoriert, weil ich gehen soll, aber so leicht wird sie mich nicht los. Ich habe noch eine Sache zu klären, deshalb atme ich tief durch und gestehe ihr den zweiten Grund meines Besuches.
»Ich möchte, dass Sie das Geld auf meinem Konto an Shaw Mercer zurückgeben.«
Ich habe keinen Cent der zweihundertfünfzigtausend Dollar angerührt, die Shaw mir bezahlt hat. Schon an dem Abend, als ich Preston und Adelle kennenlernte und wir rückwärts aus ihrer Einfahrt fuhren, wusste ich, dass ich das Geld nach Beendigung des Ganzen zurückgeben würde, obwohl ich es dringend brauchte. Es fühlte sich nicht richtig an, es zu behalten, wenn ich nicht länger eine Rolle spielte, sondern dabei war, mich zu verlieben.
Sie hält in ihrem Tun inne und wirft mir einen Blick über die Schulter zu. »Bist du zu einer Erbschaft gekommen, von der ich nichts weiß?«
Ich weiche ihrem Blick aus und schüttele den Kopf. Ich
höre, wie sie tief Luft holt und sie wieder ausstößt. Dann dreht sie das Wasser ab.
»Es ist doch nichts mit deiner Mom, oder?«
»Nein«, murmele ich, bevor mir auffällt, dass ich noch nie mit ihr über meine Mutter gesprochen habe. Wir haben nie über Privates geredet. Mein Blick huscht zurück zu ihr. Sie lehnt an der Theke und beobachtet mich, während sie sich die Hände mit einem schwarzen Handtuch abtrocknet. »Was wissen Sie über meine Mutter?«
Sie ignoriert mich. »Ich bin nicht deine Mittlerin, Willow. Du bist eine erwachsene Frau. Ich persönlich finde, dass du einen Fehler machst, aber wenn du das Geld zurückgeben willst, kannst du es selbst tun.«
Sie wirkt kühl und gefasst, während das Feuer in mir, das Shaw zutage gefördert hat, heftig brennt und sich entlädt. »Ich habe Sie nie um etwas gebeten«, sage ich fest. »Das sind Sie mir schuldig.«
Sie zieht eine perfekt gezupfte Augenbraue hoch. Unter anderen Umständen wäre ich nach dieser kleinen Muskelbewegung auf meinem Stuhl zusammengesackt, aber nicht heute.
»Du hast mich um einen Job gebeten«, sagt sie kühl.
»Ich habe Sie um nichts gebeten. Sie haben ihn mir angeboten.«
»Das ist reine Semantik.« Sie lässt das Handtuch fallen und verschränkt die Arme. »Du brauchtest Hilfe. Ich habe sie dir gegeben. Ohne weitere Verpflichtungen.«
Sie hat recht. Zur Hölle mit ihr.
»Ich –« Mein Herz hämmert. Ich kann das nicht
, würde ich am liebsten sagen. Ich werde zerbröseln wie ein Herbstblatt, sobald ich ihm in die Augen sehe. Ich werde mich allein durch seine Anwesenheit davon überzeugen lassen, dass alles gut wird, und selbst wenn das auch nur annähernd möglich ist,
was ich bezweifele, muss ich selbst zu diesem Schluss kommen. »Bitte, Randi«, flehe ich leise. »Ich kann es nicht behalten. Ich kann keinen Scheck über zweihundertfünfzigtausend Dollar per Post schicken, und ich kann mich nicht mit ihm treffen. Ich kann einfach nicht.«
Sie presst die Lippen zusammen. Ein paar Augenblicke verstreichen. »Ich weiß, was passiert ist«, verkündet sie ruhig.
Klar. Natürlich tut sie das. Sie ist wie der allsehende Oz hinter dem Vorhang.
Ich bemühe mich, meine widerstreitenden Gefühle hinunterzuschlucken. »Dann wissen Sie ja auch, warum ich Sie anbettele.«
Sie senkt den Blick zu Boden, und ein merkwürdiger Ausdruck breitet sich auf ihrem Gesicht aus. Sie stößt sich von der Theke ab, und als sich unsere Blicke wieder treffen, sehe ich einen völlig anderen Menschen als den unnahbaren, gefühllosen, dem ich bisher begegnet bin. Die ausgeprägten, einschüchternden Falten auf ihrer Stirn sind verschwunden und die Züge um ihren Mund deutlich weicher geworden.
