Jemand ruft: Vorhang auf! Reißt den Lappen hoch!
Der Vorhang geht auf. Man sieht Menschen beim Leben erwischt. Sie erstarren und stehen steif auf der Stelle. Einer Frau wird die Perücke vom Kopf gerissen — an einem unsichtbaren Faden steigt sie hinauf in die Himmel-Soffitten.
Und alle, die da unten etwas suchen, auf dem Parkett oder dem Teppich, die sich bücken und im Halbdunkel den Boden abtasten, die Matten und Läufer, vorerst drei Männer und zwei Frauen, fünf zu gleicher Zeit, ohne gemeinsam etwas verloren zu haben, in einem Raum kurz vor dem Audienzsaal, während dieser langwierigen und ermüdenden Führung durch ein Schloß in Lothringen, wo sie zurückblieben und anfingen zu suchen, um schließlich sich langsam vom Boden zu erheben und Borten und Paneele, Tapeten und Gobelins zu betasten … Schluß war es mit dem Bücken und Knien. Sie waren vom Tastsinn überwältigt worden. Was immer ihnen jetzt bevor- oder im Weg stand, nur mit dem lesenden Tasten eines Blinden würden sie’s erkennen.
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In einem Café in Neuruppin, 1991, in einem düsteren Gastraum, hinter einer nikotinvergilbten Gardine, sitzt ein Mann aus einer früheren Zeit, eine Gestalt, wie von Gogol oder Ibsen entworfen, und schreibt mit Eifer in ein kleines Buch, versucht der unverständlichen Szenerie, des wirren Epochenverschnitts, der sich draußen auf der Straße zeigt, wo auf dem Pferdefuhrwerk ein Navi montiert ist, durch einen ebenso besessenen wie akribischen Beschreibungsakt Herr zu werden. Wenn er es schon nicht mehr versteht, so sucht er es durch lückenlose Beschreibung zu bannen.
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Langsamer werden die alten Offenheiten jetzt gesagt, die man vor Zeiten schon einmal rasend schnell hervorstieß. Oder die man ein andermal, zweihundert Jahre später, sich gegenseitig soufflieren mußte, denn da waren sie allgemein verpönt. Oder die man, wiederum ein Äon darauf, geradezu gen Himmel ausrief — ohne genau zu wissen, was man eigentlich auf dem Herzen hatte. Nun wandern die alten Offenheiten erneut Wort für Wort durch die noch unsicheren Kehlen.
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Es war auf einem Bahnhof in Amerika. Ein Mann fiel, ehe er aussteigen konnte, vornüber aus dem Zug. Ich ging zu ihm und hob ihn vom Boden. Er war nicht schwer, doch waren seine Knochen so weich, daß er sich nicht aufrecht halten konnte. Dann wieder härteten und versteiften sie sich, so daß der Mann ein paar Schritte gehen konnte. Doch kaum besaß er Statur und aufrechten Gang, da verlor er sie auch schon wieder und erweichte am ganzen Gestell, worauf ich ihn unterfangen und schleppen mußte. Seine Augen blieben geschlossen, er sagte nichts oder konnte nicht mehr sprechen. Ich rief über den Perron: I need professional help. Professional help, please! Doch niemand reagierte, und ich bugsierte die Riesen-Molluske von Mann, die sich nur zeitweise erhärtete, wie eine leblose Schaufensterpuppe vor meinem Bauch über den Bahnsteig.
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Der Mann, der eine junge Forstbeamtin bat, ihm beim Ausfüllen eines komplizierten Fragebogens behilflich zu sein, wollte von der Behörde ein mittelgroßes Stück vertrockneten Fichtenwalds erwerben, um dort Neuanpflanzungen vorzunehmen. Er sagte, im Prinzip verstehe er schon, welche Auskunft man von ihm wünsche. Doch wenn man ihn so frage wie auf dem Fragebogen, dann wisse er einfach die richtige Antwort nicht.
»Wenn man mich so fragt, bin ich wie vor den Kopf gestoßen und kann keine passende Antwort geben. Am besten gehen wir so vor, daß ich die Frage aus Ihrem Mund noch einmal höre. Oder noch besser: Sie stellen mir die Frage mit Ihren eigenen Worten, damit ich nicht mehr so unsicher werde.«
Der Fragebogen umfaßte zwölf Seiten mit vielen enggedruckten Anmerkungen und Antwortbeispielen.
Bis sie den Bogen ausgefüllt und alles beantwortet hätten, würde zwischen ihm und dieser Hilfsbereiten etwas heraufziehen, das sich, wie ihm schien, bereits nach der dritten Fragestellung bei ihr mit einer leichten Unruhe von Hüfte und Gesäß ankündigte. Allerdings hätte es ebensogut eine Reaktion der Ungeduld sein können angesichts des bürokratischen Frageschwulstes. Er ärgerte sich über die Unsicherheit seiner Einschätzung. Jeder andere hätte ein solches Gesäß-Ruckeln unmittelbar zu seinen Gunsten ausgelegt.
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Im Rückblick auf diesen einen, das ganze Leben verbessernden Tag (time bettering day heißt es in Shakespeares 82. Sonett) war ich ein gutaussehender, gutgekleideter Mann mittleren Alters, der auf seinen Zug nach Paris wartete und dabei in einem riesigen Wintergarten von Bahnhof zum Perronläufer wurde, wie mein Vater einer war.
Ich kaufte Obst und Zeitungen und erfreute mich an den heiteren Umständen des Wartens: Menschen sehen war mir ein Vergnügen, beinah ein Laster.
Plötzlich merkte ich, daß mir meine Reisetasche fehlte, in der sich alle meine Zahlungsmittel und Papiere befanden. Ich ging meine Wege ab — und suchte. Vielleicht war ich aufgrund meiner unbeschwerten Stimmung nachlässig geworden. Zusehends geriet ich in Unruhe, mein Zug stand schon abfahrbereit, ich wurde in Paris erwartet. In äußerster Bedrängnis hielt ich eine junge Zugbegleiterin an, ich hängte mich an ihren Arm und fragte verwirrt, wie mir denn bloß zu helfen sei? Der einzig richtige Weg führe ins »Eigentumsbüro«, antwortete sie. In diesem Moment wußte ich, daß ich mir meinen Zug, der gewissermaßen mit der Fahrkarte nach Paris auch schon zu meinem »Eigentum« gehört hatte, aus dem Kopf schlagen mußte.
»Warum trägst du deine Papiere nicht auf dem Leib, wo sie hingehören?« fragte die Zugbegleiterin. Ihr Ton war tadelnd und unwirsch, wie sonst nur eine langjährige »Begleiterin« zu einem spricht, wenn man wieder einmal einen plumpen Fehler gemacht hat. Und sie duzte mich, ohne mich anzusehen!
Es bestand kein Zweifel, daß wir mit Anschlag dieses Tons einen Zeitraum betraten, den wir noch lange Arm in Arm durchschreiten sollten, ohne daß ich meine Tasche mit dem vielen Geld und der kleinen Identität jemals wiedergefunden hätte.
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Wie seine Augendeckel flattern! Sobald er den Mund aufmacht, spricht er mit bebenden Lidern. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen? Jedenfalls nicht, um sie zu genießen. Was soll es bedeuten? Er sieht den anderen nicht an, wenn er mit ihm spricht. Gleichzeitig bittet er mit Nachdruck in der Stimme, daß man auf seine Worte achte. Sein offenes Auge könnte von seinen Worten ablenken. Manchmal zieht er sogar zweifelnd oder indigniert die Brauen hoch bei geschlossenen Augen. Er kann jemanden anblicken. Er vermeidet’s aber. Er kennt seinen Blick und dessen trügerische Wirkung. Sein Blick ist rund und gutmütig. Er raubt seinen Worten das Gewicht, er bricht ihnen die Spitze. Er schwächt das Apodiktische, das seinen Worten nicht fehlen darf:
»Es gibt bei uns eigentlich nur Morde, die keine Vergeltung nach sich ziehen. Wir morden in der eisigen Isolation unseres Auftrags oder unseres Bedürfnisses zu morden. Die Morde verlieren sich in der moralischen Leere der akkuraten Rechtsprechung. Der gewissenhafte Mörder aber sagt: Ich habe nicht gemordet, um verurteilt zu werden. Ich habe gemordet, um die Furcht zu ertragen, selbst ermordet zu werden. Um unter Vergeltungsfurcht meine Sinne, meinen Verstand, meinen Überlebenswillen zu schärfen. Die übliche Haftstrafe enthebt mich jeder Ertüchtigung meiner selbst … Welcher Verbrecher würde sich je im wörtlichen Sinn der Anklage schuldig bekennen? Würde etwa sagen: Ja, genauso ist es gewesen, wie Sie es vorgetragen haben, Herr Vorsitzender, Ihr Urteil erfaßt mein Vergehen vollumfänglich, ich hätte es nicht besser gestehen können, als Sie es vorgebracht haben. Immer wird er zumindest sagen: Ja. Aber. Oder: ich habe gemordet, aber ich nenne es nicht so. Gewiß ist der Angeklagte mitunter der Wahrheit näher, wenn er die Tat im Sinne der Anklage leugnet. Die Tat, vor Gericht bekannt, eingekreist, zu Gehör gebracht, in etlichen Aspekten zur Schau geboten, stellt zuletzt etwas übertrieben Isoliertes dar, herausgerissen aus langen, vielfach verflochtenen Vorgängen, in deren Verfolg sie, die Tat, irgendwann mit letzter Eigentümlichkeit, wie von selbst geschah. Vom Täter beinahe eher zugelassen als absichtlich ausgeführt.
Die strafbare Handlung beginnt, sobald ein von Mord besessener Gedanke die je nach Individuum unterschiedlich zu bemessende Dauer des Sich-Umwälzens überschritten hat und von nun an unaufhaltbar aus dem Kopf heraus zu den handelnden Organen strebt, zum Beispiel den Händen, die erdrosseln.
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Selten trifft man in Europa Menschen, die nicht schreien können.
Hier haben wir gleich zwei von ihnen, Franziska und ihre Tochter Antonia. Jeder weiß, daß die Mutter die Tochter häufig schilt. Um ein derbes Anschreien ringend, schimpft sie jedoch nur mit gehemmten Lauten und stößt mehrmals ein gedämpftes, schalloses Oah! Oah! hervor. Während die Gescholtene den ganzen Körper spannt und sogar mit den Händen an ihrer Kehle drückt, in der Hoffnung, den großen, den maßlosen Abwehr-Schrei herauszubringen. Doch es kommt nur ein verhaltenes Himmern, etwas wie ein weit entferntes Pferdewiehern. Sobald die beiden außer sich sind, wird ihre menschliche Stimme wie von fernen Reglern auf den Umfang von harmlosen Tierlauten verringert. Das Mädchen wagt niemanden zu grüßen. Die Ahnung, daß alle von ihrem Schreiversagen wissen, beugt sie, und sie blickt zu Boden.
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Erscheinen und Von- der-Bildfläche-verschwunden-Sein wiegen dasselbe. Erst wenn von dem Wort »zart« eine vielfache Verfeinerung entstünde, käme man dem Maß für den Schein einerseits, für Nicht-da und Leere andererseits näher. Von dort, in einer nanometrischen Dimension der Zartheit, stieße man vor bis zum realen Gewicht eines Gedankens.
