Epilog
Willow
»Was ist mit dem hier?« Ich drehe das iPad herum und schiebe es zu ihr. »Es ist perfekt, finde ich.«
Sie wirft einen flüchtigen Blick darauf. »Das ist ein Witz, oder?«
»Sierra«, schimpfe ich.
»Nein.« Sie schiebt mir das Gerät über den Tisch zurück. Ich kann es gerade noch auffangen, bevor es herunterfällt, und verschütte dabei fast meinen Eistee.
»Du bist unmöglich, weißt du das? Du musst dich mal entscheiden.« Ich verlasse die Website, indem ich zu Nordstrom’s klicke, und versuche angesichts dessen, was ich alles noch zu tun habe, nicht durchzudrehen.
Die letzten drei Monate waren wie ein Wirbelsturm. Ich bin zu Shaw gezogen. Wir haben im Frühsommer einen Hochzeitstermin festgesetzt, der rasant näher rückt. Ich wurde von einer New York Times
-Bestseller-Autorin ausgewählt, die mit ihren früheren Hörbuchversionen nicht zufrieden war und möchte, dass ich den Großteil ihrer Backlist neu einspreche. Und sie hat mir einen Vorschuss auf ihre kommenden Projekte gewährt. Zwischen wöchentlichen Ausflügen nach Colorado, um Annabelle zu besuchen, die jetzt ein ganz anderer Mensch ist, lag meine Mutter letzten Monat mit Lungenentzündung im Krankenhaus. Zum Glück hat sie sich vollständig erholt.
Ach, und anscheinend werde ich so reich wie Warren Buffett, da die Behörde für Lebens- und Arzneimittelsicherheit die Produktion von Zytin genehmigt hat, wofür mein Vater das Patent hatte.
Doch nichts davon übertrifft die aufregendste Entwicklung von allen.
Ich bin schwanger. In der zehnten Woche.
Ich kann nicht fassen, dass das mein Leben ist.
»Könnt ihr nicht einfach durchbrennen? Diese Hochzeit macht eine Menge Arbeit.« Sierra sackt auf ihrem Stuhl zusammen und fängt an, an ihrem schwarzen Nagellack zu kratzen.
»Ich habe vor, nur einmal zu heiraten, und ich werde nicht zulassen, dass irgendein schlechter Elvis-Imitator meine Hochzeitsurkunde unterschreibt. Außerdem will ich meine Mutter dabei haben, ob sie sich später daran erinnert oder nicht.«
»Na schön«, murrt sie laut. »Zeig mir noch was anderes.«
»Du musst mir schon ein bisschen helfen, Ser. Du hast mir nicht mal gesagt, was dir gefällt.«
Sie zuckt mit den Achseln. »Ich mag lieber Leder als Spitze.«
Ich ignoriere sie. Dieses Gespräch haben wir schon geführt. Und zwar vier Mal. »V-Ausschnitt? Sweetheart-Ausschnitt? Glockenrock? Schulterfrei? Bodenlang? Knielänge? Altrosa?«
Sie schnaubt verächtlich. Sie hasst Rosa in jeder Form, außer in ihren Haaren.
»Wie wär’s hiermit?« Ich zeige ihr ein mitternachtsblaues kurzes Dupion-Cocktailkleid mit V-Ausschnitt. »Schau mal … es hat Taschen«, sage ich aufgeregt. Welche Frau hätte nicht gern Taschen an ihren Kleidern?
»Auf keinen Fall.«
»Du bringst mich noch um.« Ich seufze. »Das ist etwa das hundertste Kleid, das du in der Luft zerreißt.«
»Weil du einen schrecklichen Geschmack hast. Müssen wir den ersten Schulball noch einmal erleben?«
»Noch eine Cola, Ma’am?«, fragt die Kellnerin, die an unseren Tisch getreten ist, Sierra, bevor ich die Gelegenheit habe, sie daran zu erinnern, dass ihre Velours-Trainingsanzugphase in der elften Klasse auch nicht gerade eine Sternstunde war.
»Ich möchte Sie etwas fragen.« Sierra legt den Ellbogen über ihre Rückenlehne und sieht unsere junge flotte Kellnerin namens Azalia mit schief gelegtem Kopf an. Oh-oh
. »Sehe ich wie eine Ma’am aus?«
Azalia sieht sich mit ihren großen Augen Hilfe suchend um. Ich lächele sie mit einem mitfühlenden Achselzucken ermutigend an. Sie ist auf sich gestellt.