»Komm mit«, befiehlt sie, während sie an mir vorbeigeht. Wieder einmal folge ich ihr auf den Fersen wie ein junger Hund. Diesmal landen wir in ihrem Büro. Sie bedeutet mir, mich zu setzen. Ich gehorche und rechne damit, dass sie irgendwelche Papiere hervorholt, die ich unterschreiben muss, um ihr eine Vollmacht für die Überweisung zu erteilen. Stattdessen wirft sie eine gewöhnliche Aktenmappe auf den Schreibtisch.
Und als sie sie aufschlägt, höre ich auf zu atmen.
Ungläubig blicke ich zwischen den auf dem Kopf stehenden Fotografien und ihr hin und her, während mir das Blut in den Adern gefriert.
»Warum haben Sie Bilder von meiner Schwester?«, schnauze ich sie an. Ein Bienenschwarm ist in meine Ohren
eingedrungen. »Was soll das? Haben Sie ein ganzes Dossier über mein Leben da drin?«
Wie kann sie es wagen.
Mir ist schlecht. Ich schnappe mir die Akte, drehe sie um und beginne damit, Dutzende alter Schnappschüsse im Format 10x15 durchzugehen. Ich hatte mit gruseligen, mit dem Teleobjektiv unbemerkt aufgenommenen Fotos von mir gerechnet, doch als ich Bild für Bild durchgehe, wird mir klar, dass auf allen Violet zu sehen ist.
Auf manchen ist Violet allein oder mit anderen zu sehen, doch die meisten zeigen meine Schwester, wie sie den Arm um ein zierliches brünettes Mädchen mit strähnigen Haaren, hohlen Wangen und vorstehenden Rippen legt. Auf den ersten Blick ist sie mir fremd, doch je länger ich darauf starre, umso deutlicher sehe ich es: große braune Augen, die bekümmert wirken statt souverän und selbstsicher. Alles an dem Mädchen auf dem Bild ist anders als die Frau, die ich kenne.
Ich sehe auf und blicke in Augen, die jetzt älter und weiser sind. Jahre später sind sie ziemlich ähnlich und doch so unglaublich anders. Die auf dem Foto spiegeln Violets in den letzten Monaten vor ihrer Überdosis wider. Rot, glasig, erschöpft. Die, in die ich jetzt blicke, sind erfahren und klug. Und voll von Reue.
Mein Mund schmeckt nach Wut und totaler Fassungslosigkeit, als ich frage: »Sie wussten die ganze Zeit, wer ich bin, stimmt’s?« Hinter meinen Augenlidern brennt es. Ich versuche es wegzublinzeln. Es funktioniert nicht.
Randi fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe und saugt sie in ihren Mund, während sie auf ihrem Lehnsessel hin und her rutscht. Sie wirkt unbehaglich, während ihre Fassade birst.
Die Luft wird plötzlich dünn. Ich kann nur schwer atmen
.
»Sie kannten meine Schwester?« Sie bewegt den Kopf so, dass man es für ein Nicken halten könnte, aber das reicht mir nicht. Es reicht nicht annähernd für den Mist, den sie mir gerade präsentiert hat.
Randi Devereaux kannte meine tote Schwester.
Unfassbar.
»Sie war meine beste Freundin«, gesteht Randi mit gedämpfter, wehmütiger Stimme und feuchten Augen. Es fällt mir schwer, Mitleid mit ihr zu haben, während meine Wut alles andere verdrängt.
Mir schwirrt der Kopf. Ich bin hergekommen, um zu kündigen und Randi dazu zu überreden, das Geld zurückzugeben, das ich eigentlich brauche, aber nicht annehmen kann, da werden plötzlich die Türen zur Vergangenheit aufgerissen und ich sehe direkt in den Eingang des geheiligten Raumes. Habe Angst, hineinzufallen, bin jedoch unfähig, mich abzuwenden.