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Eines Tages fand er seinen Abseitsort. Friedliches städtisches Viertel. Von breitem alten Kopfsteinpflaster umgeben ein Platz mit einem kleinen Rosenhag und einer Laube. Von dort führte eine Straße in die gehobene Wohngegend, locus Eleate (!), Entschuldigung, locus elatus (erhaben) sollte es heißen, im Abseits manchmal nicht astrein zu unterscheiden. Jedenfalls sah er die schöne Kurve um den Platz, die hineinschwang in die »schattige« Straße, in der auch das dreistöckige Mehrfamilienhaus stand, Muthesius-Stil, sein vorerst letzter Rückzugsort in dieser Stadt. Wollte ihn jemand besuchen, so traf man sich in der kleinen Laube im Rosengarten, nicht in seiner Wohnung. Auch bei schlechtem Wetter bot die Laube genügend Schutz.
Nach einem halben Jahr des »erhabenen« bzw. dem unveränderlichen Sein der Eleaten gewidmeten Wohnens geschah ein Zwischenfall. Jemand hatte sein Auto beschädigt, die Scheiben waren besprüht, der Auspuff verbogen. Er hatte im Verdacht eine junge, stets wütende Mitbewohnerin, die ihm zuweilen im Treppenhaus begegnete und sicher mit ihm ins Gespräch gekommen wäre, wenn sie sich nicht jedesmal in heller Aufregung befunden hätte. Ihre Wohnung lag ein Stockwerk über der seinen, also lebte sie ebenfalls nicht weit von dem stillen und wohltuend ovalen Platz entfernt, der jedoch auf ihr reizbares Gemüt offenbar wenig Einfluß nahm.
Ihm war, als hätte sie im Hauseingang gelauert, wie er den Schaden an seinem Wagen aufnähme, ob mit Erschrecken oder nur verärgert. Sie sah, er klingelte beim Hausmeister im Nebengebäude, sicher um ihm mitzuteilen, was geschehen war. Ob er einen Verdacht habe. Statt auf ihn einzugehen, erregte sich der Mann über irgendwelche Bewohner des Hauses, die dauernd falsche Beschwerden bei ihm einreichten. Dann erging er sich in zusammenhanglosen Bezichtigungen, machte dabei immer einen Schritt auf den Geschädigten zu und dann rückwärts einen von ihm weg, als wäre er das Ziel eines nicht ganz entschlossenen Angriffs. Ob der Concierge auch Beschwerden der schönen Wütenden meinte oder nur die anderer Bewohner, blieb dabei ungewiß.
Wie auch immer, verärgert über das haltlose Gerede des Hausbesorgers, kehrte der Geschädigte sich ab und ging wieder zu seinem stillen Platz im Rosenhag.
Im Schutz der bequemen Laube sann er über die befremdliche Liebesbekundung, die mit der Beschädigung seines Wagens zusammenhing. Er malte sich aus, mit welchem Gefühl, mit welchem Kalkül er in Zukunft an der Disziplinierung einer Liebenden würde arbeiten müssen.
Einerseits ahnte er etwas von der Intelligenz der ewig Aufgebrachten und sie ließ ihn neugierig werden. Sie wäre womöglich in der Lage, ihm das Unglaubwürdigste wahrscheinlich zu machen. Andererseits glich bisher jede ihrer Annäherungen einem klaren Wasser, das glänzt, zittert und gleich aufzuwallen droht, weil es von Unterwassermolchen nur so wimmelt.
Sie war ihm bestimmt. Sie betrat die Laube und prüfte seine Lippen vorsichtig mit den Fingerspitzen, während ihr Mund aufs gröbste über jenen Hausmeister schimpfte. Sie blieb neugierig in der Annäherung wie eine, die ein Sich-Verlieben zwar für unvermeidlich, jedoch in puncto »Den-Kopf-Verlieren« noch für entwicklungsbedürftig hält.
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Ihre Gewohnheit war es, beim geringsten, nur flüchtigen Lächeln bereits das ganze Gebiß zu entblößen. Ein Gebiß wie kein zweites, mit überzählig vielen kleinen Zähnen, statt zweiunddreißig bestimmt mehr als fünfzig. Der Anblick war ihrer Kontaktsuche und ihren geschäftlichen Interessen nicht in jedem Falle förderlich.
An einem Sonntagvormittag spottete sie laut vor Gästen über ihren so nahen Nachbarn, den Mann von nebenan. Stets vielseitig aktiv, stand sie mit einem Bein in diesem, mit dem anderen in jenem Geschehen. Gerade hatte sie hinter der Tür einen Haufen Leute empfangen, die sich für den Kauf einer ihrer Wohnungen bewarben, doch mitten im Handel war sie auf einen Sprung zum Nachbarn, in das Zimmer nebenan, gekommen, bloß, wie es schien, um dem Mann flugs mit dem Anblick ihres abnormen Gebrechs den üblichen Schock zu versetzen. Allein für ein schauerliches Lächeln war sie aus dem Nebenzimmer getreten, an das man immer grenzt, sein ganzes Leben fristet man ja in irgendeinem Nebenan. Existiert überhaupt nur irgendwo angrenzend. An irgendeines anderen Tür! Bis sie irgendwann plötzlich aufgestoßen wird. Mit genau diesem schicksalhaft jähen Türaufstoßen stand sie nun vor ihm, ein stumm haderndes oder auch nur forderndes Gegenüber, vielleicht in der Hoffnung, an ihrem Nebenan festzustellen, ob er von drüben etwas Ungünstiges über sich mitbekommen habe, Bemerkungen etwa, die ihr inzwischen wahrscheinlich leid taten und die sie gern mit einer zutunlichen Hand wettgemacht hätte. Aber da das Nebenan sich mit keiner Miene verriet, kehrte sie ebenso abrupt oder gar deutlich beleidigt zurück zu ihren sachlichen Angelegenheiten, riß die Tür zum Nebenzimmer auf, ohne ihr Nebenan mitzureißen, obwohl er ihr im Sog des Abgangs unwillkürlich ein paar Schritte folgte — vergebens! Die Tür wurde vor seiner Nase leise, aber fest geschlossen.
Das Neue aber, davon war er überzeugt, das heftige Aufstoßen der Tür, die ganze frontale Öffnung, würde die Ära der Heimlichkeiten, die bis jetzt hinter geschlossener oder nur um einen Spalt, nur als Spionier-Luke geöffneter Tür stattfanden, ein für allemal beenden. Und was dabei am höchsten zählte: Der Schwung der Türöffnung verpustete endgültig den Staub einer eingebildeten Affäre, welche die Überzähnige in Mienen und Gesten stets als vollzogen vorgespielt hatte.
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Jemanden wie den Bergner könnte ein guter Freund umwerben mit allen Beteuerungen, zu denen Herz und Geist imstande sind, es würde ihn bei seinem Alpha-Mann, der ihn mißachtet und drangsaliert, erst recht Zuflucht suchen lassen. Die süchtige Abhängigkeit des moralisch Subalternen, des Gemüts-Vasallen muß jeden, der ihm gut will, zur Verzweiflung bringen. Man mag ihm noch so viel Zuneigung erweisen, er wird sie nie beachten. Hingegen zeigt er sich auf Schritt und Tritt dem Mana-Herrn erbötig, und der ihm Wohlwollende muß es ertragen, daß jede von dessen Schikanen ihn erhebt und einen Zuwachs an Selbstbewußtsein bewirkt.
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Sie verteidigen die geliebte Frau im Straßenverkehr, wenn sie einen Blechschaden verursacht hat? Sie bestreiten vor dem aufgebrachten Unfallgegner ihre Schuld? Sie nehmen sie in Schutz und weisen den Rüpel in die Schranken?
Zuhause jedoch übernehmen Sie seine Vorwürfe und wenden sie gegen Ihre Schutzbefohlene? Ja, Sie identifizieren sich nicht wenig mit dem Fremden, Sie führen seinen Angriff weiter, vermehrt um die infame Waffe, die nur Ihnen bekannten Schwächen Ihrer Frau ins Spiel zu bringen!
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Der Rausch hatte ihn immer schneller sprechen lassen und beflügelte sein Sitzenbleiben. Sein einziges Buch! Sein einziges Buch sollte es sein: running comment zum sitzenden Leben. Je unbewegter er saß und blieb, um so stärker der Überschwang von Ansätzen, Leitgedanken, richtunggebenden Erinnerungen, übermütigen Sprüchen aufs bessere Leben. Der Fabulierer fest in seiner Klause saß … So ohne irgendetwas Konkretes! Welch ein Gehüpf von Nullen ist man doch! Innen hüpft es derart, als wollten sich alle Nullen gleichzeitig zum Klingen bringen wie tausend feinabgestimmte Silberglöcklein.
Zu vielem aus dem Weg gegangen! Zu viele Tatsachen verkannt. In den Nächten das Haberfeldtreiben, Kolonnen versäumter Menschen, die gute Belehrung hätten sein können. Das qualvolle Wunder der vermiedenen Welt. Erstickend die Gärten, die er nicht betrat, die Wälder, in denen er sich nie verirrte.
Figuren verstoßen. Die Erzählbaren. Der Botschafter, der Richter, der Sportpräsident.
Der Untergebene, der Ungeschickte, der Nachfolger, der Hochstapler. Die Trinkerin.
Alle, allez hopp, ab durch die Mitte, durch die weiße Tür, auf und davon, fort, fort.
Auch diese Ausgeburt, die eigentlich schön ist. Der Ungeschminkte, auch fort! mit ihm. Durch den weißen Saal werden die enttäuschenden Männer fortgejagt. Und durch den blauen die besserwisserischen Frauen.
Beinah in jedem Hinterhof-Fenster liegt ein unpassendes Paar! Der Verschwender und die Karmeliterin, die dicke Verlobte und ihre nekrophile Kusine, die Hure und ihr Vater, der Obdachlose und die Influencerin, der Brustschwimmer und das Serviermädchen. Fort mit ihnen! Nackte, Schiere, Bloße, die den korrupten Fabulierer gleichzeitig um eine Geschichte anbetteln, die sie kleiden möge!
Oder der »Glückwunsch«-Mann. »Sie sehen gut aus, Eric. Glückwunsch!« … »Und jetzt biegen Sie bitte rechts ab. Jawoll. Glückwunsch.« »Wenn Sie also kürzlich auf Usedom waren — Glückwunsch! —, dann haben Sie sicher viele Quallen im Meer gehabt?« »Nicht eine einzige.« »Glückwunsch!«
Aber auch sie wieder unterwegs! Die junge Goldschmiedin mit ihren CDs … Selbstentworfener Schmuck, selbstgefertigt und auf den Rohling gescannt. Der nun ihre komplette Kollektion enthält. Die Braungebrannte ist es, die bei halber Drehung des Oberkörpers mit der Rechten zur Tasche greift, die von der Schulter hängt, und die flache Scheibe lüpft. Da! Sie schiebt die Platte heimlich in die Jackentaschen von Männern, die plaudernd in der Lobby herumstehen. Sie schiebt die Scheibe unter die Servietten ihrer Tischnachbarn. Schiebt sie zwischen die Zeitungsseiten im Frühstücksraum, durch die Türschlitze der Hotelzimmer. Ah, wie das gleitet! Wie geschmeidig sie’s in Zwischenräume steckt! Heimlich wie andere stehlen, so steckt sie zu.
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Ich sah die glückliche Frau mit dem herben männlichen Gesicht, die »Damals …« sagte und von den siebziger Jahren im ehemaligen West-Berlin sprechen wollte. Doch sie stockte, als habe sie den Ansatz der Erinnerung verloren. Sie schwieg, überließ sich dem Fluß der alten Stunden, sie strömte in verlorener Zeit, unfähig, einen einzelnen Vorfall zu erwähnen oder seiner zu gedenken.