»Äh …« Azalia sieht aus wie eine Maus in der Falle. Das arme Ding.
»Sehen Sie nicht sie an«, fährt Sierra sie an. Mann, hat die eine Laune. Man könnte meinen, sie
sei diejenige, in deren Körper die Hormone verrücktspielen, und nicht ich.
Unsere offenkundig aus den Südstaaten stammende Bedienung, Gott segne ihre unschuldige Seele, wird vor einer wie auch immer gearteten vernichtenden Bemerkung seitens Sierra gerettet, weil Shaw und Noah sich genau diesen Moment aussuchen, um zum Mittagessen einzutrudeln.
Ich stehe auf, um die Arme um den Hals meines Verlobten zu schlingen.
»Du hast mir gefehlt«, schnurrt Shaw, bevor er mich auf den Mund küsst. Der Kuss ist lang und lüstern und für ein Restaurant viel zu unangemessen. Ich werde sofort feucht, da mein Verlangen nach ihm niemals gesättigt ist.
Während sein Mund immer noch meinen verschlingt, vergräbt er eine Hand in meinen Haaren und dreht meinen Kopf so, wie er ihn haben will. Er küsst mich besinnungslos und reißt sich in dem Moment los, als ich dahinschmelze. Meine Lider sind schwer, und das Pulsieren zwischen meinen Beinen fleht mich an, ihn irgendwo mit hinzunehmen, wo es dunkel ist und wir allein sind, damit er es lindern kann.
»Du hast anscheinend Hunger.« Er grinst, und der Schalk in seinen Augen verrät mir, dass er das mit Absicht getan hat.
»Das war gemein.«
»Das war die Vorspeise, meine Schöne.« Sein Blick gleitet an meinem Körper hinab und erhitzt mich. »Ich freue mich schon auf das Dessert.«
»Himmel Herrgott«, lamentiert Sierra. »Ihr verderbt mir den Appetit.«
»Komisch. Meiner wird größer«, höre ich Noah lachend sagen.
»Oh mein Gott«, murmelt Sierra. Ich kichere.
»Äh, ich gebe Ihnen noch einen Moment.« Azalia hastet davon, wahrscheinlich um eine Vertretung für diesen durchgeknallten Tisch zu finden.
»Hallo«, flüstert Noah mir zu und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Shaw schubst Noah, der jetzt lacht, beiseite. Er ist angesichts der brüderlichen Zuneigung, die Noah mir entgegenbringt, erheblich lockerer geworden.
Shaw begleitet mich an meinen Platz und setzt sich rechts neben mich, während Noah den einzig übrig gebliebenen Stuhl an unserem Vier-Personen-Tisch herauszieht.
»Sierra«, begrüßt Noahs dunkle Stimme sie. Wie er ihren Namen in die Länge zieht, fühlt sich an, als würden einem mit verbundenen Augen Seidenbänder über den nackten Körper gezogen. Sinnlich. Erotisch. Selbst ich habe eine Gänsehaut.
Doch meine kaltherzige Ex-Mitbewohnerin bleibt davon unberührt. Jedenfalls will sie das allen weismachen. Sie rollt demonstrativ mit den Augen und schnalzt verärgert mit der Zunge.
Noah nimmt Platz, ohne sie aus den Augen zu lassen. Ein amüsiertes Lächeln umspielt seine Lippen. Ich glaube, er durchschaut Sierras Theater. Als sie seinem Blick ausweicht, kann ich mir nur mit Mühe die Frage verkneifen, warum sie sich nicht einfach von ihm vögeln lässt und es hinter sich bringt.
Ulkig, diese zwei.
»Warum ist er noch mal hier?«, faucht Sierra und verschränkt die Arme. Noah, fröhlich und unbekümmert, wirft den Kopf zurück und lacht. Er legt den Arm auf den Tisch und beugt sich so dicht zu ihr, wie er sich traut.
»Ich bin der Trauzeuge des Bräutigams. Du bist die Trauzeugin der Braut. Und durch eine wunderbare Fügung des Schicksals werden wir Taufpaten sein. Ich fürchte, wir werden eine ganze Zeit wie siamesische Zwillinge sein, Mäuschen. Und ich für meinen Teil kann mir nichts Schöneres vorstellen.«
Sie schnappt empört nach Luft. Ich bin mir sicher, dass seine Bemerkung viele Dinge enthielt, die sie aufregen, doch als sein erhitzter Blick auf ihre Hüften fällt, kriecht eine echte Röte an ihrem Schlüsselbein hinauf und hält erst an, als sie am Haaransatz anlangt. Zufrieden lehnt Noah sich zurück und nimmt beiläufig seine Speisekarte.
