31. KAPITEL
Shaw
In jeder elenden, unglücklichen Nacht träume ich wirr von ihr.
Sternenlicht erleuchtet ihr weizenblondes Haar. Ihre cremefarbene Haut schimmert vor Lust. Ihre Blicke tanzen vor Liebe und Unbeschwertheit. Der Klang ihrer sinnlichen Stimme, die mitten in der Ekstase meinen Namen ruft, läuft in meinem Blut Amok. Mein Sehnen nach ihr konzentriert sich in meinem Schwanz, der jeden verdammten Morgen für sie hart ist und pocht.
Und wenn ich an jedem elenden, unglücklichen Morgen die Augen aufschlage, greife ich nach ihr, doch ihre Betthälfte ist kalt und verlassen. Ich starre minutenlang ausdruckslos ins Leere, überzeugt davon, dass sie, wenn ich es mir nur fest genug wünsche, auf wundersame Weise erscheint, mit nichts am Leib als ihrer Unverfrorenheit und einem schüchternen Lächeln auf den Lippen, das mich anfleht, sie von hinten zu nehmen. Ihr zu zeigen, wer das Sagen hat.
Doch sie erscheint nie.
Sie ruft nie an.
Sie simst nicht.
Sie klopft nicht an meine Tür oder kreuzt unangemeldet mit dem Feuer der Vergeltung im Blick in meinem Büro auf.
Nein.
Sie reagiert auf keinen einzigen meiner Kontaktversuche,
und ich bin kurz vorm Durchdrehen. Ich bin mit meiner Geduld am Ende, besonders seit ich gestern die Nachricht von Noah bekam, dass Randi, auf Willows
Wunsch hin, jeden Cent des Geldes, das ich ihr gezahlt habe, zurückgegeben hat.
Ein Teil von mir wusste, dass sie das tun würde, und dieser Teil von mir hat wahnsinnigen Respekt vor ihr. Doch der andere Teil, der archaische, der diese Frau beschützen, behüten und umsorgen will, ist so wütend, dass er sich praktisch in ein barbarisches Tier verwandelt und bereit ist, die Sache in die eigene Hand zu nehmen.
Sie ist an dem Abend, als mein Vater gewählt wurde, von mir fortgegangen, aber ich habe sie gelassen
, weil ich wusste, dass sie Raum brauchte. Das zu akzeptieren, war das Mindeste, was ich tun konnte, denn wenn ich sie mit meiner manchmal anmaßenden Art zu sehr bedrängt hätte, hätte ich sie für immer verloren.
Aber das Maß ist voll. Die letzten zwei Wochen waren unerträglich.
Sie ist noch nicht bereit
, erinnert mich meine vernünftige Seite.
Ich verabscheue diese Seite von mir. Die logische, die Berechnung, Raffinesse und Geduld benutzt, um die Schwäche des Gegners zu prüfen und auszunutzen, um zu gewinnen. Ich habe endlich meine Meisterin gefunden. Sie hat keinen Schwachpunkt. Ich habe kein Ass im Ärmel, das ich gegen sie verwenden kann. Willow ist in keinerlei Hinsicht schwach. Sie ist tosende Kraft innerhalb stiller Beherztheit.
Ich habe keine Wahl, als mich noch einen weiteren Tag zu quälen und auf sie zu warten, was jedem männlichen Instinkt, den ich besitze, zuwiderläuft. Es ist unerträglich.
Mit einem schweren Seufzer und einem Dauerständer, den anzufassen ich mich weigere, schwinge ich die Beine über den
Rand der Matratze. Es ist noch viel zu früh, doch da meine Träume so quälend real sind, bekomme ich in letzter Zeit sowieso nicht viel Schlaf.
Ich ziehe mir eine blaukarierte Pyjamahose an und gehe in die Küche, wo ich mir eine Tasse Kaffee einschenke. Aus reiner Gewohnheit öffne ich den Gefrierschrank. Das Erste, worauf mein Blick fällt, ist die Schachtel mit gefrorenen Waffeln. Ich knalle die Tür wieder zu und kann an nichts anderes mehr denken als an jenen Abend, an dem Willow mich beim Essen meines Eleanor-Specials erwischte und meine Seelentrösterin war.
Ich reiße den Gefrierschrank wieder auf und pfeffere die Waffeln in den Müll.
