29. KAPITEL
Willow
Kies knirscht unter meinen Autoreifen.
Während der letzten Jahre bin ich hunderte Male über genau diese Stelle gefahren. Wenn ich abbiege, verspüre ich immer dieselbe Beklommenheit. Denselben Stich in jedem Atemzug. Den vertrauten, allgegenwärtigen Schmerz darüber, dass keine Menge an Zeit, die wir mit unseren Lieben verbringen, jemals genug sein wird.
Doch diesmal fühlt es sich anders an als all die Male zuvor.
Meine Lunge fühlt sich etwas weniger beengt an. Mein Herz ist ein bisschen weniger schwer. Ich fühle mich, ich weiß nicht, leichter, schätze ich.
Ich blieb bis zum frühen Morgen bei Randi und sprach mit ihr vor allem über Violet. Es war befreiend für uns beide. Und erhellend. Randi kannte eine ganz andere Seite meiner Schwester, und es war schön, sich mit jemandem an sie zu erinnern, der sie genauso sehr vermisst wie ich.
Ich habe nicht mehr über Violet gesprochen – richtig über Violet gesprochen –, seit sie tot ist. Im Haus meiner Eltern war ihr Tod ein Tabu, und auch wenn ich weiß, dass Sierra mir zugehört hätte, möchte man seine Freunde auch nicht mit so etwas belasten.
Mit jeder Anekdote, die Randi und ich austauschten, lichtete sich der Nebel, der mich seit meinem zwölften Lebensjahr umfangen hielt, ein wenig mehr. Als ich heute Morgen um fünf erschöpft ins Bett fiel, schien mir die Last eines ganzen Lebens von den Schultern genommen.
Und ohne diese ganze Last fand ich etwas in mir, das nur ich jemals finden konnte: Frieden.
Ich dachte, ich hätte in all den Jahren nach mir gesucht, doch was ich tatsächlich verzweifelt zu finden versucht habe, ist die Ruhe, die mit der Akzeptanz einhergeht, dass jeder nur ein Leben hat.
Die Wahrheit ist, dass wir in diesem Leben nur sehr wenig Kontrolle haben. Das zu akzeptieren und seinen inneren Frieden zu finden, nachdem man eine Weile getrauert und sich abgekapselt hat, damit man wieder genesen kann, ist die einzige Kontrolle, die wir haben.
Wir alle lieben und verlieren. Das ist eine traurige Tatsache des Lebens. Aber wir können uns entscheiden, ob wir uns an dem Verlust festhalten oder an der Liebe, die davor da war. Und die ganze Zeit über habe ich mich falsch entschieden.
Gestern bei Randi ist mir eins klar geworden. Meine ganze Familie wäre enttäuscht darüber, wie ich mein Leben bisher gelebt habe. Oder vielmehr es nicht gelebt habe. Und ich will, dass sie stolz ist.
Als ich an dem Ort ankomme, an dem meine Schwester und mein Vater ihre ewige Ruhe gefunden haben, fällt mir auf meinem Stammparkplatz ein schwarzer Jeep auf. Ich denke mir nichts dabei, halte langsam an und stelle den Wagen mit genügend Abstand daneben ab, bevor ich aussteige.
Ich nehme die frischen Blumen vom Beifahrersitz und trete hinaus in den kalten Novembertag. Während ich mir den Mantel mit der freien Hand unter dem Kinn zuhalte, habe ich den Weidenbaum schon fast erreicht, als ich sie sehe.
Ich bleibe wie angewurzelt stehen und halte den Atem an .
Sie kniet mit dem Rücken zu mir. Ihre langen rabenschwarzen Haare mit vereinzelten türkisgrünen Strähnen wehen im kalten Wind, während sie den Namen meines Vaters nachzieht, der in den grauen Kalkstein gemeißelt ist. Sie fährt mit dem Finger über das letzte »L« und fängt wieder von vorne an.
Mir schießen Tränen in die Augen.
Ich weiß nicht, wie Annabelle das Grab meines Vaters gefunden hat, und es spielt vermutlich auch keine Rolle. Die Andacht, mit der sie zum dritten Mal über seinen Namen fährt, seit ich hier stehe, setzt etwas in mir in Gang.
Ich wusste, dass ich mit Annabelle sprechen muss, ich wusste nur nicht wie oder wann oder was ich ihr sagen sollte. Was tut man in einer solchen Situation?
Doch dass sie heute hier ist, zur selben Zeit wie ich, ist nicht nur eine göttliche Vorsehung. Mein Vater hat mich genau aus diesem Grund genau in diesem Moment hierher geführt. Davon bin ich überzeugt.