Ja, es waren dieselben schönen Jahre, in denen Richard Wansett und ich die besten Freunde waren, und diese Sommer, da wir, wenn alle in die Ferien reisten, durch die ruhigen Parks der Stadt liefen, in heftigen Erörterungen wie immer, und anschließend war es leicht, einen Platz in einem halbleeren Restaurant zu finden, einen Tisch im Wirtsgarten, wo ein paar Sträucher und Blumenkästen uns von dem geringen Straßenverkehr abschirmten. Wir gingen auch draußen in den Wäldern auf schnurgeraden Wegen, in deren Gleichmäßigkeit wir uns verirrten, plötzlich von Manövertruppen der Engländer umgeben, getarnten Soldaten, die wir eben noch für Büsche und Geäst hielten, oder überholt von einem Narren, der auf einer kleinen rollenden Troika stand und sich von acht wunderschönen Huskies ziehen ließ. Wie oft haben wir auf diesen Sommerwegen, an diesen Abenden das Fehlen neuer Bräute bedauert, von neuen frischen Begegnungen phantasiert und gleichzeitig den vergangenen Lieben ein heiteres Andenken bewahrt!
Ich bin mir sicher: Niemand außer uns beiden hätte damals ein solch brüderliches Dafürhalten und Meinen entwickeln können, ein solches Wählen, Stützen und Emporziehen von Vorlieben und Interessen. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern, je mit einem anderen Menschen zu solch weiten Ausblicken, solch überwältigenden Einverständnissen gelangt zu sein. Und wenn die Zwiesprache leicht und glückselig wurde und alles erreicht hatte, was die Vögel in den Lüften können: schwirren, gleiten, niederstoßen, fiel es leicht, zu geloben, daß wir einander niemals missen dürften. War das etwa nicht aufrichtig gesagt? Oder wäre es besser unausgesprochen geblieben? War es etwa schon das erste Wort, nämlich ein überflüssiges, um abzufallen von der Schönheit unserer leisen, radikalen, verschworenen Verständigung?
Die besaß ihrem Wesen, ihrer Stimmung nach immer etwas jungenhaft Heimliches. Selbst wenn wir Mittdreißiger mitunter wie die Greise klagten und unsere Beschwerden über alles stellten. Lachen und Jammern, Hochmut und Verzagen liefen voreinander davon, keines gewann die Oberhand oder die Partie.
Vielleicht war es dieses Prinzip des Anfänglichen, der knabenhafte Pakt, der uns ein wenig verjüngte und unsere Sprache bisweilen ruppig werden ließ.
Längst hat der reine Azur der schönen Jahre sich mit dichten Wolken bedeckt. Es läßt sich nicht länger verhüllen, daß auch diese besten Freunde sich irgendwann aus den Augen verloren.
Eines Tages hatte er sich für jemand anderen entschieden. Er war zum Zweck unserer Trennung zu einer Freundin gezogen, einer wildfremden, von der Partymeile abgeschleppten Person. Er sorgte für ihren Unterhalt, gab sich mit ihr als ein Paar — nur um ihr tagtäglich anzuvertrauen, daß er den anderen, mich, seinen eben noch besten Freund, nicht mehr ernst nehme; daß ich für ihn ein Gespenst der Vergangenheit sei, mit dem er nur noch ab und an einen lockeren Umgang pflege, und das nur aus pflichtschuldiger Dankbarkeit dafür, daß ich ihm einmal bei einer schweren Prüfung in seinem Leben beigestanden sei.
Das war, als er vorübergehend seinen Verstand verlor, ein Idiot wurde; jemand, den niemand mehr sehen wollte, weil er nur noch dasaß, stumm, apathisch, und wenn man zu ihm sprach, wiederholte er bloß die Worte, die er soeben gehört hatte.
Irgendwann steht jeder andere auf, auch der beste Freund, und kehrt dir den Rücken. Es ist beinahe gleichgültig, ob etwas Ungünstiges vorfiel oder nicht. Oder welche wechselvolle Geschichte diesem abrupten Abschied vorausging. Wenn sie nur lang genug und erschöpfend war; dann geschieht es einfach, über Nacht, in einer Nacht.
Irgendwann betrachtet man seine Tage nicht mehr nach Verläufen und Entwicklungen, sondern nach den Einschlagkratern, die die Meteoriten der Abschiede hinterlassen haben.
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Firs, der alte Diener, ›Kirschgarten‹, lange nach dem letzten Akt. Firs allein zurückgeblieben, im Gutshaus eingeschlossen und vergessen. Das Haus nun winterfest gemacht, die Türen verriegelt, die Fenster mit Brettern vernagelt. Alle abgereist. Wie wird der alte Diener frieren! Er wird die Dielen und die Bretter vom Boden und den Wänden lösen, er wird das Haus von innen niederreißen Schicht um Schicht, er wird das ganze Haus verfeuern und irgendwann vor der Flamme im Freien sitzen. Firs am Herd im hohen Schnee!
Firs aber und ich. Die neue Herrschaft läßt auch Erlen, Lärchen, Buchen abholzen, nicht nur den Kirschgarten, und wir bleiben noch eine Weile frierend eingesperrt im letzten Innenraum. Welch ein schönes Wort, was für eine Findung: Innenraum! Doch jetzt ist er zu. Alles abgeschlossen, fest verriegelt. Das Innere längst verlassen von den Dichtern wie den Sommergästen. Das Inventar nach außen gebracht, ununterscheidbar vom Gerümpel der geschäftigen Welt. Die Romane enthalten nur noch Stoff und Mitgeteiltes, also Brennholz für den Innenraum. Allein zurückgeblieben an einem aufgegebenen Ort. Firs und ich, der alte Diener und dessen Diener, der Nacherzähler. Beide schon bald im grenzen-, wand- und türlosen Raum … Immer wieder taucht zwischen uns die alte Geschichte auf von der Ranjewskaja und den anderen, um sich gleich wieder zu entziehen, weil wir beide kein gemeinsames Gedächtnis besitzen. Was uns bleibt, ist unser Alter, durchpustet und durchpfiffen. Damit kann man keinen Hund hinter dem Ofen hervorlocken, und schon gar nicht Firs.
Sein Ort ist eine Bank, ein Winkel zum Rauchen und Schweigen. Alle Erinnerung gelöscht. In knisternden Nebel getaucht. Den Boden küssend, liegen wir bäuchlings auf den dicken Bohlen und strecken beide Arme aus, sie beschwörend, uns Dienern einen Klafter freizugeben, damit wir tiefer in die nackte Erde kriechen können, wo es zum Schluß dann wärmer sein wird.
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Jemand holt einen entfernten Verwandten vom Flughafen ab, der, kaum sitzt er im Wagen, eine umständliche Anekdote zu erzählen beginnt. Da ihr der Fahrer beim besten Willen keine Anspielung auf sich oder die gegenwärtige Situation der beiden Männer entnehmen kann, beginnt sie ihn schnell zu langweilen und zunehmend in Ungeduld zu versetzen. Dabei unterlaufen ihm bei der Ausfahrt des Fahrzeugs, als er sich im Parkhaus Serpentine um Serpentine nach unten windet, die Fehler und Ungeschicklichkeiten eines Anfängers, worüber er in Wut gerät, verkehrs- und sinnwidrig zurücksetzt, verschiedene mißglückte Abkürzungsversuche durch leere Etagen unternimmt, gleichsam ein Wink mit dem Zaunpfahl, der entfernte Verwandte möge seine Geschichte ebenfalls abkürzen, wozu der, dem Gesetz der verschachtelten Erzählung ergeben, keine Neigung zeigt, wie auch die heftigen Flüche und Verzweiflungsausbrüche des Fahrers über die eigenen Fahrfehler ihn nur für kurz zum Schweigen bringen; denn kaum ist ein Erregungsanfall vorbei, fährt er sogleich mit seiner auf nichts hinauslaufenden Anekdote fort, in die er sich hüllt wie jemand, der einen meterlangen Schal sich unzählige Male um den Hals schlägt.
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Erster Gang mit rumänischer Zugehfrau durch das neue Haus. Entlang der Schränke und Möbel, um ihr zu zeigen, was zu tun ist. Ich hatte, sie auf Verschiedenes aufmerksam machend, der zierlichen Frau die Hand auf die Schulter gelegt und länger dort gelassen als nötig. Ihrerseits ergriff sie bei dem leisen Erschrecken über zwei Wasserlachen im Flur plötzlich meine Hand und ließ sie nicht gleich wieder los, als der Schreck vorbei war. So könnte es bleiben. Einander gewogen sein im Rahmen eines Dienstverhältnisses. Es nicht übertreiben. Doch am Ende des langen, ausführlichen Inspektionsgangs sogar eine hauchzarte Berührung unserer Lippen: die Abmachung, der Vertrag, das Einverständnis. Gewiß nie mehr als das — sie ist ja verheiratet. Jeden Mittwoch aber die frische Sympathie bei der Begrüßung.
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Wieder der stille undurchschaubare Laden, in dessen Schaufenster nur eine weiße Gardine hängt, und auf einer mit hellem Filz belegten Stufe liegen zwei große polierte Holzkugeln. Wenn man länger hinschaut, entsteht eine Anziehung zwischen ihnen und sie rollen aufeinander zu: ihr Zusammenprall geschieht gerade mit der Kraft, die genügt, um sie wieder an ihren Ausgangspunkt zurückrollen zu lassen. In dieses Geschäft kann man nicht eintreten. Keine Anzeige, kein Schild, kein Name lockt den Gast der Kaufpassage. Dem neugierigen Passanten zeigt sich zuweilen der Schatten eines freischwebenden, rumpflosen Kopfes hinter der Gardine, der auf- und niedersteigt wie ein gasgefüllter Ballon, von wechselnd warmen und kälteren Luftströmen bewegt. Der Laden ist immer geschlossen. Womöglich hat ihn niemand je betreten. Die Türklinke ist abmontiert. Die Leute sagen: der Kaufgeist selber hause darin. Vielleicht ist er es, der die Kugeln in Bewegung versetzt? Obgleich wir doch annehmen müssen, daß unsere konzentrierte Betrachtung es bewirkt. Vielleicht ist es seine Kraft, die des Schattens hinter der dichten, gewellten Gardine, die sich mit der unseren, die wir draußen vor dem Fenster stehen und hineinstarren, verbindet und zu einem Magnetfeld vereint, in dem die Kugeln, die zweifellos durch und durch hölzern sind, aus hellem geschliffenen Birkenholz mit braunen Maserungen, so seltsam belebt und angetrieben werden. Es ist ein Geschäft, das in die verständliche, betriebsame Verkaufszone eine beunruhigende Stille, eine rätselhafte Lücke einfügt. Es ist ein Geschäft, aus dem heraus vermutlich die Geschäftigen, die Gänger und Käufer, beobachtet werden. Ein Laden unter einem Bogengang zwischen Reisebüro und Juwelier. Das stille Geschäft, das wohl nie ein Kunde betrat, in dem kein Handel je getätigt wurde, bietet als einzige Ware dieses kleine bescheidene kinetische Experiment, welches jedoch nur zum Beweis seiner Unverkäuflichkeit abläuft. Denn stellt es nicht die sinnbildliche Abstraktion der Begegnung zwischen Verkäufer und Kunde dar, wenn die beiden Kugeln aufeinander zu rollen und nach dem Zusammenprall an ihren Ausgangspunkt zurückkehren? Der vor dem Schaufenster verweilende Betrachter leitet mittels seiner Schaukraft das bewegte Kräftespiel des Handels ein und dieser geschieht in der reinsten Figuration, vollendet und komplett, so daß für seinen praktischen Vollzug sowohl Sinn wie Kraft bereits erschöpft und verbraucht sind.