Dann schnappe ich mir meine Tasse Kaffee und gehe zurück ins Schlafzimmer, wobei ich es vermeide, zu dem Ledersessel zu schauen, in dem ich nicht mehr sitzen kann, weil er ihr gehört.
Auch wenn es erst kurz nach vier Uhr morgens ist, sitze ich nach weniger als zehn Minuten geduscht und angezogen in meinem Arbeitszimmer, wo ich seit neustem viel Zeit verbringe, vor allem wenn niemand sonst auf Annabelle aufpassen kann. Sie kann nicht sich selbst überlassen werden. Dafür ist sie zu zerbrechlich, zu deprimiert. Ihre Versuche, sich stark zu geben, sind allenfalls lächerlich. So habe ich sie noch nie erlebt.
Da ich mich konzentrieren muss, schiebe ich alle Gedanken an Willow und Annabelle ganz weit weg und zwinge mich dazu, mich in den Hintergrundbericht einer Firmenübernahme zu vertiefen, den Dane mir gestern Abend per Kurier geschickt hat. Ziemlich bald bin ich darin versunken, und der halbe Vormittag vergeht wie im Nebel, während Telefonkonferenzen und Verträge in einem Gefühl gleichgültiger Distanziertheit ineinander übergehen
.
Ich habe meine Arbeit einmal geliebt. Sie war alles, wofür ich gelebt habe. Doch jetzt ist sie eine endlose lästige Pflicht ohne jeden Lohn am Ende des Tages. Die Leidenschaft, die ich einst für diese Firma hatte, ist von meiner unerwarteten Liebe zu einer unglaublich sturen Frau überschattet worden.
Man stelle sich das vor.
»Ja, Mr Mercer?«, flötet Danes fröhliche Stimme durch meinen Telefonlautsprecher. Jede verdammte heitere Silbe, die er spricht, reizt meine bereits blank liegenden Nerven und zieht eine Spur aus heißem Feuer hinter sich her.
»Ich vermisse die Ramsey-Akte. Ich dachte, ich hätte Sie gebeten, sie zu den M&A-Papieren zu tun, die Sie mir gestern hergeschickt haben.«
»Das habe ich auch. Ich meine« – er gerät ins Stottern –, »das dachte ich zumindest.«
Der arme Dane hat in den letzten Wochen jede Gelegenheit ergriffen, mir aus dem Weg zu gehen. Ich bin wie eine gereizte Schlange, und so ziemlich jeder in meiner Umgebung ist zehn Schritte vor mir zurückgewichen, um dem Gift meines Bisses zu entgehen. Doch da Dane nicht allzu weit wegrennen kann, hat er meine verbalen Angriffe voll abbekommen und sie weggesteckt wie ein Champion. Ich bin überrascht, dass er nicht gekündigt hat. Ich war in letzter Zeit ein absoluter Mistkerl. Ich nehme mir vor, am Ende des Steuerjahres seinen Bonus zu erhöhen.
»Tja, das haben Sie aber nicht.«
Als ich aus den Augenwinkeln einen Schatten wahrnehme, blicke ich auf und sehe Annabelle im Eingang zu meinem Arbeitszimmer stehen. Ihre verrückte Frisur ist zerzaust. Sie trägt einfache blaugrüne Leggings und ein zu großes Seahawks-Sweatshirt, das bis zur Mitte der Oberschenkel herabhängt. Auf ihrer sommersprossigen Nase sitzt eine Brille mit
rotem Gestell. Sie kommt hereingeschlendert und macht es sich schweigend in dem Sessel mir gegenüber bequem.
»Sind Sie sich sicher, dass sie nicht dabei war?« Danes Stimme schwankt, als würde er gleich Ärger für etwas bekommen, das er nicht getan hat. Was letzte Woche so passiert sein könnte. Oder auch nicht. »Ich habe sie mit einem hellblauen Post-it-Zettel markiert.«
Klar hat er das.
»Ich bin doch nicht blind, Dane«, antworte ich schneidend.
Ich durchwühle alle Papiere, die auf meinem Schreibtisch verstreut liegen, doch der hellblaue Post-it-Zettel bleibt verschwunden, weil er verdammt noch mal nicht da ist. Annabelle greift lässig über den Tisch, zieht ein mit einer Büroklammer zusammengehaltenes Papierbündel unter einem Stapel hervor und reicht es mir.
Vorne drauf klebt ein hellblauer Post-it-Zettel.