Wenn das gestern Morgen passiert wäre, vor meinem Gespräch mit Randi, hätte ich mich umgedreht und wäre gegangen, in der Hoffnung, dass sie mich nicht sieht. Doch man schaut nicht dem Göttlichen ins Gesicht und geht einfach weg.
Nervös befehle ich meinen Füßen, weiterzugehen, jeder Schritt gewollt leise. Als ich näher komme, registriere ich, dass sie redet. Ein Wort oder auch zwei weht der Wind in meine Richtung, und obwohl allein meine Gegenwart ein Eindringen in einen unglaublich intimen Moment darstellt, gehe ich weiter, bis ich nur noch etwa einen Meter entfernt bin.
Als würde sie mich spüren, zieht sie jäh den Arm zurück, als hätte der Grabstein ihr einen Stromschlag versetzt. Sie strafft die Schultern und versteift den Rücken, dreht sich jedoch nicht um.
»Ich gehe. «
Als sie aufstehen will, lege ich ihr die Hand auf die Schulter. »Nein. Bleib.« Mir fällt auf, dass sie zittert. Sie muss schon eine Weile hier sein.
Sie wirkt unentschlossen, lässt sich jedoch wieder auf die Knie sinken. Wir verharren so, sie kniend, ich hinter ihr stehend, bis sie das verlegene Schweigen bricht.
»Ich erinnere mich an Ereignisse in jener Nacht, die ich unbedingt vergessen will, möchte mich aber unbedingt an die erinnern, an die ich mich nicht erinnern kann. Warum ist das so?« Ihre Stimme ist leise, kindlich und schrecklich zerrissen.
Ich knie mich neben sie und beuge mich über das Grab meiner Schwester. Der kalte Erdboden entzieht meinen Schienbeinen die Wärme. Als mir der frische Blumenstrauß in der Halterung auffällt, den sie mitgebracht haben muss, lege ich meinen Strauß neben mir ab.
Ich wünschte, ich hätte etwas Philosophisches und Erkenntnisreiches zu sagen, das ihre persönliche Hölle lindern würde. Doch bis zu einem gewissen Grad muss sie selbst damit klarkommen, genau wie ich. Stattdessen versuche ich die Weisheit meines Vaters zu kanalisieren und überlege, was er an meiner Stelle dazu gesagt hätte.
»Ich glaube, die Wege des Verstands sind unergründlich.«
Sie senkt den Kopf, bis ihr Kinn in ihrer Jacke versinkt. »Ich muss mich erinnern. Ich muss .« Ihre Stimme bricht. Eine vereinzelte Träne tropft über ihre Wange.
Das ist das Letzte, was sie braucht, aber das sage ich nicht. Sich an diese Nacht zu erinnern, wäre die schlimmste Folter. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass sie sich nicht erinnert, denn ich würde sie anflehen, es mir Sekunde für Sekunde nachzuerzählen, und das sind Details, die ich nicht im Kopf haben will.
»Als ich klein war, hatte ich Albträume. Schlimme Albträume. Eine Zeit lang jede Nacht. Ich wachte schreiend, zitternd und in kaltem Schweiß gebadet auf, und dann nahm Daddy mich in die Arme, bis ich mich wieder beruhigte. Doch jedes Mal, wenn er mich fragte, worum es in den Träumen ging, konnte ich mich nicht erinnern. Das Einzige, was zurückblieb, war das Gefühl von Panik und Machtlosigkeit.«
»Kommt mir bekannt vor«, murmelt sie.
Ich beiße mir auf die Lippe und versuche mit fester Stimme weiterzusprechen.
»Eines Nachts, nach einem besonders schlimmen Albtraum, fragte ich ihn, warum ich mich nicht erinnern könnte.«
Ich sehe, wie sie den Kopf zu mir dreht, spüre, wie sie mich ansieht, blicke jedoch stur geradeaus, verloren im Gefühl der starken, tröstenden Arme meines Vaters. Ich schwöre, sie sind in diesem Moment um mich gelegt.
»Er sagte, weil schlechte Erinnerungen zu viel Platz einnähmen und man diesen Platz für gute Erinnerungen brauche.«
Warum fällt mir das erst jetzt wieder ein? Er versuchte sein verängstigtes kleines Mädchen zu beruhigen, doch was er sagte, war so tiefgründig. Und so wahr. Das Schlechte überschattet immer das Gute, wenn wir es zulassen. Und ich habe es zugelassen.