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Kein Wort über die Zukunft des Menschengeschlechts! Die spindeldürre junge Frau im altmodischen Cocktailkleid mit Straßbesatz, tailleabwärts in Bleistiftlinie, Volants am Saum. Allein mit Mikrophon, dazu die hohen Boxen am Rand des dunklen Marktplatzes. Singend nach Art der dichtenden Chanteusen. Eine Nachahmung in Armut. Singend von Kriegern, die feststecken in alten Sagen, sich nicht mehr rühren können, von Hirten, die weinen, von Burgherren, denen die Händler der Welt wie Hunde aus der Hand fressen. Eine, die, umzingelt von technischem Gerät, gleichwohl auf den Entsatz durch königliche Milizen wartet, während sie von den trockenen Zisternen der Minne singt.
Die jähe Flucht vor den Waren hatte die dünne Verkäuferin in den Legenden-Gesang getrieben. Die nackte Not, sich mit Gesang die Inventur vom Leib zu halten. Mit keinem Wort sie zu nennen, ein einziges Tabu, Inventur, die sie fürchtete wie eine lernäische Hydra. Mit dem Feuer ihrer Lieder will sie die Stümpfe der Inventur-Schlange ausbrennen, damit ihr die Köpfe nicht immerzu nachwachsen.
Der Blick, wie mit einer Kran-Kamera aufsteigend, schwenkt über den alten Marktplatz, die Wimpergen der gotischen Ratsgebäude strecken sich in die Höhe, der Platz dehnt sich … und dann erscheint das greise Paar. Sie verharren, den Kopf zum Pflaster geneigt, als versickere das Lied der Chanteuse vor ihnen zwischen den Steinen. »So weit ab kamen wir und lauschen dem Gesang einer entrückten Dreißigjährigen!«
Der Mann, mit dem seine Frau eingehakt ging, hatte sich ein wenig von ihr gelöst, so daß nur noch ihre Hand in seiner Armbeuge lag. Seine Aufmerksamkeit galt indes mit schwachen, zusammengekniffenen Augen einem Brunnen im Stil der Frührenaissance, der in der Mitte des Marktplatzes stand und gerade zu wachsen begann, ganz langsam höher und größer wurde. Das grüne Netz, das über dem Bassin ausgespannt war, um den Blätterfall der nebenstehenden Platane aufzufangen, mußte in wenigen Augenblicken reißen.
Der Mann murmelte: »Das ist etwas naturalistisch.«
»Naturalistisch?« fragte die Greisin, ohne den Blick vom Pflaster und dem zwischen den Steinen verklingenden Lied zu heben. Ihrem Mann verrutschten die Wörter jetzt oft, so daß er bestimmte Vorgänge oder Phänomene nicht mehr zutreffend benennen konnte. Mit sanftem glissando streifte er verschiedene Bedeutungen, ein schönes Ungefähr entstand, so daß das gewählte Wort eine Tatsache oder einen Gegenstand nur am Rand noch berührte.
»Naturalistisch«, gewöhnlich in einem gutdefinierten kunsthistorischen Sinn benutzt, sollte hier bedeuten: Das Netz, das über der Wasserschale auslag, gab einen eindeutigen Hinweis auf einen naturbedingten Vorgang, den Blätterfall. Und zwar, indem es diesem Einhalt gebot, ihn daran hinderte, auf den Grund des Brunnens zu sinken, um dort einen modrigen Belag zu bilden, der das klare Wasser verderben würde.
Die beiden Alten waren in einem längst vergessenen Stil der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts sorgfältig gekleidet, trugen wadenlange Staubmäntel mit hohen steigenden Reversflügeln. Die Frau schützte zudem ihr Haar unter einer ledernen Cabrio-Haube, deren Kinnschnalle herabhing. Dazu gehörte eine auf die Stirn geschobene große runde Schutzbrille.
Wenn man nun solche beiden betrachtet, frühmorgens auf einem sich dehnenden Marktplatz, fragt man unwillkürlich: was läßt sich Genaueres als das entstellende Wort »Paar« für sie verwenden? Nein, nicht Genaueres, im Gegenteil: Was läßt sich Ungefähreres sagen für dies allzu bekannte, jedoch unerforschliche Beieinander zweier Menschen, die nach ihren vielen Vereinigungen immer noch zwei geblieben sind? Zu zweit geblieben nun auf Plätzen, die sich langsam dehnen, neben Brunnen, die in die Höhe wachsen. Wer sind sie? Wie soll man sie nennen?
Vor dem Casino neben dem Marktplatz hielten sie an, und die alte Frau legte ihre Hand auf die Schultern ihres Manns, als wollte sie sagen: ›Komm, weiter! Laß uns einfach nur weitergehen.‹ Und kurz darauf, als sie wieder ein paar Schritte gegangen waren, legte der, wie es schien, trostbedürftige Mann seinerseits die Hand auf die Schulter seiner Gefährtin als Dank für ihren Zuspruch, der ihm gutgetan hatte. Vielleicht war es ein Nachlassen von Leben, das beide verspürten und dem die Frau die Aufforderung entgegenhielt: ›Komm, weiter! Einfach nur weitergehen.‹
*
Das Jawort. Eine Woche Nachsaison im Hochgebirge, den »Königshof« in Gipfellage hatte meine Frau gebucht. Aufgrund des Platzmangels in der klüftigen Gegend gab es dort einen ausladenden Gebäudekomplex, fast ineinander gewachsen waren zwei konkurrierende Hotels, dazu eine Bank und ein Schuhgeschäft. Ich wartete auf dem etwas abgelegenen Parkplatz, der Endstation aller Publikums- und Personenfahrzeuge, auf die Ankunft meiner Familie. Ich selbst hatte die romantische Variante der Tour gewählt und war mit der Bergbahn und anschließend in einer Kutsche auf den Gipfel gelangt. Die Familie fuhr hingegen mit dem Taxi an. Der Sohn hatte eine Spielkameradin aus dem Tal mitgebracht, die nun, zu meinem Befremden, von ihren Eltern begleitet wurde.
Hilfsbereit wie immer sprang Daniel, mein Sohn, aus dem Fond, wo er neben diesen mir nie angekündigten und folglich wenig willkommenen Gästen ziemlich gequetscht die anstrengende Serpentinenfahrt überstanden hatte. Im Handumdrehen besorgte er einen Gepäckwagen und half dem Taxifahrer und mir beim Entladen der Koffer und Taschen. Meine Frau mußte sich nach einem flüchtigen Begrüßungskuß unverzüglich in Richtung eines der beiden Hotels begeben haben, denn als ich vom Auspacken aufsah, war sie nicht mehr in der Nähe. Auch der Sohn schob bereits den überfüllten Gepäckwagen zu den Hotels.
Ich wollte ihm hinterher, bemerkte aber, daß der Taxifahrer auf seine Entlohnung wartete. Ich fragte ihn nach der Summe — in der Erwartung, die ungeladenen Gäste nähmen sich der Rechnung an. Er antwortete etwas verdruckst, er bekomme insgesamt 93 Euro. So viel trug ich nicht bei mir, meine Frau hatte Kreditkarten und Bargeld unten im Tal an sich genommen. Es stellte sich heraus, daß die befremdlichen Eltern, die sich unentwegt um ihr keineswegs unbeholfen wirkendes Töchterchen kümmerten, mit dem Taxifahrer ausgemacht hatten, daß sein Preis auch für ihre Rückbeförderung gelte. Dieser Handel machte sie mir noch unsympathischer, gleichzeitig genierte es mich, daß ich ihm das geforderte Geld nicht sofort aushändigen konnte. Ich bat ihn, sich wenige Minuten zu gedulden. Auf der Suche nach meiner Frau lief ich zu dem mir nächstgelegenen Portal eines der beiden Hotels und erfuhr in der Rezeption, daß sie sich gerade das Dreibettzimmer 224 anschaue.
Also fuhr ich hinauf in das zweite Stockwerk, traf aber in 224 niemanden an. Ich lief die Gänge übereck und in die abzweigenden Flure, dann die Stufen abwärts in den ersten Stock. Dort befand ich mich unversehens vor einem Eingang, über dem in kaltweißen LED-Birnen der Schriftzug Petra’s strahlte. Die Tür ging auf und ich betrat eine Rolltreppe, die mich weiter abwärts zu einem unterirdischen, in den Fels geschlagenen Supermarkt brachte. Eilig suchte ich nach dem Ausgang, durchquerte etliche Regalgassen und war plötzlich mit dem Gedanken beschäftigt, meine Frau habe das Zimmer 224 abgelehnt und suche nun in dem benachbarten Konkurrenzhotel nach einer geeigneten Unterkunft.
Mir schien, daß man bei der Einrichtung der Regalgassen den Plan eines Labyrinths nachgeahmt hatte, denn offenkundig legte ich immer wieder die gleichen Strecken zurück und fand nicht zum Ausgang. Man erklärte mir, ich brauchte nur eine Kleinigkeit zum Kauf bereithalten, dann würden mich Leuchtpfeile zur Kasse führen. Ich griff einen Beutel Gummibärchen für den Jungen, dann noch einen zweiten für seine Freundin, für diese Kleinigkeiten reichte mein Bargeld.
Als ich Petra’s glücklich wieder verlassen hatte, rannte ich zum Parkplatz, um den Taxifahrer, der inzwischen an seinem Wagen lehnte und den ihr Mädchen betüddelnden Eltern fordernd die offene Hand hinhielt, darüber zu informieren, daß ich leider meine Frau, die sämtliche Barmittel bei sich trug, immer noch nicht gefunden hatte. Er sah mich an wie einen Betrüger. Als ich mich abwenden wollte, um weiter zu suchen, machte er Anstalten, mich am Arm zu packen und festzuhalten. Ich herrschte ihn an, seine Finger von mir zu nehmen, er sehe doch wohl, in welch mißlicher Lage ich mich befände. Er möge seine spärlichen Reste an Menschenkenntnis zusammenraffen und mich richtig einschätzen!
Ich rannte also in das Hotel »Zum Prinzen«, das vom Westflügel des »Königshof« nur durch eine Brandmauer getrennt war. Wieder fragte ich an der Rezeption nach meiner Frau und erfuhr, daß sie gerade dabei sei, Zimmer 401 für unsere Zwecke zu prüfen. Dasselbe Spiel wie im »Königshof«. Niemand mehr auf 401. Um nicht auf den gerade steigenden Aufzug warten zu müssen, eilte ich zwei Stockwerke abwärts — und traf im zweiten auf meinen Sohn, der neben dem überfüllten Gepäckwagen stand, ebenfalls in einer verzweifelten Verfassung. Er habe nun schon in beiden Hotels den schweren Wagen über die Gänge sämtlicher Stockwerke geschoben, und jedesmal sei die Mutter gerade wieder in ein nächstes Zimmer oder in das benachbarte Hotel gewechselt!
Ein Verabredungsfehler, stammelte ich. Der Übereifer der Mutter hat uns in diesen Irrsinn geführt. Ich gab ihm die Tüte mit Gummibärchen, eine Geste, die ihn augenblicklich wie ein Zitat aus seinen Kindertagen berührte und genügte, um ihn gänzlich zu erweichen. Er weinte bereits leise vor sich hin.
— Ich muß den Taxifahrer bezahlen, er wartet immer noch auf dem Parkplatz, haspelte ich, ich habe keine 93 Euro! Die Eltern deiner Freundin warten auf ihre Heimfahrt, sie wollen keinen roten Cent zu den Fahrtkosten beisteuern.