Okay …
»Also«, sage ich und klappe die Schutzhülle meines iPad zu. »Wie war euer Vormittag?«
Shaw und Noah hatten heute Morgen irgendein Geheimtreffen geplant, über das sie vorher nichts verraten wollten. »Ein Männertag«, hatte Noah gesagt.
Sie wechseln verstohlene Blicke.
»Gut.« Auch Shaw nimmt seine Speisekarte in die Hand und klappt sie auf, um die Vorspeisenliste zu überfliegen.
»Das ist alles? Mehr verrätst du mir nicht?«
»Wie fühlst du dich heute?«, lenkt er ab und sieht mich von der Seite an. »War dir heute schlecht?«
Angriffslustig lache ich auf. »Du bist nicht so geschickt, wie du glaubst, Verkehrsrowdy.«
Er blinzelt mir zu. Verdammt, er weiß, was das mit mir macht. »Da bin ich anderer Ansicht, Goldlöckchen.« Sein Blick fällt auf meine Nippel, die für ihn strammstehen.
»Zeig es ihr einfach, Merc«, sagt Noah. »Sie wird es sowieso sehen, wenn ihr später im Bett seid.«
»Was denn?«
Ich suche Shaws Körper nach irgendetwas Auffälligem ab, doch er trägt noch dasselbe enganliegende T-Shirt und die Dark-Washed Jeans, in der er heute Morgen das Haus verlassen hat. Er ist wahnsinnig sexy. Diese feingeschliffenen Muskeln, die langen geschmeidigen Finger, dieser talentierte …
Konzentrier dich
.
»Sagt es mir.« Mein Blick huscht zwischen ihnen hin und her.
Shaw sieht seinen besten Freund wütend an, doch Noah tut es mit einem Achselzucken ab. »Es ist wahrscheinlich nicht klug, eine Schwangere zu ärgern. Hast du nicht gesagt, sie sei noch reizbarer als sonst?«
Shaw flucht halblaut.
Ich habe nicht mal Zeit, um wütend zu werden, weil Sierra stichelt: »Was hast du gemacht, Mercer? Dir ihren Namen auf die Arschbacken tätowieren lassen?« Grinsend schiebt sie ihren Strohhalm in den Mundwinkel und trinkt.
»Gut geraten«, wirft Noah lachend ein.
Sierra sagt etwas zu ihm, das ich nicht höre. Meine ganze Aufmerksamkeit ist jetzt auf Shaw gerichtet. Unsere zwei Spaßvögel sind vergessen.
»Du hast dir ein Tattoo stechen lassen?«
Er nickt langsam und zögernd.
Er ist nervös.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den selbstsicheren und allmächtigen Shaw Mercer noch nie so besorgt gesehen habe. Es ist hinreißend.
»Wohin?« Als er nicht antwortet, frage ich mit einem provozierenden Lachen: »Wirklich auf deine Pobacke?«
Er wirft Noah und Sierra einen wütenden Blick zu. »Nein.« Sie kreischen vor Lachen.
»Ignorier sie.« Ich rücke meinen Stuhl näher zu ihm und nehme seine Hand in meine. »Sag es mir.«
»Ich wollte es dir unter vier Augen sagen.« Noch ein finsterer Blick in Noahs Richtung. Sein Blick sucht meinen. Dann zieht er seine Hand aus meiner, schiebt sein T-Shirt hoch und bringt seine kräftigen Bauchmuskeln zum Vorschein, bei deren Anblick mir das Wasser im Mund zusammenläuft.
Ich konzentriere mich sofort auf ein Stück durchsichtige Plastikfolie, die eine Stelle links von seinen Rippen verdeckt, direkt über den Puzzleteilen, die ich heute Morgen in der Dusche mit der Zunge nachgezogen habe, bevor ich ihm die Knie weich gemacht habe. Die Haut darunter ist rot und gereizt … und frisch tätowiert.
Mir stockt der Atem. »Was ist das?«
Ich will die Stelle berühren, doch er packt meine Hand und hält mich davon ab.
»Hier. Es muss sowieso ab.« Er zieht die Folie zurück und legt die entzündete Haut darunter frei, und jetzt, wo die Abdeckung fort ist, kann ich es deutlich sehen.