»Entschuldigen Sie, Sir. Ich kann sie noch einmal kopieren und sofort zu Ihnen bringen lassen.«
»Schon gut«, murmele ich. Arschloch. Ja, ich meine mich. Annabelle verdreht die Augen und lehnt sich zurück. Sie kommt mir entspannter vor, als ich sie seit Wochen erlebt habe.
»Sind Sie sich auch sicher, dass ich Ihnen keine neuen Kopien –«
»Alles okay«, knurre ich, bereit, mit meiner Arbeit fortzufahren.
»Kann ich sonst noch etwas –«
»Nein.«
»Sie dürfen meinen Bruder in letzter Zeit nicht so ernst nehmen, Dane«, meldet sich Annabelle zu Wort. »Es liegt nicht an Ihnen, sondern am Herzschmerz.«
Dane fängt an zu lachen.
»Was soll das?« Ich haue auf den Lautsprecherknopf, beende
abrupt den Anruf und starre sie wütend an. »Du kannst so was nicht zu meinem Assistenten sagen. Was zum Teufel ist mit dir los?«
»Du führst dich auf wie ein Depp. Er hat das Recht, den Grund dafür zu erfahren.«
»Er ist mein Angestellter. Bei dem Gehalt, das ich ihm zahle, kann ich ein Doppeldepp sein, wenn ich es will. Und mein Privatleben geht ihn einen Scheißdreck an, deshalb lass das.«
Sie zuckt mit den Achseln. Es tut ihr kein bisschen leid.
»Willst du noch was oder kann das warten?«
Sie nimmt sich alle Zeit der Welt, bevor sie antwortet. Ihr Trödeln ist beabsichtigt. Ich hole tief Luft, weil mein Geduldsfaden kurz vorm Reißen ist.
»Bevor du sie kanntest, warst du nie so.«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Wie denn?«, frage ich. Ich weiß, dass sie von Willow spricht.
»Emotional. Ich will nicht behaupten, dass du ein Arsch mit einem Eisblock in der Brust warst, aber du warst immer so kalkuliert und reserviert. Und jetzt« – sie deutet vage auf mich – »führst du dich auf wie ich, wenn die Rote Zora zu Besuch ist.«
Dieses kleine …
»Versuch nicht mal, es zu leugnen.«
Ich mache den Mund auf; das dringende Bedürfnis, die Göre zu widerlegen, lastet schwer auf meiner Zunge, aber sie hat nicht unrecht. Willow hat den kühlen, ruhigen, methodischen Mann, der nichts weiter wollte als oberflächlichen Sex, genommen und in ein emotionales Weichei verwandelt, dessen Gesellschaft niemand ertragen kann. Selbst ich kann mich momentan nicht ausstehen, und das will schon was heißen.
Doch das Merkwürdige daran ist, dass ich nichts daran ändern will
.
»Zurück zu meiner Ausgangsfrage.«
Sie lächelt nur. Es ist nicht das falsche Lächeln, mit dem sie mich in letzter Zeit bedacht hat, sondern ein echtes, bei dem ihre Augen aufleuchten, und ich bemerke etwas an ihr, das ich seit Wochen nicht gesehen habe: das Flackern von Sonnenschein. Gott, wie habe ich das an ihr vermisst.
»Was ist los, Annabelle?« Jetzt beuge ich mich vor, die Unterarme auf dem Schreibtisch, die Hände gefaltet.
»Ich gehe jetzt.«
»Ich dachte, du hättest heute keine Seminare.«
Sie setzt sich aufrecht hin und rutscht zum Rand ihres Sessels. Oh-oh. Den Blick kenne ich. »Ich spreche nicht von der Uni. Ich meine, ich gehe jetzt, so richtig. Ich ziehe aus.«
»Nein«, antworte ich mit ruhiger, fester Stimme. Ich schnappe mir meine Lesebrille, die ich nur brauche, wenn meine Augen müde sind, und setze sie auf. »Das wirst du nicht.«
Ich signalisiere ihr, dass die Sache für mich erledigt ist, indem ich meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Schreibtisch richte. Ich rechne damit, dass sie schimpft und damit droht, mir mitten in der Nacht Organe von entscheidender Bedeutung zu verstümmeln. Das hat sie seit sie hier wohnt schon mehrmals angedroht. Ich ignoriere sie dann immer – und schließe vor dem Schlafengehen meine Zimmertür ab.