— Das müssen sie auch nicht, erwiderte der Sohn mit einem Anflug von Eiseskälte. Ich habe hier eine ungenutzte Prepaidkarte im Wert von 100 Euro. Gib sie dem Mann.
— Was soll er damit? Vielleicht paßt sie nicht zu seinem Handy oder er telefoniert über einen Billigtarif.
— Die Karte ist bares Geld. Außerdem hat er dann noch sieben Euro Trinkgeld. Ich warte hier auf dich.
Ich war zu erregt, um den unmittelbar aus den Tränen aufgestiegenen, kühl erwachsenen Ton meines Sohns zu beargwöhnen oder gar zu beanstanden. Stattdessen klagte ich kopfschüttelnd: Das stimmt doch alles nicht. Das stimmt hinten und vorne nicht.
Ich rannte zurück zum Parkplatz. Unterwegs plagte mich nur der eine Gedanke: Ich kann mit einer Frau, die bei allem, was sie zu besorgen hat, einen solch blinden, rücksichtslosen Eifer an den Tag legt, kein normales Leben führen. In welch absurde und unwürdige Lage hat sie mich gebracht! Wieder einmal. Nur weil sie ihre Linie stur und mit Scheuklappen verfolgt … Aber sie hat es doch gut gemeint, erwiderte ich laut mir selbst. Quartiermacherin, die sie nun einmal sein möchte. Es war ja nur ein Verabredungsfehler! Ein Verabredungsfehler! rief ich mir zu, um mich ein wenig zu besänftigen in meiner Aufwallung gegen den mir liebsten Menschen.
Zurück auf dem Parkplatz bot ich dem Taxifahrer die Telefonkarte an, die sich mein Sohn von seinem Taschengeld erspart hatte, doch er weigerte sich, sie als gültiges Zahlungsmittel anzusehen, und bekam schließlich einen Wutanfall, als ich mich, unvorsichtig, als rechtskundiger Bürger aufspielte und ihm erklärte, er sei aber verpflichtet, sie anzunehmen. Ich schrie zurück und wäre ihm fast an die Gurgel gegangen, wenn nicht in diesem Augenblick der Vater des Töchterchens, das mit meinem Sohn auf dem Hochgebirgsgipfel die nächsten Tage verbringen wollte, zwischen uns getreten wäre und auf seine verkniffene Art sich bereit erklärt hätte, mir die Karte abzukaufen, allerdings zu einem reduzierten Preis. Er sei bereit, 90 Euro für die 100-Euro-Karte zu bezahlen. In seiner Familie telefoniere man mit einem Handy, das die Karte akzeptiere und zu günstigen Tarifen verwende. Nun gut, sagte ich aus tiefer Verachtung für den kleinlichen Menschen, der mir aber in diesem Augenblick von großem Nutzen war … Gut, ich bin einverstanden. Daniel darf ich davon nichts erzählen. Ich sah, wie sein Töchterchen grinste, vermutlich weil sie dachte, dann werd ich’s ihm eben erzählen. An was für eine Familie war mein Sohn da geraten! Verschlagene Naturen.
Ich legte aus meiner Börse die restlichen drei Euro dazu und entlohnte den Fahrer. Kein Trinkgeld. Ohne sie anzuschauen, gab ich den Eltern rasch die Hand, sie stiegen ein, nachdem sie ihr Töchterchen an allen Kleiderfalten und -säumen noch einmal zurechtgezupft hatten, und schon begann für sie die kostenlose Talfahrt, wie sie das für selbstverständlich hielten.
Nun war ich mit dem Töchterchen allein und bewegte mich, endlich ohne Hast, übertrieben langsam auf die Hotelgebäude zu. Das Mädchen war die ganze Zeit dem Gehetze um das passende Zimmer ungerührt gefolgt wie einem sportlichen Wettstreit. Jetzt ließ sie mich wissen, Rosa, meine Frau — sie nannte sie beim Vornamen! — hätte im Taxi während der Bergfahrt laut und deutlich erklärt, daß sie sich diesmal bei der Wahl der Zimmer beim Preis-Leistungs-Verhältnis nicht wieder hinters Licht führen lasse wie letztes Jahr in den Herbstferien. Es sei ihr Ehrgeiz und ihre Pflicht, das bestmögliche Zimmer für uns vier zu finden. Und das werde ihr auch gelingen. Das bestmögliche! Wiederholte das Mädchen auf altkluge Art.
Ja, so ist es nun einmal, antwortete ich in einem eingeübten Ton der Mäßigung. Seit längerem wird meine Frau in diesem Punkt von Rekordstreben geplagt.
Die Freundin meines Sohns sagte: Ich denke, es wird das beste sein, wir warten hier, bis sie die Sache erledigt hat. Dann ergänzte sie spitz: Ich hoffe nur, Rosa ist sich darüber im klaren, daß ich ein eigenes Zimmer brauche. Ich war vorhin, solange wir noch im Taxi saßen, nicht in der Lage, ich scheute mich einfach, es in aller Deutlichkeit auszusprechen.
Obwohl erst zwölfeinhalb Jahre alt, erwies sich das Mädchen mit seinem gestelzten Redestil als das glatte Gegenteil zu unserem Daniel, dessen gesunder Menschenverstand, wie der meine auch, zwar mitunter von heftigen Affekten und Launen heimgesucht wurde, die zu verbergen er sich aber keiner Masken und Allüren bediente.
Offensichtlich hatte sie vor, mir das Verhältnis, das ihre Eltern zu ihrer nachkindlichen Frühreife nicht finden konnten, in allen Einzelheiten vorzustellen. Ich bat sie jedoch, einige Minuten allein zu bleiben, da wiederum Daniel mit dem Gepäckwagen, also auch ihren Sachen, im zweiten Stock des »Prinzen« auf mich wartete.
Niemals wäre sie bereit, hier auf dem Platz alleine herumzustehen, entgegnete sie, nicht mal für eine Minute! Doch das sei auch gar nicht nötig, denn da liefe ja Daniel schon aus dem Hotel herbei. Und tatsächlich, da kam er, beachtete sie aber nicht und warf sich an meine Brust: Das Gepäck ist fort! schluchzte der Junge. Gestohlen! Ich war nur eben auf der Etagentoilette, wusch mir die Hände und trocknete sie unter dem Fön. Als ich wieder auf den Flur trat, war der Wagen mit sämtlichen Gepäckstücken verschwunden.
Ich stieß einen lauten Fluch aus, verwünschte die Reise, unsere gesamte verunglückte Ankunft im Hochgebirge.
Jetzt wandte sich Mia, Daniels noch völlig unerprobte Freundin, an mich mit der Bemerkung, daß die Sache mit dem verschwundenen Gepäckwagen für sie kein Rätsel darstelle. Man möge den Zwischenfall nüchtern betrachten: als einen einfachen Räumvorgang vonseiten eines Hotelbediensteten.
Also begaben wir uns — unseren Warteposten, von dem meine Frau nach Abschluß der Zimmerwahl uns eigentlich hatte abholen wollen, leichtfertig räumend — zurück zum »Prinzen« an jenen Abzweig des Flurs im zweiten Stock, an dem Daniel mit dem Gepäckwagen auf mich gewartet hatte. Kaum glaubten wir die Spur, auf dem der Wagen über den Sisalläufer weggeschoben worden war, entdeckt zu haben, da trat aus Zimmer 207 meine Frau und begrüßte uns freudig mit den Worten: Was für ein Zufall! Ich wollte euch gerade holen! Wie habt ihr hergefunden?
Ich war so glücklich, daß die Familie wieder beisammen, das passende Zimmer offenbar gefunden und unser Gepäck darin bereits untergebracht war, daß ich vor Erleichterung wiederum weinte und Daniel mit mir. Während sich also die kleine Familie selbdritt in den Armen lag, nahm Mia in Zimmer 207 ihre beiden Reisetaschen vom Gepäckwagen und trat zu uns auf den Flur.
Dann machte sie noch einmal ihren Anspruch auf ein eigenes Zimmer geltend. Daraufhin entspann sich zwischen ihr und meiner Frau ein wenig freundlicher Wortwechsel.
Meine Frau: Ob ihre Eltern denn für ein eigenes Zimmer auch Vorsorge getroffen hätten?
Von der Aussicht auf eine finanzielle Zusatzbelastung schien sie augenblicklich alarmiert. Ihr Ehrgeiz, auf einer Reise stets kostensenkende Umstände herbeizuführen, geriet in Gefahr, von Mias Sonderwünschen unterlaufen zu werden. Weshalb sie, Mia, auf der langen Taxifahrt in Anwesenheit ihrer Eltern nicht ein Sterbenswörtchen vom eigenen Zimmer habe verlauten lassen? Sich vielmehr, ein kleineres Mädchen, als sie in Wirklichkeit war, an den Busen ihrer Mutter geschmiegt habe?
Darauf Mia, ihrerseits mit großer Stimme: Weil meine Eltern, jeder für sich, erst recht aber zusammen, sehr, sehr gefährdete Menschen sind, die ich erst langsam daran gewöhnen muß, daß ich nicht mehr die bin, die kleine Niedliche, als die sie mich offensichtlich ein Leben lang ansehen wollen …
Meine Frau: Es komme überhaupt nicht in Frage, Extrawünsche nachträglich durchsetzen zu wollen. Mit größter Mühe und viel Kaufmannsgeschick habe sie ein Paket geschnürt, ein Preis-Leistungs-Paket und in diesem Paket sei sie, Mia, fest mit eingeschnürt, es gebe da absolut keinen Bewegungsspielraum mehr.
Falls ihr ein eigenes Zimmer verweigert werde, entgegnete die Zwölfeinhalbjährige äußerst kühl, müsse sie leider darauf bestehen, noch vor Einbruch der Dunkelheit von einem Taxi ins Tal zurückgebracht zu werden.
Hast du Geld? Hast du Geld? schrie meine Frau, hemmungslos und fast ordinär.
Ich mußte zwischen die beiden treten, wußte aber nicht, wie ich sie beruhigen konnte.
Da kam mir mein Sohn zuvor. Er stellte sich auf die Seite seiner Freundin, seine Mutter gleichzeitig mit flehenden Blicken besänftigend: Sie ist wunderbar. Einfach wunderbar! Ich hatte schon so viel Freude mit ihr, als wir unten im Tal miteinander spielten. Im Tal war sie ein Kind, hier oben spielt sie auch, aber jetzt ist sie eine richtige kleine Dame. Mutter! Ihr schuldet mir hundert Euro. Denn ich habe mit meiner ungenutzten Telefonkarte die Taxifahrt bezahlt. Für dieses Geld könnt ihr meiner Freundin ein eigenes Zimmer bezahlen.
Schweigend griff meine Frau in ihre Handtasche und händigte Daniel seine hundert Euro aus.
Dann wandte sie sich wieder an die eigensinnige kleine Person, die Daniel natürlich schon vertrauter war als uns, seinen Eltern, und fragte mit einem geringschätzigen, beinah zweideutigen Lächeln: Da unser Sohn sich schon erbiete, von seinem Ersparten ihr ein separates Zimmer zu spendieren, ob sie nicht wenigstens bereit sei, es mit ihm, dem Daniel, zu teilen?
Das Mädchen verlor augenblicklich die Farbe aus dem Gesicht, das kam ihr doch sehr überraschend. Dann sah sie von einem zum anderen, und ihr Blick war offen und fest, so elternvergessen, wie er nur sein konnte, und antwortete: Ja.
Schnell setzte ich nach in der Hoffnung, ich könne die Angelegenheit mit Daniels Hilfe noch ins Wanken bringen. Also fragte ich ihn: Ob denn auch er dazu bereit sei?