»Ich brauche mehr Platz«, sagt sie leise.
»Ich auch«, antworte ich ebenso leise.
Das beruhigende Rauschen der Blätter ist für eine Weile der einzige Laut. Ich beobachte Annabelle und frage mich, welche Gräuel schon in ihrer jungen Seele vergraben sein könnten.
Sie zieht die Knie bis ans Kinn an. Ihre sonst so strahlenden Augen sind trüb und klein. Ihr Porzellanteint hat eine ungesunde Farbe. Sie erinnert mich an mich, als meine Schwester starb, als ich mich schützend in mich selbst verkrochen habe. Sie sieht aus, als könnte sie in der Erde unter ihr versickern und es würde ihr nichts ausmachen .
Schuldgefühle fressen mich auf. Wenn sie endet wie Violet, werde ich mir das nie verzeihen. Aber ich weiß auch nicht, wie ich ihr helfen soll.
»Deine Schwester war Metallica-Fan, hm?«
Mein Blick fällt auf die Noten auf Violets Grabstein. Ich wische ein paar trockene Blätter darauf weg. »Meine Schwester war Musikfan, Punkt. Metallica, Blink 182, Griegs Klavierkonzert a-Moll.« Bei der Erinnerung an die Insiderwitze zwischen mir und meinem Vater lache ich in mich hinein. »Egal was, sie liebte es.« Jetzt drehe ich mich zu ihr. »So wie du, nehme ich an.«
Ihr Blick huscht zu Vis Grabmal und zurück zu mir. »Sie ist früh gestorben.«
»Ja«, pflichte ich ihr bei. Diesmal schmerzt es nicht ganz so sehr, als ich es sage.
»Das ist … Das tut mir leid.«
Ich schlucke und nicke.
»Wie?«
Eine mutige Frage, aber von Annabelle habe ich nicht weniger erwartet.
»Sie hat eine Überdosis Kokain genommen.«
Geschockt reißt sie den Kopf zurück, während ihr Mund sich öffnet, als sei die Vorstellung entweder absurd oder als hätte ich einen wunden Punkt getroffen.
Tagelang habe ich meine Fähigkeit, diese ganze Tragödie in irgendeine sinnvolle Perspektive zu rücken, infrage gestellt, doch etwas, das mein Vater einmal gesagt hat, bahnt sich nun einen Weg in mein Bewusstsein, fast als würde er es mir jetzt ins Ohr flüstern.
»Unser Leben verläuft auf eine bestimmte Art, aus Gründen, die uns manchmal erst ersichtlich werden, wenn die Zeit reif ist.«
Ehrlich gesagt hielt ich das damals für irgendeinen Schwachsinn, den er sich einfallen ließ, damit ich besser mit dem Tod meiner Schwester umgehen konnte, doch jetzt, wo ich es verstehe, wird mir klar, dass die Last, die ich mit Violets Tod getragen habe, und übrigens auch mit seinem, eigentlich gar keine Last war. Die Empathie und das Mitleid, die das Erlebte einem ebenfalls schenkt, lernt man erst mit wachsender Lebenserfahrung zu schätzen.
Ich wurde aus mehr als nur einem Grund mit Shaw Mercer zusammengeführt, und sie starrt mich jetzt an, als könnte ich der einzige Mensch auf der Welt sein, der ihr eine Rettungsleine zuwerfen kann.
»Es ist unheimlich, wie ähnlich sie dir war. In jeder Hinsicht.«
Sie presst ihre vollen Lippen zusammen und zieht Luft durch die Nase ein. »Meinst du die Drogen?«
»Ich meine alles«, antworte ich geradeheraus und wähle ausnahmsweise einmal Sierras Herangehensweise. Auch wenn Annabelle kostbar und zerbrechlich wirkt, sehe ich durch ihre Schatten Charakterstärke und Zähigkeit und einen Kampfgeist, den sie jetzt mehr brauchen wird als je zuvor. »Wie kommst du mit all dem« – ich mache eine vage Handbewegung – »klar?«
Sie schiebt die Beine etwas nach vorn und lässt sie zur Seite kippen. Sie konzentriert sich wieder auf das Grab meiner Schwester und zupft geistesabwesend am toten Gras unter uns.