Ich greife nach einem Bild, das halb von einem anderen verdeckt wird. Darauf treiben Violet und Randi in knappen Bikinis händchenhaltend auf Schwimmreifen auf einem See und blinzeln in die Sonne. Sie lachen, weil sie von jemandem mit Wasser bespritzt werden, der nicht zu sehen ist.
Ich erinnere mich an den knallgelben Bikini, den Violet trägt. Meine Mutter hatte ihr beim Aussuchen geholfen, bevor wir in dem Sommer vor ihrem Tod nach Cannon Beach fuhren. Als sie ihn zum ersten Mal trug, ist mein Dad fast ausgerastet. Er sagte zu ihr, er sei zu gewagt, woraufhin sie erwiderte, dass ihm nur nicht gefiele, dass sie erwachsen würde und dass sie keine anderen Badesachen dabei hätte. Er murrte und befahl meiner Mutter, ihr etwas anderes zu kaufen. Sie tat es nicht, und er ließ es dabei bewenden.
Ich fahre mit dem Fingernagel über Violets Lächeln, über die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, die die meisten
Menschen hassen würden, doch sie sagte immer, sie verliehen ihr eine besondere Note. Einmal hat sie mir erzählt, dass die Franzosen glaubten, dass Menschen, die mit einer Zahnlücke gesegnet sind, ihr Leben lang Glück haben. Nach ihrem Tod wünschte ich mir immer, wir wären Franzosen.
Sie sieht jung und gesund aus. Als würde sie sich prächtig amüsieren.
»Wir haben uns in dem Sommer, als ich hierher zog, am Kai kennengelernt.« Sie nickt dem Geist in meiner Hand zu. »Ich kannte nicht viele Leute. Violet war freundlich und lustig, und ihre übersprudelnde Art war ansteckend.« Das stimmt. Wie ich sie darum beneidet habe. »Wir haben uns sofort gut verstanden.«
Ich presse die Lippen aufeinander und schlucke den Schluchzer, der mir entfahren will, wieder hinunter. Violets Gesicht verschwimmt vor mir. Ich will kein Wort mehr von Randi hören, doch wenn sie nicht weiterspricht, presse ich das Leben aus ihr heraus.
»Dann lernten wir Brock kennen. Am Anfang schien er ein netter Typ zu sein. Lustig, wild, ein bisschen hippiehaft. Doch er entpuppte sich als ein Stück Scheiße mit einem hitzigen Temperament und einer Vorliebe für harte Drogen.« Sie hält inne und lächelt schief. »Wir gaben uns beide der Illusion hin, dass wir jederzeit wieder aufhören könnten, und nach einer Weile wollte Violet aussteigen, aber ich … ich verliebte mich in das Arschloch, und sie wollte nicht ohne mich gehen.«
Mir fehlen die Worte. Mein Gesicht fühlt sich heiß an.
»Ich fühle mich verantwortlich für ihren Tod, und doch war ihr Tod das Einzige, was mir das Leben gerettet hat.«
Ich reiße mich vom beseelten Gesicht meiner Schwester los und sehe in schokofarbene Augen. Ich sehe so viel in
ihnen. Selbstvorwürfe. Leid, noch nach dieser langen Zeit. Den Schmerz des Verlusts, der niemals vergeht.
Ich war zwölf Jahre alt, als Violet eine Überdosis Kokain nahm.
Ich hatte meine Periode noch nicht. Ich war noch nicht von einem Jungen geküsst worden. Ich stand noch auf Zeichentrickfilme am Samstagmorgen und war ein Bücher-Freak. Ich habe keinen vernünftigen Grund, mich wegen ihres Todes schuldig zu fühlen, und dennoch tue ich es. Ich kannte die Anzeichen von Drogenkonsum nicht. Welche normale Zwölfjährige würde das auch? Im Nachhinein ist es mir klar, doch damals wusste ich nur, dass sie sich verändert hatte. Ihr Strahlen hatte sich verdüstert. Sie war voll Angst statt unbeschwert. Sie schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie stritt mit meinen Eltern. Es gab Geheimnisse zwischen uns, was es zuvor nie gegeben hatte.