»Ich ziehe zu Mom und Dad.«
Bis auf meine Augen bewegt sich nichts an mir. Ich luge über den Brillenrand, fange ihren Blick auf und rechne fest mit einem spöttischen Grinsen. Erst neulich hat sie zu mir gesagt, dass sie lieber für den Rest ihres Lebens in einem Zelt auf meinem Rasen schlafen würde, als wieder zurück nach Hause zu ziehen, weswegen vor allem meine Mutter auf sie einredet, seit ich sie hierher gezerrt habe.
Aber sie macht keine Witze
.
Ich nehme meine Brille ab und klappe die Bügel zusammen, bevor ich sie vor mir ablege. Was zum Teufel hat sich in zwei Tagen verändert?
»Warum?«
»Ist es nicht das, was du wolltest?«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Das ist nicht das, was ich wollte, Bluebelle, und das weißt du auch. Ich will, dass du wohlbehalten, gesund und glücklich bist.« Ich nehme die Brille wieder auf und spiele an den Bügeln herum, indem ich sie immer wieder andersherum kreuze.
»Und clean«, ergänzt sie. Der Hauch von Sarkasmus ist mir nicht entgangen.
»Das versteht sich von selbst.«
Sie stellt ihre Füße auf den Sitz und zieht sie bis zu ihrem Po heran. Dann schlingt sie die Arme um ihre Schienbeine und legt das Kinn auf den Knien ab.
Rein äußerlich weist meine kleine Schwester alle Merkmale der Jugend auf. Glatte Haut, ein frisches Gesicht, sogar einen Hauch Unschuld, obwohl ich weiß, dass das täuscht. Doch in ihrem zierlichen, makellosen Körper wohnt eine alte Seele, die schon zu viel gesehen hat und weiß, wie schäbig die Schattenseiten unserer Straßen sein können.
Ich habe sie stets als eine gequälte alte Seele wahrgenommen, die im Körper eines jungen Menschen gefangen ist.
»Welche Qual du auch immer zu verdrängen versuchst, hat dich überhaupt erst in Schwierigkeiten gebracht, Bluebelle. Egal wie oft du das Gegenteil behauptest, dir geht es nicht gut. Dieser Unfall mit Charles Blackwell muss dir doch gewaltig zu schaffen machen. Das würde jedem so gehen, und ich mache mir nur Sorgen um dich, genau wie alle anderen.«
Sie knabbert an ihrer Unterlippe und spielt an der Nagelhaut ihres Daumens herum. Ich erwarte, dass sie diesem Thema
ausweicht, wie sie es sonst immer tut, wenn ich es anschneide. Doch sie überrascht mich, indem sie leise gesteht: »Das tut es auch.«
Etwas von der Anspannung, die ich seit Wochen mit mir herumtrage, lässt ein klein wenig nach. Endlich machen wir Fortschritte.
Sie hebt den Blick und sieht mir in die Augen. »Ich war gestern an seinem Grab.«
Das überrascht mich, doch ich habe keine Zeit, näher darauf einzugehen, weil mir ihre nächste Enthüllung den Atem raubt.
»Willow war auch da.«
»Willow war …?«
Oh-oh. Mist
. Willow war da? Was ist zwischen ihnen vorgefallen? Was wurde gesagt? Haben sie überhaupt miteinander geredet, oder ist Annabelle einfach gegangen, ohne dass Willow es mitbekam? Ich weiß, dass Willow dieser Ort heilig ist, was die sorgfältig gepflegte Grabstätte beweist, und ich weiß nicht, wie sie es fände, wenn Annabelle dort wäre. Ich habe keine Ahnung, was sie denkt, da sie nicht mit mir redet.
Als spürte sie meinen inneren Aufruhr, fügt Annabelle schnell hinzu: »Es war cool. Sie war nett. Netter, als ich es verdient habe.«
Natürlich war sie das. Sie kümmert sich um alle und hat mit Hinz und Kunz Mitgefühl. Selbst wenn sie verbittert wäre, würde sie es herunterschlucken, um den anderen zu schonen. So ist sie eben.
Auf einmal bin ich erschöpft.
»Dann habt ihr euch unterhalten?«
Sie nickt.
»Worüber habt ihr geredet?« Meine Stimme bricht. Hat sie von mir gesprochen?