»Ich will mich gegen das alles betäuben, wenn es das ist, was du wissen willst.«
»Genau das will ich wissen. Hast du das getan?«
Sie stößt ein Geräusch aus, das halb Lachen, halb Schnauben ist, und wirft die Halme in ihrer Hand in den Wind. »Ich stehe unter Hausarrest. Zu den bewachten Villen in Yarrow Bay werden nicht viele Drogen geliefert. «
Also wohnt sie immer noch bei Shaw. Am liebsten würde ich mich nach ihm erkundigen. Danach, wie es ihm geht. Ob er sich das neue schicke Laufband für seinen privaten Fitness-Raum, über das er sich schlaugemacht hat, angeschafft hat oder ob er mitten in der Nacht aufgestanden ist und Eleanor-Specials gegessen hat, wie immer, wenn er gestresst ist.
Stattdessen sage ich: »Das ist wahrscheinlich gut so.«
Ein unverbindliches Brummen steigt aus ihrer Kehle. Als meine Knie zu schmerzen beginnen, strecke ich meine Beine vor mir aus.
»Und wieso bist du dann hier, ohne Wachhund?«
Das Lächeln, das sie mir schenkt, ist verschmitzt. Sie wirft einen raschen Blick hinter uns, als wollte sie sich vergewissern, dass ihr niemand gefolgt ist, aber wir sind ganz allein. Ich sehe sie mir genauer an. Sind ihre Augen glasig? Ist sie außergewöhnlich zappelig? Weiß ich überhaupt, wonach ich suche? Ich beschließe, dass sie total normal aussieht. Traurig, verloren, aber körperlich in Ordnung.
»Du bist ausgebüxt, aber hierhergekommen, statt zu einem Drogendealer zu gehen. Das ist ein guter Schritt.«
Sie fängt an, ihre Haarspitzen um ihre Finger zu zwirbeln.
»Lass sie nicht gewinnen, Annabelle«, sage ich. »Die Drogen. Die inneren Dämonen. Bekämpfe sie mit aller Kraft. Lass sie nicht gewinnen.«
»Das will ich auch nicht«, antwortet sie leise, und in ihren Augen stehen Tränen. »Aber ich weiß nicht, wie ich mit dem weiterleben soll, was ich getan habe.«
Ein Messerstich direkt durchs Herz.
Ich strecke die Hand aus und streiche ihr eine Haarsträhne, die an ihrer Wange klebt, hinter die Ohren, und sage ihr dasselbe, was ich zu Randi gesagt habe, und ich meine es ernst. »Dich trifft keine Schuld, Annabelle. Es war ein Unfall. «
Ihr Blick, der auf meinen Schoß gesenkt war, schießt zu meinem. »Unfall? Wie kannst du das sagen?« Sie stemmt sich hoch. Ich folge ihr aus Angst, dass sie wegrennen will. »Ich habe deinen Vater umgebracht, Willow. Ich habe ihn umgebracht . Wenn ich in jener Nacht nicht total abgefuckt gewesen wäre, würde er noch leben. Du wärst noch mit meinem Bruder zusammen. Ich würde jetzt nicht vor Verlangen nach Koks zittern, damit ich die Schuld betäuben kann, die mich erstickt. Und sei es nur kurz.«
Ich sage ihr nicht, dass ich nie mit Shaw zusammen gewesen wäre, wenn mein Vater nicht gestorben wäre. Dann wäre ich mit Reid verheiratet. »Nein. Mein Vater hat dir das Leben gerettet. Du hast ihn nicht umgebracht.«
»Das ist dasselbe.«
Ich mache einen Schritt auf sie zu. Sie weicht einen halben zurück. Ich senke meine Stimme und spreche eindringlich zu ihr.
»Das ist überhaupt nicht dasselbe, Annabelle. Ich weiß, was vorher an jenem Abend passiert ist. Du warst verzweifelt.« Ihr Gesicht wird bleich. Noch ein Tanz. Ich vor, sie zurück.
»Du weißt gar nichts.« Ihre Stimme ist leise Qual auf einem Lufthauch.
Ein schlechtes Gefühl überkommt mich. Nennen wir es weibliche Intuition. Könnte in jener Nacht noch mehr passiert sein, als sie Shaw erzählt hat?
»Dann sag es mir.«
Mehr Vor und Zurück. Sie dreht den Kopf von links nach rechts. Sie ist nicht bereit dazu. Vielleicht wird sie das niemals sein.
»Ich weiß, du hast deine Familie, aber wenn du reden willst, ich kann gut zuhören. Und ich verurteile niemanden.«
Sie nickt und schabt mit dem Fuß übers Gras .
»Ich mache dir keinen Vorwurf, Annabelle. In keiner Beziehung«, versichere ich ihr aufrichtig.