Es wäre leicht, hier zu sitzen und Randi die Schuld daran zu geben. In Wahrheit wollte ich immer jemand anderem die Schuld geben, außer Violet selbst. Denn es ist leichter zu glauben, dass jemand anders es ihr angetan hat, statt sie selbst dafür verantwortlich zu machen.
Aber das ist nicht
die Wahrheit. Randi trifft genauso wenig Schuld daran, dass Violet sich für die Drogen entschieden hat, wie mich. Sie trifft genauso wenig Schuld an Violets Überdosis wie mich. Es ist ein schwarzes Loch namens Martyrium, in dem wir beide gefangen bleiben werden, wenn wir es zulassen.
Und ich habe lange genug darin gesessen.
»Es tut mir leid«, sagt sie. Es ist aufrichtig, tief empfunden und völlig unnötig.
»Es ist nicht Ihre Schuld.«
»Ich habe sie miteinander bekannt gemacht. Habe uns in diesen Mist reingezogen.
«
»Nein«, widerspreche ich. Vi hatte schon begonnen, sich zu verändern, bevor sie sich trafen. Es war ein Sturm, der sich schon seit Monaten zusammengebraut hatte. Mir fallen die »Zigaretten« ein, die ich einmal in ihrer Schublade fand. Jetzt weiß ich, dass es gelogen war. Nein. Randi trifft keine Schuld. »Violet hat sich schon vorher von uns zurückgezogen, Randi. Meine Mutter hat sie zu sehr unter Druck gesetzt. Sie hat sich dagegen gewehrt.«
Sie schüttelt den Kopf. »Sie war meine beste Freundin. Ich hätte auf sie aufpassen müssen.«
»Ich war ihre Schwester. Glauben Sie nicht, dass ich dasselbe empfinde?«
»Aber du warst es nicht, die sie auf der Party zurückgelassen hat. Sondern ich«, sagt sie mit einer versonnenen Stimme, die jetzt bricht. »Sie sagte mir, sie würde gleich nachkommen, und als sie nicht zu unseren Freunden nach Hause kam, machte ich mir Sorgen und ging zurück. Doch als ich dort ankam, war sie schon bewusstlos, und alle anderen waren so mit Kokain zugedröhnt, dass sie es nicht mitbekamen. Ich habe, so gut es ging, versucht, sie wiederzubeleben, während uns jemand in die Notaufnahme fuhr, aber …«
Aber es war zu spät
.
»Dich trifft keine Schuld, Randi«, wiederhole ich. »Es war ein bedauernswerter Unfall.« Es stimmt, und zum ersten Mal glaube ich aufrichtig, was ich sage.
Ihr Blick, der verschwommen gewesen war, schärft sich wieder und richtet sich auf mich.
»Ich weiß aus erster Hand, wie es ist, von der Last des Todes eines anderen Menschen niedergedrückt zu werden, Willow. Sein eigenes Spiegelbild zu hassen, seine bloße Existenz. Es ist ein täglicher Abstieg in die Höllenkreise, den man einfach nicht begreifen kann.« Sie hält inne und lächelt traurig. Dann
fügt sie hinzu: »Nun, man denkt, dass man es kann, aber man irrt.«
Ich weiß, worauf sie hinauswill, und weiß nicht, wie ich reagieren soll. Deshalb platze ich heraus: »Ich bin stinksauer auf dich. Warum hast du es mir nicht einfach gesagt?«
Sie reagiert nicht, und ich glaube auch nicht, dass es sie kümmert, ob ich sauer bin oder nicht.
»Diese ganze Situation ist nicht Shaws Schuld. Er wurde in eine unmögliche Situation gebracht, das verstehst du doch, oder?«
Ich lasse beschämt den Kopf hängen. Mit dem Herzen verstehe ich, dass ich es nicht Shaw anlasten kann, aber sagt das mal meinem Verstand. Am liebsten würde ich zu ihm rennen und ihn um Verzeihung für meine Selbstsüchtigkeit und meine Kurzsichtigkeit bitten, doch dann müsste ich auch Annabelle sehen, und das bringe ich nicht über mich. Ich weiß nicht, ob ich dafür je bereit sein werde.
