Neun

Ich kenne diesen Menschen nicht; ich weiß nur, wovon er spricht. Nicht was er verschweigt. Ich weiß nicht, woran er sich erinnert. Was weiß ich von einem Menschen, wenn ich nicht weiß, von welchen Erinnerungen er zehrt?

Auch die Liebe zum einzig geliebten Menschen besteht aus tausend marktgängigen Regungen, die ins Einzigartige sich einlagern wie Grieß in die Niere.

Bereit, jeden zuerst zu erblicken, der ihn erblicken könnte. Dies seine Lauer, seine einzige Obacht: ungesehen den anderen sehen.

Warum strahlt in ihrem Auge verlockende Ferne, ihre Zunge aber schlägt hiesiger als die Hiesigen? Mag sein, weil wir aus Fernem und Nahem, Frühem und Spätem so ungefüge zusammengesetzt sind.

Distanz, Diskretion, Distinktion: Dis, Dis und nochmal Dis. Das Präfix der Zurückhaltung.

Umfahrung vielzackiger Kleckse, ja. Nicht aber Bekenntnis zu einer Linie. Häuslichkeit ja, aber keine Anfälle von Orientierungswahn. Umständliche Memoranden zu Momenten, ja, aber bloß keine Momentaufnahmen.

Das Vorausvernommene bleibt inzwischen unbeachtet, ungedeutet. Die Religiösen verstehen sich aufs Deuten. Die Ungläubigen brauchen Klartext.

Oder lachen sie allesamt, von göttlichem Leichtsinn erfüllt, divina levitate? Von himmlischer Heiterkeit bis in die Grundfesten erschüttert.

Das erste Mal nackt vor einem fremden Mann, trägt sie eine Augenklappe vor ihrem Geschlecht.

Nacktheit, die ihren Namen verdient, wird stets aus Versehen erblickt.

Die Menschen haben jahrhundertelang mit rauchenden Köpfen auf der Erde gesessen und die Atmosphäre verpestet.

Einmal nur eine Fingerspitze, die nicht zeigt, sondern Untragbares balanciert.

Geh und such dir eine Frau, die den Geist eines Ahnen hütet.

Die sagt: Ich denke nichts als das Andenken.

Für mich wäre es das Schlimmste, aufs Schlimmste nicht gefaßt zu sein.

Vanessa atalanta, der »Admiral«, saß auf einer weißen Glockenblume. Er klappte die Flügel auf und zeigte die schwarzen Ecken mit den weißen Tupfern, davor ein Streifen in Orange. Unter den Schmetterlingen gilt er als Einzelgänger, sein Flug ist rasch und elegant, er gaukelt kaum und ist recht ungesellig.

Bald nun, wenn die Kirschblüten aufgehen und die Kugelrobinie austreibt, der zarte grüngelbe Besatz. Erst kommen die Maßliebchen, dann Bienenwirt Löwenzahn, den Gelbsein lehrt die frühe Narzisse. Doch der das alles sehen darf und sich zuordnet, der nicht Atem genug besitzt, um zu loben und zu begrüßen, zu verklären und immer noch eins draufzusatteln, ist ein Schwärmgeist in beständiger Furcht vor der jähen Ernüchterung. Sein Schwärmen ist also sein Schutz, ist sein Harnisch gegen den Dolchstoß eines plötzlich eiskalten Anblicks der Dinge.

Ist das noch ein Strahlen von Gleichgültigkeit? Unbarmherzig zuweilen ist ihre Schönheit, deren Widerschein er verherrlicht in seiner Freude, zutiefst gerührt vom gnädigen Du, das schließlich ihm anbietet die mächtige Sonne.