, würde ich am liebsten ganz egoistisch
fragen. Das Bedürfnis, es zu erfahren, ist wie ein Fass mit kochender Säure, die mir den Magen verätzt. Es schmerzt.
»Über alles Mögliche.«
»Alles Mögliche?«, plappere ich wie ein Papagei nach.
»Ja. Alles Mögliche.« Sie stellt die Füße wieder auf den Boden und steht auf. Leise tapst sie zum Fenster an der hinteren Wand. Der Drang, eine Frage nach der anderen auf sie abzufeuern, ist wie eine Messerklinge, die in meine Zunge schneidet.
Wie sah sie aus? Glücklich? Unglücklich? Wird sie zu dünn? Kriegt sie genug Schlaf? War sie allein? Bitte sag mir, dass sie allein war.
Stattdessen gebe ich ihr Zeit, ihre Gedanken zu ordnen, während meine wild durcheinanderwirbeln. Schließlich dreht sie sich um und lehnt sich an die Fensterbank. »Ich werde ein Semester aussetzen. Vielleicht auch zwei.«
»Annabe –«
»Ich
rede jetzt, und ich will, dass du mir zuhörst, ohne mich zu unterbrechen. Bitte, Shaw. Das ist wichtig.«
Ich schlucke und lege die Lesebrille wieder hin. Ich weiß nicht, wann ich sie schon einmal so ernst erlebt habe. Oder so entschlossen. Ich verschränke die Arme. »Okay, ich höre zu.«
»Mit mir stimmt irgendwas nicht.« Instinktiv öffne ich den Mund, um zu widersprechen, doch sie hebt abwehrend die Hand. »Es stimmt. Ich weiß nicht, was es ist oder woher es kommt, aber ich muss es herausfinden, sonst ende ich entweder mit einer Überdosis oder auf dem Grund eines Flusses.«
»Herrgott, Bluebelle.«
Sie ignoriert meinen lauten Ausbruch.
»Ich brauche mehr Platz.«
Mein Haus ist knapp neunhundertdreißig Quadratmeter groß. Wir könnten uns tagelang darin aufhalten, ohne uns in
die Arme zu laufen. »Dann überlasse ich dir mein Zimmer«, antworte ich frustriert.
»Ich spreche nicht von Immobilien, Shaw. Ich meine hier drin.« Sie deutet auf ihre Schläfe. »Ich muss etwas von dem Schlechten loswerden, damit ich mehr Platz für Gutes habe.«
Ich schüttele den Kopf. Mir ist ganz schwindlig. »Ich komme nicht mehr mit.«
Sie sieht mich nachdenklich an. »Willow hat mir eine neue Perspektive gegeben.«
»Willow?«
Ihre ganze Haltung wird weicher, als wäre Luft aus einem Ventil abgelassen worden und damit auch alles, was sich in ihr angestaut hatte. »Ja. Sie ist fantastisch. Ich verstehe, warum du dich zu ihr hingezogen fühlst.«
Meine Augen stehen in Flammen und brennen wie verrückt. Und mein Herz? Himmel, es ist so sehr angeschwollen, dass es gleich zerspringt.
»Ich will mir meine zweite Chance nicht entgehen lassen, verstehst du? Das bin ich Willows Dad schuldig. Ich muss es nur selbst glauben. Deshalb haben Mom und ich diese Klinik in Colorado ausfindig gemacht. Intensive stationäre Psychotherapie in einem Zeitraum von mindestens neunzig Tagen, und dann sehen wir, wie es mir geht, und entscheiden, wie es weitergehen soll.«
Die Überraschungen prasseln auf mich ein, eine nach der anderen. Sie will drei Monate weggehen? Und meine Mutter hat ihr geholfen?
»Du und Mom?«, frage ich verblüfft. Sie und meine Mutter vertragen sich wie Öl und Wasser.
Sie grinst. »Im Zuhören bist du ziemlich beschissen.«
»Entschuldige. Sprich weiter.«
»Jedenfalls wird erst nach Thanksgiving ein Platz frei,
deshalb werde ich bis dahin jeden Tag zu meinen Therapiesitzungen gehen. Ich werde jeden Tag mindestens zu einer NA-Gruppe gehen, und mein Sponsor hat schon versprochen, mich zu begleiten. Und du kannst dein Haus wieder für dich haben.«
Wieder will ich etwas sagen. Wieder hält sie mich davon ab.