Aber das Eine ist nicht ohne das Andere zu bekommen. Das würde ich nie von ihm verlangen.
»Wenn du ihn nicht liebst, ist das eine Sache, aber ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Oder?«
Es gelingt mir, zu schlucken und zu flüstern: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Es entsteht eine lange Pause, während derer nur das Geräusch des großen Zeigers der künstlerisch angehauchten Uhr zu hören ist, die über Randis Kopf hängt.
»Ich kenne Annabelle Mercer nicht. Ich habe sie noch nie getroffen und auch kein persönliches Interesse an ihr, aber was ich weiß, ist, dass dein Vater, als er in jener Nacht auf sie traf, eine Gelegenheit gesehen hat, einem anderen Vater, einer anderen Mutter oder Schwester jene Hölle zu ersparen, in der er ohne seine
Tochter lebte.
«
Sie steht auf und setzt sich auf den Stuhl neben mich. Sie legt ihre warme Hand auf meine und drückt sie. Ich atme nicht. Ich löse mich auf.
»Du bist dabei, das alles zu verarbeiten, das verstehe ich, aber wenn das abgeschlossen ist, musst du dich mit der neuen Realität auseinandersetzen.«
Wie betäubt kann ich nur zustimmend nicken.
»Und egal, ob diese neue Realität Shaw Mercer beinhaltet, du musst Annabelle verzeihen. Dein Vater hätte das gewollt, Willow. Dein Vater war ein intelligenter Mann, der die Gefahren abgewogen hat. Er wusste, was er tat, als er auf diesen Vorsprung geklettert ist. Er kannte die Risiken und hat es trotzdem getan.«
Das weiß ich.
»Er hat ihr das Leben gerettet, und auch wenn er dabei seins verloren hat, solltest du stolz auf ihn sein.«
Das bin ich auch. Ich bin unglaublich stolz auf ihn. Was er getan hat, würde nicht jeder tun. Es verschlägt mir den Atem, dass Shaw derjenige hätte sein können, der den Tod seiner Schwester betrauert, so wie ich den meines Vaters betrauert habe. Das könnte ich nicht ertragen.
Ich beiße mir auf die Lippen. Das Brennen in meinen Augen fängt wieder an, doch ich unterdrücke die Tränen.
»Sie braucht deine Vergebung, um mit dem Geschehenen klarzukommen, Willow. Auch wenn es ein Unfall war, wird sie es auf sich nehmen. Ohne dich wird sie nicht genesen können. Glaub mir das. Ich konnte auch nicht nach vorn schauen, bis ich fast ein Jahr nach Violets Tod nachts um zwei an eure Tür geklopft habe und deinen Vater um seine
Vergebung gebeten habe.«
Meine Lunge krampft sich zusammen. Sie hat auch meinen Vater gekannt
?
»Er sagte, ich brauchte seine Vergebung nicht, zögerte jedoch nicht eine Sekunde, sie mir trotzdem zu geben.« Sie wischt sich mit zittriger Hand eine vereinzelte Träne weg. »Er hat sogar eine Stunde lang mit mir zusammengesessen und mich in den Armen gehalten, während wir gemeinsam weinten und trauerten.«
Das ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Der ganze Schmerz, den ich zu begraben versucht habe, kommt gewaltsam an die Oberfläche. Es fühlt sich an, als kratzten zehntausend Nadeln von innen an meiner Haut.
Ich zittere am ganzen Körper.
Mein Geist blutet reine Qual aus.
Ohne darüber nachzudenken, werfe ich die Arme um meine ehemalige Chefin, die beste Freundin meiner Schwester, und trauere um die Menschen, die ich vermisse.
Um meine Schwester.
Um meinen Vater.
Um die Mutter, die ich einmal kannte.
… und um Shaw.
Ich vermisse sie alle so sehr, doch die harte Realität lautet: Der Mann, den ich mir selbst versage, fehlt mir am meisten.