Ohne Zögern antwortete er mit einem knappen ernsten: Ja.
Ich spürte, wie er innerlich jubelte, aber so, wie Kinder jauchzen über das Abenteuer, mit einer Spielkameradin im eigenen Zimmer übernachten zu dürfen. Natürlich hatte er mitbekommen, daß seine Mutter der Sache eine von Hintergedanken nur so triefende Bedeutung beimaß, und darum versuchte er dieses Hintergründige in die eigene Stimme zu heben, ahmte das Bedeutsame nach, gab feierlich ein Jawort, obwohl ihm eigentlich nur fröhlich zumute war.
Dann forderte das Mädchen ihn auf, sie hinunter zur Rezeption zu begleiten, wo sie sich für ihr eigenes Zimmer eintragen würden. Noch auf dem Flur hörten wir, wie sie sich mit den Worten an Daniel wandte: Wir werden es einfach vom weiteren Verlauf des Abends abhängig machen … Falls es zu kompliziert wird, kannst du dich immer noch auf das Zimmer deiner Eltern zurückziehen.
Der Junge nickte und sagte: Ich werde die ganze Nacht kein Auge zutun.
*
Die Beleidigung hatte Gottfried Gromme mit offenen Worten ausgesprochen. Sie war keine versteckte oder indirekte, keine etwa versehentlich entschlüpfte oder nicht ganz ernst gemeinte Beleidigung. Sie wollte Jens Müthel treffen und zur Besinnung bringen, er sollte daran zu würgen haben. Wenn auch nicht darunter einknicken oder gar verzweifeln, zerbrechen. Gromme konnte freilich die Wirkung, die seine Beleidung auf Jens Müthel tat, nicht im vollen Umfang voraussehen oder gar vorherbestimmen.
Eines nur schien ihm sicher: Müthel würde sich nicht zur Wehr setzen. Würde niemals zurückschlagen mit einer Gegenbeleidigung, ausfällig werden oder sonst irgendwie dem anderen, seinem Kompagnon, Gleiches mit Gleichem vergelten. Würde vielmehr schweigen, nur langsam würden sich die Worte in ihn hineinfressen. Während Gromme dergleichen nicht ohne Beklommenheit erwog, konnte er zumindest nicht ausschließen, daß seine für den anderen aus heiterem Himmel herniederfahrenden bösen Worte das Verhältnis zwischen ihnen auf lange Zeit verderben und unfruchtbar machten.
Er wollte Müthel nicht mehr in seiner unmittelbaren Nähe haben, im Innersten seines Entscheidungsspielraums keinen Müthel mehr, der sich mit einigen zweifelhaften vertrauensbildenden Maßnahmen bis dorthin vorgeschlichen hatte. Einfach zurück an die Peripherie mit dem Kerl! Das war die einzige Absicht, die Gromme mit der Augenblickseingebung einer drastischen Beleidigung verband, Worten der derbsten Abschätzigkeit, von denen Müthel immer annahm, daß Gromme sie im stillen bereits unzählige Male gegen ihn gerichtet hatte, doch unter keinen Umständen offen und unumwunden aus sich herauslassen würde. Daher schien es Müthel nun, als wäre die langanhaltende, von Spekulationen schwellende Stille zwischen den beiden Männern mit einem Mal geplatzt wie jede andere Spekulationsblase auch, und ein vernichtungswütiger Dämon wäre aus dem Maul des Gromme hervorgesprungen, dem offenkundig Würde und Wesen seines Partners, des Mannes ihm gegenüber, nichts bedeuteten, so daß er, Müthel, fürchten mußte, im nächsten, etwa noch gesteigerten Moment Grommescher Unbeherrschtheit ohne weiteres geschlagen zu werden. Er drehte sich auf dem Absatz um, da offenkundig eine Tätlichkeit sich anbahnte, und überließ Gromme in seinem Arbeitszimmer der eigenen, einsamen Unbeherrschtheit, die ohne Gegenüber völlig außer Kontrolle geriet, sich gegen Wand und Tür entlud sowie beim Umstürzen von Tischen und Regalen.
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»Bilder der Freude«, sagt sie, »es sind Bilder der Freude.« Und noch einmal kommt dieser leise Ton von damals, aus den frischen Jahren, da die Gemälde entstanden, über ihre eingefallenen Lippen.
Besuche bei Nadja, Berlin, Ende der sechziger Jahre, Oranienstraße, trübes Loft im Kreuzberger Hinterhaus, die Sitten locker, der Mut frech, die Kunst sorglos. Abbröckelnde Häuserfassaden, Alte-Leute-Milieu neben dem der Türken der ersten Generation, bleibende Kriegsschäden, dachte man, aber zehn Jahre später hatten Reichtum und restaurierende Technik alle Kriegsspuren beseitigt.
Torsten, der naive Künstler, malte wie besessen, füllte Leinwand um Leinwand mit den monumentalen Vergrößerungen der Schamlippen seiner Gefährtin, nichts anderes als diese gewaltigen Falten und Lappungen, nicht zu vergleichen mit dem ›Ursprung der Welt‹ von Courbet, doch ohne sein Vorbild nicht möglich, fleischlich und roh, die junge Vagina jener Frau, die jetzt, in die Jahre gekommen, bescheiden und rätselnd vor den Bildern steht, ein wenig fröstelt und die Strickjacke um die mageren Schultern enger zieht.
Als er starb, schon mit zweiunddreißig nach einer durchzechten Nacht in Albufeira, schlief einfach weiter mit stehendem Herzen, hinterließ er ihr diese Zeugnisse einer feierlichen Sinnenfreude, an die hundert Acryl-Porträts ihrer Scham, eine Hinterlassenschaft, die sie damals so wenig genierte wie heute, für die sie immer wieder Händler und Käufer sucht, mit nüchternem Stolz fremden Männern (sich) zeigt, da sie vom künstlerischen Wert der Bilder fest überzeugt ist. Meist wirft so ein Kunsthändler kaum mehr als einen nachdenklichen Blick auf die Porträts und dann einen noch nachdenklicheren auf die Porträtierte. Doch fand sich bisher kein ernsthafter Interessent, das Werk wurde nie entdeckt und trat aus dem Zwang und dem Glück, die den Maler bei seiner Arbeit erfüllten, niemals hervor. Nun betrachtet Nadja sie gemeinsam mit ihrem Sohn Michael, der gerade eine Juniorprofessur in Politologie bekommen hatte, und erläutert ihm Bildaufbau und Farbenspiel, die unbeirrte, kraftvolle Linie des frühverstorbenen Vaters, dessen Gemälde aus der Fabriketage den Weg in die Welt noch vor sich haben. Für sie sind es Kunstwerke und außerdem, jeden Tag aufs neue, über alle Tage hinaus: Bilder der Freude.
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Wo immer ein Platz neben ihm frei war, irgendwo auf der Welt, im Konzert oder im Flugzeug, im Wirtshaus oder auf der Sporttribüne, dauerte es nicht lange, und sie stellte sich ein, setzte sich neben ihn und sah beiseite. Die Nähe, die sie zu ihm suchte und immer fand, überall auf der Welt, schien ihr gleichzeitig eine Art Kränkung zuzufügen. Er faßte sie am Kinn, er wollte ihr wegsehendes Gesicht zu sich wenden. Doch sie versteifte den Nacken und ließ sich nicht bewegen. Er nahm ihren Arm und bedeckte ihn mit Küssen. Da ballte sie die Hand zur Faust und zog ihren Unterarm kräftig an sich. Bei der geringsten Berührung verspannte sie Leib und Seele gegen ihn. Nur neben ihm. Nur immer neben ihm.
Irgendwann saßen sie für immer Seite an Seite und starrten auf ein Nimmerwiedersehen endlos in dieselbe Richtung. Beide unterm Sonnensegel Ausschau haltend überm Land, das weder wich noch näher kam. Zuweilen verirrte sich auf ihre doppelten Gesichter ein Schein von Zweifel, als wären sie einander nicht ein offnes Buch. Dann ein leiser Schreck aus jahrelang Zurückgehaltenem, die Frage: »Du?«
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»Warum hast du mich vergessen?« flüstert zärtlich der Teller, den ein Mensch, der mir nicht mehr erinnerlich war, als Projektionsfläche benutzte. Auftauchend, sich entwerfend aus dem Ungedenken auf ein rundes Stück Porzellan. Eine Vergessene! Ihr Gesicht, das sich plötzlich zeigt, wobei das bildgebende Verfahren offenbar auf einer Amnesie-Strahlung beruht. Das Vergessen benutzt solche glatten hellen Flächen, die es mit dem einen oder anderen seiner Gespinste bestrahlen kann. Der oder die Vergessene scheint und leuchtet ganz aus eigener Kraft. Ja sollte es gar, das Vergessen, eine Art Energiespeicher sein für den Betrieb unseres Bewußtseins?
Wie aber schütze ich mich vor dem jähen Ausbruch von friedlich Unerinnertem?
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Ein Vater, alleinstehend, Graphiker, nicht gut bezahlt, kann es nicht verhindern, daß sein einziger Sohn sich für eine Gefahrenzulage von 25.000 Euro nach Afghanistan versetzen läßt, wo er kurz vor Weihnachten Opfer einer Straßenbombe wird. Seither ist dem Vater an nichts anderem gelegen, als eine lückenlose Rekonstruktion der letzten Tage im Soldatenleben seines Sohns zu erstellen. Er recherchiert unaufhörlich. Weiß schließlich von jedem Tagesbefehl, von jedem Kilometer, den der Sohn im Dienst zurückgelegt hat. Er nimmt Kontakt mit dessen Kameraden auf, untersucht unermüdlich, ob irgendein »Fehler« im Spiel war. Ob der Sohn es an entscheidender Stelle an Vorsicht habe mangeln lassen — oder ob alles nur ein Werk des blutigen Zufalls war. Man wußte von neuen Todesfallen — warum hat man sie an diesem Morgen nicht umfahren? Er kennt jeden Ort, jeden Außenposten im Umkreis des Lagers, jeden Streckenabschnitt der kontrollierten Wege. Er lernt die korrekte Aussprache von Straßen- und Ortsnamen und führt sie unablässig im Mund, wenn er »in der Sache« telefoniert oder einem Bekannten ein weiteres Mal »die näheren Umstände« schildert. Er wird zum Experten jenes Unglücks, und seine Recherche zähmt seine wilde Trauer.
Er erinnert sich an das Wort, das der Sohn ihm in einer dunklen Stunde einmal gesagt hat: Wenn man es so gut hatte wie du, dann muß man auch das Bittere im Leben ertragen.
Es wurde dann auch das Wort gegen den Freitod, den der Vater erwog, nachdem er die Nachricht aus Afghanistan erhalten hatte. Von nun an sagt er sich: Du mußt das Wort des Sohns befolgen.
*
Das Mädchen, das eine Religionsversicherung abschließen will, im Gespräch mit der zuständigen Agentin.