Ich fange an zu weinen. Richtig schön hässlich. Mit Rotz und allem.
Zum Teufel mit euch Hormonen!
»Liebling. Willow, nicht weinen.«
Er zieht sein T-Shirt wieder herunter und greift nach mir, doch ich ziehe es wieder hoch, um mir das Symbol der Liebe, das er für immer mit sich tragen wird, genau anzusehen.
Hängende Äste über einem verwitterten Baumstamm.
Die Blätter sind kompliziert, aber eindeutig. Die meisten sind ausgefüllt, einige leer gelassen.
Wurzeln breiten sich am Fuß des Stammes aus, kräftig und reichlich. Tief und verschlungen.
Der Weidenbaum füllt den leeren Raum perfekt aus.
Als ich den Kopf hebe, lächelt er mich warm und zärtlich an. Er nimmt mein Gesicht in die Hände und wischt meine Tränen weg. Er kommt so nah zu mir, dass er an meinen Lippen flüstern kann: »Du hast mir einmal gesagt, mein Tattoo sei unvollendet, weißt du noch?«
Das werde ich nie vergessen.
»Ich habe endlich etwas gefunden, das ich genug liebe, um das Tattoo damit zu vervollständigen«, sagt er heiser zu mir.
Habt ihr jemals gespürt, wie euer Herz sich in die Höhe schwingt? Vor so viel Liebe und Glück anschwillt, dass sich eure Brust ausdehnt und ihr euch sicher seid, dass sie gleich zerreißt?
Das hoffe ich. Denn jeder verdient es, dieses Gefühl, das rein und makellos und unverdorben ist, wenigstens einmal im Leben zu spüren.
Ich hebe sein T-Shirt noch einmal hoch und fahre die gerötete Haut entlang. »Das geht nicht mehr ab, das weißt du.«
Er lacht und küsst mich fest auf den Mund. »Davor hat man mich gewarnt.«
Ich werde sentimental. »Danke, dass du mich nicht aufgegeben hast.« Ich werfe die Arme um ihn und drücke ihn. »Danke, dass du um mich gekämpft hast, Shaw.«
»Du bist ein harter Gegner.« Er befreit sich aus meinen Armen und nimmt mein Gesicht in die Hand. »Aber ein würdiger. Ein ebenbürtiger.«
Welche Frau würde da nicht dahinschmelzen? Sierra vielleicht. »Ich liebe dich.«
Er senkt seinen Mund auf meinen und flüstert: »Ich liebe dich auch.«
»Bääh! Ihr zwei macht mich echt krank«, jammert Sierra und schlürft laut den Rest ihrer Limonade. Aber ein Blick auf sie sagt mir, dass sie lügt. Sie freut sich für mich.
»Ich glaube, in dem Fall muss ich Sierra zustimmen«, fügt Noah hinzu und mustert sie eindringlich. Sie meidet absichtlich seinen verzückten Blick.
Lachend klappt Shaw genau in dem Moment seine Speisekarte wieder auf, als die Kellnerin zurückkommt, um unsere Bestellung aufzunehmen. Das Gespräch kehrt schnell zu Alltagskram zurück. Zur Hochzeit. Dem Schaden, den der Hagelsturm im letzten Monat an unserem Dach angerichtet hat. Annabelles mit großer Spannung erwartetem Besuch zu Hause am nächsten Wochenende. Ihr erster.
Das Gespräch ist unbeschwert und entspannt, und ich erlaube mir, mich zurückzulehnen und eine Rückschau auf mein Leben und die Menschen zu halten, die zu lieben ich mir erlaubt habe. Wirklich, vorbehaltlos und angstfrei zu lieben. Mein Kreis wird niemals groß sein, doch er wird aufgrund eines Glieds stärker sein als je zuvor.
Vor Jahren, als ich am Tiefpunkt meines Lebens war, las ich zufällig ein Zitat: Manchmal finden wir uns, indem wir uns verlieren
. Es ist mir die ganze Zeit im Gedächtnis geblieben, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich je gefunden werden könnte.
Erst jetzt verstehe ich, dass ich nie verloren war. Ich habe mich nur vor aller Augen versteckt und darauf gewartet, dass jemand davon Notiz nimmt, dass jemand die innere Kraft hat, sich durch alle von mir errichteten Hindernisse zu kämpfen, als ob sein Leben davon abhinge.
Ich habe auf jemanden gewartet, der meine Hand nimmt.
Ich habe auf Shaw Mercer gewartet.