»Ich weiß, dass du mir sagen willst, dass du keine Privatsphäre brauchst, aber das tust du. Und ich auch. Aber ich kann auch zugeben, dass ich ein Unterstützungssystem brauche, und das ist meine Familie. Ohne euch werde ich es nicht schaffen. Ohne dich oder Linc oder Gemma … oder Mom und Dad.« Sie stößt sich von der Fensterbank ab und kommt auf mich zu. »Ich habe schon gepackt, und du kannst es mir nicht verbieten. Mom ist schon auf dem Weg, um mich abzuholen.«
Als sie vor mir stehen bleibt, wird mir klar, dass meine kleine Schwester endlich die Verantwortung für ihr Leben übernimmt.
»Danke für alles, was du für mich getan hast, Shaw. Ich weiß, ich war ein verwöhntes Gör, aber ich war keine Sekunde lang undankbar. Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Jetzt darfst du wieder reden«, spottet sie mit einem leisen Lächeln.
»Ich bin stolz auf dich, Bluebelle. Ich will nicht abgedroschen oder gönnerhaft klingen, aber ich bin …« Meine Stimme versagt. »Ich bin so verdammt stolz auf dich.«
Ich stehe kaum, da wirft sie sich schon in meine Arme. Ich drücke sie fest, meine süße, provozierende, melodramatische kleine Schwester, die mehr Schwierigkeiten gemacht hat als meine anderen Geschwister zusammen. Absichtserklärungen von ihr gab es schon öfter, doch diesmal fühlt es sich anders an. Diesmal glaube ich, dass sie wirklich herausfinden will, wer sie ist
.
»Ich besuche dich, so oft ich kann«, verspreche ich ihr.
»In den ersten dreißig Tagen darf ich keinen Besuch haben, aber danach schwingst du deinen Arsch mindestens jede zweite Woche zu mir.«
»Verlass dich drauf«, verspreche ich und gebe ihr einen Kuss auf die Wange.
Als ich sie loslasse, bin ich traurig und dankbar zugleich. Sie wird mir wirklich fehlen.
Es klingelt am Eingangstor.
»Das wird Mom sein.«
Ich wische ein paarmal über mein Security-Keypad und sehe am Eingangstor einen taubenblauen Mercedes stehen statt des schwarzen Audi, dessen Anblick ich ersehne. Ich versuche, nicht enttäuscht zu sein, als ich den Summer betätige und meine Mutter hereinlasse.
»Ich hole meine Sachen.« Sie läuft zur Tür, dreht sich jedoch in letzter Sekunde noch einmal um. »Kannst du mir einen Gefallen tun?«
»Für dich tue ich alles, Bluebelle.«
»Richtest du Willow meinen Dank aus? Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich bei ihr bedankt habe, und sie soll wissen, wenn sie nicht gewesen wäre und alles, was sie gesagt hat, dann … Na ja, sag ihr einfach danke.«
Mir bleibt keine Zeit mehr, ihr zu sagen, dass ich nicht weiß, ob Willow je wieder mit mir reden wird, und ich deshalb auch nicht weiß, ob ich ihren tief empfundenen Dank weitergeben kann. Ich kann nur mit widerstreitenden Gefühlen dastehen und zusehen, wie sie fröhlich aus dem Zimmer hüpft.
Ich bin froh, dass sie endlich ihr Leben in die Hand nimmt. Ich sehe mit Begeisterung, dass sie wieder Feuer im Bauch hat. Und ich bin überglücklich, dass sie meine Mom an sich ranlässt, statt sie wegzustoßen. Annabelle braucht das
.
Doch die Wahrheit lautet, dass Annabelles Aufenthalt bei mir genauso wichtig für mich war wie für sie. Auf meine Schwester aufzupassen hat mir eine Art makabre Aufgabe gegeben, die mich immer noch irgendwie an Willow bindet. Ohne sie ist dieses Band zerrissen und ich flattere im Wind.
Allein.
Mutter.
Seelen.
Allein.
Den Frieden der Einsamkeit, nach dem ich mich einst gesehnt habe, hasse ich jetzt von ganzem Herzen.
In dem Moment reißt etwas in mir. Der Geduldsfaden, auf dem ich seit gut drei Wochen balanciere, fasert aus und zerreißt, während ich buchstäblich an meine Grenzen stoße.
Ich habe die Nase voll.