»Gibt es denn nicht auch eine Glaubensrichtung, die heißt: Gott ist überall? In der Natur, in den Felsen, in den Heuschrecken, selbst in der Kaffeemühle.«
»Ja, gibt es, gibt es natürlich. Mehr als genug. Ich nenne nur die Hylozoisten. Aber wir vertreten diese Richtungen nicht. Unser Spektrum beschränkt sich auf die Christen, die Shivaisten, im speziellen dann auf die Adventisten, die Methodisten …«
»Nicht Christen! Nicht Pantheisten! Nichts Vulgäres. Nicht Ketzer, Untergrund, Esoteriker, nicht sowas.«
»Tja, was wollen Sie denn? Da gibt es noch die Amalrikaner. Die Scharfsinnigen. Gott ist in jedem von uns. Aber die vertreten wir eigentlich auch nicht.«
»Einen hieb- und stichfesten Glauben wider den Freigeist will ich!«
*
Eine Frau, deren Ehrgeiz unverkennbar ist, wenn sie beim Gehen mit erhöhter Ferse den Fuß über den Ballen abrollt, eine mit gehemmtem Stolz Stolzierende. Wahrscheinlich hatte sie nie ihren Intellekt mit ihrer körperlichen Allüre abgeglichen, in Übereinstimmung gebracht. Wie wir alle war sie als Wissende nicht souverän. Der Mund, die Lippen werden geschürzt, spitz gerundet, gleich werden sie formulieren, einen kleinen Ring bilden, durch den der dicke Gedanke sich zwängen muß.
Gleichwohl erschien sie bei genauerer Beachtung als die Souveräne ihres Blicks, ihres Gangs, ihrer Glieder und Gliedergelenke. Erst ihre Worte erzeugten eine Stimmung von Unsicherheit, da ihr beinahe jede entschlossene Äußerung unwillkürlich ins Ironische und von dort ins Doppeldeutige verrutschte, indem nämlich ein geheimnisvolles, scheinbar gezieltes, in Wahrheit unkontrolliertes Entgleiten der Worte Macht über die Zunge gewann. Auch eine rein aufs Berufliche gemünzte Bemerkung verlor ihre Nüchternheit und bekam einen leicht anzüglichen Nebensinn:
»Ich habe zuviel Kraft, bin nicht ausgelastet, daher meine Flatterbrünste.«
Als hielte er die kantige Sentenz schon seit längerem bereit, sagte ein Kollege auf einmal ziemlich harsch:
»Die Manier des Verführers, das Verführen selbst ist dem Gewaltakt der Desillusion, einer brutalen Theorie der Geschlechtergleiche zum Opfer gefallen. Eine einzige übermütige Revision wäre phantastischer als jede Vision!«
»Sie müssen es ja wissen«, flachste darauf Anelke; das war ihr hübscher Name. Anelke stammte vom griechischen anelkein, empor- oder herbeiziehen. Und indem sie sich umdrehte, stand auf einmal ein Friedrich in der Tür. Er starrte sie an, hohl und fahl wie ein Auferstandener, der einem Menschen mit schlechtem Gewissen erscheint.
Darauf sagte jetzt Anelke zu ihm mit einem ironischen Seufzer: »Mein Liebling kam zurück! Er stolperte herbei über das Pflaster der Katzenköpfe …!«
Als wäre Friedrich ihr Sorgenkind unter den vielen Verflossenen, die sie aus beliebiger Ferne und Vergangenheit an- und herbeizog und über holprige Wege zu sich zurücklenkte. Anelke! Friedrich aber war einer der wenigen, der seinen Heimweg nicht heil überstanden hatte.
Aus ihm war Friedrich der Zerstreute geworden. Einer, der die Stimme nie erhob, immer nur murmelte, vor sich hin sprach, auch als er noch mit ihr redete, da ihm die Mühle im Kopf, das Gedanken-Mahlwerk alles Ganze zerkleinerte, zu Streu und Pulver zerrieb, bevor er’s auf die Zunge brachte. Und wieder rieselte ihm das Wörter-Mehl nach unten weg, wie aus einem Sack, der einen Schlitz hat, und irgendwann, wenn sie ihn nicht bald küßte, würde er leer sein, ausgelaufen, und aller Stoff von Herz und Hirn verronnen.
Auf einmal aber rief er verzweifelt aus: »Warum machst du aus mir einen, der bereits sein Leben ausstreut, wie man Asche aus der Urne ins Meer streut?«
*
Während ich früh, in aller Herrgottsfrühe aufstehe, sagt er, meine Frau aber, so viel jünger, bis in die Puppen schläft, faul wie — da fehlt mir der treffende Vergleich.
Faul wie die Sünde, ergänzt nüchtern seine Kollegin.
ER Faul wie die Sünde. Ausgerechnet Sie sagen das. Was ist an der Sünde faul? Wer sündigt, tut etwas, der ist nicht faul.
SIE Aber man sagt doch: Wer schläft, sündigt nicht.
ER Heißt im Umkehrschluß: Wer sündigt, schläft nicht. Und wer kräftig gesündigt hat, schläft den Schlaf des Gerechten.
SIE Das sagen Sie. Es ist eine Sünde, faul zu sein.
ER Die Sünde selbst ist hingegen nicht faul.
SIE Aber bis in die Puppen —
ER Sehen Sie, das ist es ja, was einen so aufregt. Bis in die Puppen!
SIE Wieviel Uhr ist denn: bis in die Puppen?
ER Bloß eine Redewendung. In Berlin, die Puppen, rund um den Großen Stern, Statuen, von weitem gesehen eben Puppen, weit weg, lange hin etc. Mehr heißt das nicht. Ich falle Ihnen jetzt in Ihren schönen Rücken, wenn ich sage —
SIE Letztlich nur noch Sprüche, Redewendungen, Gemeinplätze und Floskeln. An ernste Worte kommt man gar nicht ran. Schiebt sich immer irgendeine Redewendung davor.
ER Etwa wie folgt: Wenn Sie sich umziehen, da möchte ich das Mäuslein sein … Moment! Heißt es nicht: da möchte ich das Mäuslein spielen?
SIE Wie wollen Sie denn ein Mäuslein — spielen? Entweder Sie sind eins oder Sie sehen nichts von mir.
ER Man denkt unwillkürlich, na wie damals, im Umkleideraum der Mädchen, damals, beim Turnunterricht.
SIE Ich hingegen denke an eine Konferenz, bei der wichtige Entscheidungen fallen, die auch meine Arbeit betreffen. Leider bin ich nicht zugelassen, aber wenn ich ein Mäuslein wäre, könnte ich was Nützliches erfahren bei der Konferenz.
*
Wenn tausend Leute auf mich warteten vor einem leeren Podium, das für meinen Auftritt bereitet wäre, so säße ich andächtig unter ihnen und vergäße von Herzen, daß ich selbst mit allen anderen auf mich wartete.
*
In seinem Büro, in dem keinerlei Arbeit anfällt, in dem er nur sitzt und weilt, in dem niemand anruft, in dem kein Anruf vom Vorraum der Sekretärin zu ihm durchgestellt wird; wo seine gefalteten Hände auf der Tischplatte liegen und sein Blick auf dem Foto seiner Frau ruht, die ihn nicht mehr liebt. Nebenan das Blättern der Sekretärin, die nichts zu tun hat und sich jeden Morgen einen Schwung neuer Rätselhefte mitbringt …
›Heute wird der einzige Mensch, den du sprichst, der Bausparkassenvertreter sein, mit dem du die Umschuldung deines Hauses durchrechnest.‹ Sein Blick schweift über die Silhouette der Stadt, in der überall gearbeitet wird. Sein Büro im 17. Stock eines Vorstadt-Hochhauses hat Panoramafenster, mit Jalousien bedeckt, nach zwei Seiten: Norden und Osten. Wie unwirklich ist dies alles! Nur gelebt zu haben, um einen Posten zu versehen, den man gar nicht mehr ausfüllen kann! Nur gelebt zu haben, um fuderweis Kaffee zu trinken! Sein Amt prüft Versorgungsansprüche, Lastenausgleichsverfahren, die aus den Kriegsfolgen von 1870/71 entstanden und bis heute nicht aufgearbeitet wurden. Kaum zu glauben, aber nur eines der Mysterien der Großen Bürokratie, die über Reiche und Kriege, über Revolutionen und Katastrophen hin ihre unerschütterliche Ordnung ausbreitet und dabei auch diese unsinnige, tote Stelle in ihrem Hyperorganismus erhält. Wahrscheinlich ist sie einfach übersehen worden, als man verschiedentlich daranging, Strukturen zu straffen und Posten zu streichen. Eine Überlebensnische läßt sie sich kaum nennen, eher eine Art Ehrenmal für die Opfer eines halbvergessenen Kriegs. Eine Art Totenwache für eine große vaterländische Empfindung, die nun in den Urnen dieser Akten bewahrt wird. Eine fossile Stelle. Die, wie ihr scheinbar von allen Behörden übersehener Verwalter zuweilen argwöhnt, wahrscheinlich aus geheimdienstlichen Gründen unterhalten wird, denn hier bietet eine Operationsbasis sich an, die praktisch unauffindbar ist und auch an keinerlei Datenstrom angeschlossen: staubtrocken.
*
Inertia hieß sie, das ist lateinisch: die Trägheit. Ihre Trägheit war ihr heilig und unantastbar. Man konnte sie nur selten sprechen hören. Alles Sprechbare ist mir unaussprechlich. Doch hin und wieder gab es jemanden, den es reizte, diese Frau in all ihrer anmaßenden Fremdheit »anzusprechen«. Er machte wie jeder andere die Erfahrung, daß Inertias Das-da (ihr Synonym für sich selbst) von jedweder Berührung unberührt blieb.
Gerade recht kam ihr da jemand, der wollte sie, wollte Das-da einmal »meta-physisch« berühren. Nach den neuesten Netz-Empfehlungen ihren Körper oberhalb von Haut und Poren liebkosen und genießen. Ein metaphysischer Liebhaber kennt sich mit den üblichen Handgriffen nicht aus, ist dafür umso empfänglicher für Strahlungen und Schwingungen.
Zum Abschied sagte er: Man wird dich aussetzen unter der Fichten strotzende Dunkelheit. Man wird dich aussetzen einem abgründigen Begreifen.
Dann wirst du sprechen wie jemand, der niemals einen Früheren sprechen hörte.
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Das zerfallende Imperium des hochbegabten Kinds. Sein späteres Unglück: daß ihm zu früh zuviel zu leicht fiel. Beinah gleichzeitig studierte er als Historiker, Ethnologe, Physiker und Altamerikanist. Die schwierigsten Fächer und Stoffe im Handstreich erobert, nirgends hängengeblieben, nie sich verheddert oder verstrickt.
Mit dreiundfünfzig verlor er seinen Lehrstuhl für Bibliothekswissenschaften in Greifswald. Er hatte die einst konfiszierten Fluchtbibliotheken sortiert und den Volksbüchereien einverleibt. Das gefiel nicht. Die Prüfer schickten ihn in den Vorruhestand. Manchmal, so erzählt ein Student, »lichtert« es noch aus ihm hervor. Dann ergeht er sich in hochgestimmten Abschweifungen, Ausfällen gegen analytische Sprachwissenschaft und andere »Pragmatisten« westlicher Schulen. Kleine Ekstasen einer beiseite geschickten Autorität, ein Aufbäumen des nie verwirklichten kindlichen Genies.
Der Glücksentwöhnte ist nun Bewohner des letzten Hauses am Dorfrand. Hinter der Wildhecke von Liguster, Ahorn und Haselnuß bleibt er verborgen, und beim Vorübergehen hört man zuweilen sein nervöses Hüsteln. Man erzählt sich im Dorf, wie er vor Jahren das letzte Mal hinunterging zur Anlegestelle am See und mit der Frau des schäbigen Booteverleihers was hatte, heute eine schrullige Matrone in überweiten Jeans, die Schenkel weich wie Mus. »Oben bei euch«, sagt sie manchmal zu einem Neuzugezogenen, »wohnt doch so ein Schriftsteller, schreibt viel über unsere Gegend, sprachlich sehr interessant, ein verschlossener Mann.« Schriftsteller ausgesprochen wie Steinmetz, Holzhauer. »Sprachlich sehr interessant«: Fremdbestand, nachgeplappert. Ein verschlossener Mann … Wie mag das eine Mal, da er sie besuchte, für sie gewesen sein? Jedenfalls hatte sie eine falsche Erinnerung an ihn, er war nie ein Schriftsteller gewesen und hatte auch über die Gegend nichts veröffentlicht.