»Das solltest du aber.«
»Aber ich tu’s nicht. Ich glaube sogar, dass wir aus einem bestimmten Grund hier stehen.«
»Und der wäre?« Sie ist schroff, aber ich lasse mich davon nicht beeindrucken.
»Ich weiß noch nicht«, sage ich wahrheitsgemäß zu ihr. »Aber ich weiß, dass es einen gibt.« Ich greife nach ihrer Hand. »Wenn du auch sonst nichts von dem hörst, was ich sage, hör bitte dies: Ich habe nicht das Gefühl, dir etwas vergeben zu müssen, aber wenn du es brauchst, sei versichert, dass ich es tue. Ich vergebe dir.«
Sie nickt und schluckt heftig.
»Warum bist du dann nicht mit Shaw zusammen?«
»Ich brauchte Zeit. Das ist …« Ich stoße einen langen Atemzug aus, bis meine Lunge völlig leer ist. »Schwer. Für uns alle.«
Ihr Blick ist fest. »Du hast mir gesagt, du würdest ihn lieben, ganz gleich, was passiert.«
So leicht ist das nicht , würde ich am liebsten sagen. Ich bin eben verkorkst. So verhalte ich mich. Aber ein Teil von mir weiß, dass das eine glatte Lüge ist. Eine faule Ausrede. Meine übliche müde Vorgehensweise. Ich wünsche mir mehr als alles andere, mit Shaw zusammen zu sein. Ein Teil seines Lebens und seiner verrückten unvollkommenen Familie zu sein. Ich will seiner Schwester helfen, gesund zu werden. Richtig gesund zu werden, von innen heraus, denn nach der kurzen Zeit, die ich mit Annabelle zu tun hatte, weiß ich schon, dass sie meinen ausgetretenen Pfad einschlägt, für sich zu bleiben.
»Ich liebe ihn wirklich, Annabelle. Daran hat sich nichts geändert. Das wird sich niemals ändern. «
»Warum bist du dann von der Party meines Vaters weggerannt? Warum warst du in den letzten zwei Wochen von der Bildfläche verschwunden? Warum benimmt er sich wie ein verfluchtes Arschloch, rennt durch die Gegend und beißt jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind, mit dem er zu tun hat, den Schwanz ab?«
Ich kann nicht anders. Ihr Spruch ist in dieser Situation so was von unpassend, doch das Bild, das sie heraufbeschworen hat, ist nur allzu realistisch und verdammt lustig, weil ich mir Shaw sehr gut dabei vorstellen kann.
Ich versuche vergeblich, es mir zu verkneifen.
Ich grinse.
Zuerst ist sie verwirrt, doch dann verziehen sich auch ihre Mundwinkel nach oben.
Ein Kichern entfährt meinen geschlossenen Lippen. Auch sie prustet los.
Und schon bald schütten wir uns beide aus vor Lachen, während uns Tränen der Freude und der Trauer übers Gesicht laufen.
»Beißt Schwänze ab, ja?«, kiekse ich.
»Ja«, bestätigt sie schrill.
Wir lachen, bis wir nicht mehr können, doch unsere Tränen versiegen nicht. Sie versiegen nicht, als ich die Arme um ihre Schultern lege und sich ihre zögernd um meine Taille schlingen. Sie versiegen auch nicht, als sie das Gesicht an meinem Mantel verbirgt oder als wir ein Auto vorbeifahren hören.
Tatsächlich versiegen sie eine lange, lange Zeit nicht.
Gemeinsam betrauern wir einen Mann, der ehrenhaft und selbstlos war.
Gemeinsam danken wir dem Mann, der ihr eine zweite Chance zu leben gab .
Gemeinsam beginnen wir einen Heilungsprozess, der allein nicht möglich gewesen wäre.
Und irgendwann später, als sie weggeht, nachdem wir genug geredet und geweint haben, rufe ich ihr nach: »Annabelle«. Als sie sich umdreht, sage ich ihr, was mein Vater gesagt hätte. »Vergeude das Geschenk nicht, das Charles Blackwell dir gemacht hat. Mach meinen Vater stolz.«
Mit gerötetem Gesicht und geschwollenen Augen hebt sie ihre bebenden Lippen und flüstert: »Ich versuche es.«
Erst als ich zum Grab zurückgehe, um mich ungestört zu verabschieden, registriere ich sie.
Dünne rote Zweige in dem rein weißen Strauß.
Es sind Weidenzweige.
Mit roten Weidenkätzchen.
Mein Herz wird so weit, dass es gleich meine Rippen sprengt.
Unmöglich, dass Annabelle diese Blumen gebracht hat.
Das war Shaw.