Ich scheiße auf die Distanz, die sie unbedingt zwischen uns bringen wollte. Ich scheiße auf diese Situation. Ich scheiße auf alles. Ich liebe Willow. Ich weiß, dass sie mich auch liebt. Und das ist das Einzige, was zählt. Der Rest ist nur Lärm, von dem wir herausfinden müssen, wie wir ihn nach unseren Bedürfnissen lauter oder leiser drehen können.
Sie hat genug Raum gehabt. Genug Zeit. Ich nehme die Zügel wieder in die Hand, wie ich es von Anfang an hätte tun sollen. Unter keinen Umständen werde ich zulassen, dass sie mich aufgibt, wie sie es mit allen anderen getan hat.
Das wird nicht passieren.
Ich werde ihr Ehemann sein, ihre Zukunft; der Mann, neben dem sie jeden Morgen aufwacht und mit dem sie sich nachts um die Bettdecke zankt. Ich habe ihr jeden einzelnen Tag, seitdem sie mich verlassen hat, gesagt, dass sie es wert ist, um sie zu kämpfen. Jetzt muss ich es ihr beweisen
.
Wenn ich ihren sturen Hintern hierher zurückzerren und sie festbinden muss, damit sie mit mir redet, habe ich damit kein Problem. Tatsächlich werde ich bei der Vorstellung steinhart.
Ich nehme mein Telefon in die Hand und weiche von dem Plan ab, an den ich mich unerschütterlich halten wollte. Ich rufe ihre Nummer auf und hämmere – da ich weiß, dass sie nicht drangehen wird, wenn ich anrufe – eine Nachricht in die Tasten.
Du hast dreißig Minuten, Goldlöckchen. Dann komme ich und hole dich
.
»Shaw? Kannst du mir helfen?«, ruft Annabelle fröhlich von der Mitte des Hauses nach mir.
Da sich die Waagschale der Macht wieder zu mir neigt, stecke ich mein Handy in meine Tasche und gehe zur Haustür, jeder Schritt jetzt pure Entschlossenheit. Ich schnappe mir Annabelles Gepäck und trete mit gesenktem Blick auf die Treppe hinaus.
Und da höre ich sie.
Diese Stimme. Diese erotische, sinnliche, Ständer hervorrufende Stimme trifft mich mit der Wucht tausender Sonnen.
In Zeitlupe hebe ich den Kopf und sehe Annabelle, die mich sanft anlächelt. »Versau das nicht, okay? Ich mag sie.« Mit einem Küsschen auf meine Wange schnappt sie sich ihren Koffer in meiner Hand und schleppt ihn selbst die Treppe hinunter.
Mein Herz rast so verdammt schnell, dass ich jeden holprigen Schlag an meinen Rippen spüre. Eine Sekunde lang glaube ich zu halluzinieren, doch als ihr verführerisches Vibrato mich wieder erreicht, weiß ich, dass sie keine Fata Morgana ist
.
Willow ist hier, leibhaftig. In meiner Einfahrt. Und spricht mit meiner Mutter. Umarmt Annabelle. Lächelt, winkt ihnen zum Abschied zu, während sie sich in den Wagen quetschen und losfahren.
Dann dreht sie sich um und sieht mich an.
Und wirkt nicht gerade glücklich, mich zu sehen.
In Wahrheit … sieht sie ausgesprochen angepisst aus.
Sofort wird mein Schwanz schmerzhaft steif.
Mein Gott, habe ich sie vermisst – ihre Unverschämtheit, die die Flammen meines permanenten Verlangens nach ihrer Seele und ihrem Körper schürt.
Mit verschränkten Armen lehne ich mich lässig an den Türpfosten und warte. Je länger ihr wütender Blick mich versengt, desto stärker wird das Pochen in meinen Eiern.
Ich lasse zu, dass sich ein langsames Grinsen über mein Gesicht ausbreitet, woraufhin sich ihre finstere Miene noch mehr verdüstert. Je entspannter ich werde, umso heftiger brennt sie.
Sie ist die Verkörperung der Herrlichkeit.
Von Stärke und Schönheit.
Meine feurige Freundin ist hier in all ihrer Pracht.
Und es spielt keine Rolle, warum oder wie oder dass ihre Blicke einen Schwächeren tot umfallen lassen könnten.
Jetzt, wo sie sich zu meiner Haustür bequemt hat, geht sie nicht mehr weg.
Niemals.