Üppig hängt ihr das Fettpolster von den runden Schultern und scheint dem Körper, den der verschlossene Mann einst besuchte, jede feste Kontur zu nehmen. Wahrscheinlich besaß sie keine persönliche (oder gar sentimentale) Erinnerung mehr an den Besuch, sondern dachte nur im vagen und allgemeinen an »sowas« …
»Ja, als wir alle noch etwas mehr Figur hatten, da kam sowas vor, mußte doch sein, gehörte zum Vergnügen.« Das schließt den Besuch des Kauzes wohl ein, den einzigen im übrigen, den er in der Gegend einer Frau abstattete und mit dem er sich wochenlang in Gedanken gequält hatte, bevor er schließlich die Eschenallee hinunterfuhr auf dem Holperpflaster, mittags, als ihre Kinder noch in der Schule waren, der Mann auf der Arbeit, wie er wußte, und die Großmutter die Boote säuberte. Da sie nebenbei einen bescheidenen Gemüseanbau betrieb, hatte er sich zum Vorwand genommen, zwei Zentner Frühkartoffeln bei ihr zu kaufen (die er anschließend auch erwarb und mit dem Fahrrad umständlich nach Hause transportierte).
Er war ihr also in den Speisekeller gefolgt und hatte plötzlich, als sie sich umdrehte, um die Kellertreppe wieder hinaufzusteigen, den Arm in den Türrahmen gestemmt. Dabei sah er sie bleich und finster an, erschrocken und unerschrocken im ganzen Gesicht, so daß sie sich einen Augenblick vor einem Verbrechen fürchtete, aber dann mußte sie lachen, lachte ziemlich unverschämt und nahm ihn einfach über sich, als wollte sie ihn forttragen.
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Sie suchte zu schlafloser Stunde in der Erinnerung nach einem Selbstporträt, das sie in guter Haltung zeigte. Auf dem Bild, das ihr am meisten einleuchtete, stand sie allein auf dem Mittelgang einer Tribüne bei einem Pferderennen. Aufrecht und angespannt verfolgte sie ihren Favoriten. »Das war meine bestmögliche Haltung, mein bestmögliches Gesicht. Mehr Figur konnte ich in diesem Leben nicht machen.«
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Wir fuhren im Überlandbus von Schwerin nach Aachen. Claire und ich, vom Urlaub auf der Insel Rügen zurückgekehrt, waren gleichsam über Nacht zu Liebhabern des Dressurreitens geworden und ließen kein renommiertes Reit-und Springturnier in Deutschland aus. Ich saß also neben meiner Frau, die in einer Reitsportzeitschrift blätterte. Hinter mir Dinah, die wenige Wochen nach dem schmählichen Abschied auf Schloß Zehl wieder heimlich meine Nähe suchte, nachdem sie den qualvollen Schikanen ihres verabschiedeten Galans entflohen war, nun endgültig, wie sie betonte.
Ich bog den Oberkörper zurück, drehte den Kopf ein wenig seitlich über die Kopfstütze hinaus, und Dinah rückte auf ihrem Sitz so weit vor, daß ihr Mund nahe an mein Ohr kam. Sie hatte zuvor kurz mit den Fingerspitzen meine Nackenhaare berührt, als Zeichen, daß ich mich zu ihr wenden möge. Ihr Finger strich zart, ohne daß meine Frau es hätte bemerken können, an meiner Kinnlade entlang, umfuhr das Ohr und glitt in seine Muschel. Dann umfaßte ihre Hand fest meinen Nacken und sie flüsterte: »Dein Haar wächst wieder sehr schnell …« Die alberne Bemerkung war in Wahrheit ein Codewort, mit dem sie an die aufreizende Devotheit erinnerte, ihr Liebesspiel auf Knien, mit dem sie mich während des kurzen Besuchs einer Raststätte erfreute.
Es war mir ein Bedürfnis, auch neben Claire die körperliche Vertrautheit mit Dinah nicht verbergen zu müssen. Es bestand ja kein Zweifel, daß sie der guterzogenen Vertrautheit unserer Freundschaftsehe keinerlei Abbruch täte. Aber vielleicht würde sie dennoch bei irgendeiner Gelegenheit eine spitze Bemerkung machen, mir einen kleinen Hieb versetzen, etwas Unduldsamkeit zeigen, das wäre auch alles, was ich zu befürchten hatte. Nein, ich fürchtete dergleichen nicht: ich wollte, ich wünschte es. Ich sehnte mich danach, von meiner Frau ein einziges Mal diesen zischelnden Ton von Bitternis und Verhärmung zu hören: Das war das eine, was ich begehrte, als Dinahs Mund jetzt an meinem Hals atmete.
Claire jedoch, als hätte sie niemals etwas von unseren Heimlichkeiten bemerkt, ließ jede Reaktion vermissen.
Das andere, zu diesem Zeitpunkt noch reizvollere Motiv war, daß eine Frau, die neben Dinah im Bus saß, eine Rotblonde mit wachem, strengen Gesicht, mich bei den Vertraulichkeiten beobachtete, die ich mit einer Frau unterhielt, die schräg hinter der meinen saß. Diese neben Dinah Reisende, hochgewachsen und schlank, hatte, wenn sich unsere Blicke trafen, jedesmal angenehm gelächelt. Ein Lächeln, als ob sie mich an Worte erinnern wollte, die wir irgendwann einmal, in grauer Vorzeit, gewechselt hatten, so mutete es an.
Davon war mir allerdings nichts bewußt. In meinem, was die Begegnungen mit Menschen betrifft, zuverlässigen Gedächtnis existierte die Hochgewachsene nicht. Ihr mir kaum deutbares Lächeln hatte womöglich auch einen bannenden Zug: als sollte es das erste zwischen uns mögliche Wort bereits auf den Lippen ersterben lassen. So war es gewissermaßen ein abschließendes und keineswegs eröffnendes Lächeln. Dies angenehme Lächeln siehst du von mir, um nichts weiter je von mir zu erfahren. Dennoch wurden ihre großen graublauen Augen nicht gesenkt, und sie sah mich geradeheraus an. Es zeigte mir, sie verstand meine Lage, ließ aber kein Wort zwischen uns zu. Sie antwortete auch nicht mit der geringsten Reaktion, wenn ich einmal eine Frage an Dinah richtete und dabei den Blick auf die neben ihr Reisende richtete: Ob wir nicht befürchten müßten, daß der Busfahrer inzwischen gefährlich übermüdet sei?
Ich versuchte nun, mit Gespür Kontakt zur Rotblonden zu halten. Während Dinah, die Ahnungslose, bei ihren Spielereien in meinem Nacken die Abkühlung meiner Empfindungen noch nicht mitbekommen hatte, unsere »gewohnten Liebkosungen« also fortsetzte und es ihr mit einiger Verrenkung sogar gelang, mir einen Kuß unter die Kinnlade zu setzen. Ich spürte dabei, ohne es zu sehen, wie die neben ihr Reisende den Kopf abwandte und aus dem Fenster sah, als verstimmte sie unser Getechtle.
Sieh an! Sie hatte nun doch reagiert. Ich wußte nicht, ob im Bus weiter hinten noch jemand saß, der zu ihr gehörte und der durch irgendwelche Umstände nicht neben ihr Platz gefunden hatte — oder vielleicht auch gar nicht finden wollte, weil es wiederum eine dritte Person gab, neben der er zeitweilig zu sitzen wünschte. Man merkt es ja an einem unwillkürlichen Zurückblicken, etwa bei einem plötzlichen, alle betreffenden Zwischenfall auf der Strecke oder einer allgemeines Stirnrunzeln hervorrufenden Durchsage des Reiseleiters oder Busfahrers, dies unwillkürliche Kontakt-Suchen rückwärts mit einem zugehörigen Menschen, das vielleicht nur in einer geringfügigen Schulterwendung zum Ausdruck kommt. Man merkt also in jedem Fall, ob sich jemand zu einem im hinteren Teil eines Busses sitzenden Menschen ausrichtet. Davon bei der Hochgewachsenen nach meinem Empfinden keine Spur.
Dann war es so, daß Dinah plötzlich das Bedürfnis hatte, sich mit meiner Frau zu unterhalten und sich neben sie zu setzen. Die beiden kannten sich ja von den Turniertribünen, ohne daß ich Dinah ihr je vorgestellt oder mir etwas von unserem Verhältnis hätte anmerken lassen. Jedenfalls tat Claire, als besäße sie nicht den Schatten eines Verdachts, während ich gleichzeitig den Eindruck hatte, daß es Dinah mit ihrem Platzwechsel urplötzlich ernst mit uns sei. Das bewies mir ihre fatale Fehleinschätzung meiner gegenwärtigen Haltung zu ihr. Sie beteuerte, während wir die Plätze tauschten, auf meine vorsichtgebietende Geste hin, daß sie sich Claire keineswegs erklären wolle, sondern sich lediglich zu einem beiläufigen Gespräch neben sie setze.
Ich dachte an die chemotaktischen Verbindungen unter Ameisen, die nicht steuerbaren Begegnungen zum Austausch von Nahrung und Nachrichten über Nahrungsquellen. Ähnlich können zwischen Menschen gestische Informationen die Rolle von Nahrungs-Nachrichten spielen, jedenfalls unter halbwegs wachsamen, ihre Sinne fleißig wie die Ameisen beschäftigenden Menschen. Wie anders sollte denn eine einzige, in eine bestimmte Richtung abgegebene Gebärde der Zärtlichkeit zu einem in ganz anderer Richtung befindlichen Ziel führen?
Dinah und ich tauschten die Plätze. Ich entschuldigte mich bei der nun neben mir Reisenden für meine abrupte Nachbarschaft. Keine Reaktion. Sie sah aus dem Busfenster und spreizte Zeige- und Mittelfinger zwischen Lippe und Wange. Ich schämte mich, daß ich eben noch auf die Wachsamkeit der Sinne spekuliert hatte und selber offenbar verhornte besaß. Ihre Knie standen unter dem kurzen Rock etwas auseinander, wie im Schlaf auseinandergefallen, in einer nachlässigen oder halblasziven Stellung, je nachdem, ob man sie für selbstvergessen oder im Gegenteil für absichtsvoll hielt. Die Hochgewachsene streifte ihren Rock auch nicht nach, stellte die Beine nicht zusammen, nachdem ich neben ihr Platz genommen hatte. Mir kam der Gedanke, es möge ihr vielleicht beschwerlich sein, so eng zu sitzen mit geschlossenen Knien, und sie lasse die langen Beine nur deshalb aufgeklappt, um sich auf der Fahrt etwas Bequemlichkeit zu verschaffen. Dennoch verwirrte mich der Kontrast — die schöne Strenge in der oberen Hälfte, aufrecht zum Fenster gewandt, darunter der Rumpf mit den schief geöffneten Beinen, dem verrutschten Rock und dem nackten Fuß im umgekippten Halbschuh. Ich versuchte nun meine Blicke zurückzuhalten und mich zu lösen von dem, was ich heimlich betrachtet hatte.
Doch die mitteilsame Beinstellung schien mir inzwischen Vorhaltungen zu machen, daß ich sie, mir so dargeboten, nicht mit ein wenig Phantasie ausschmückte. Und tatsächlich glaubte ich jetzt am rechten Unterschenkel ein leichtes Zucken der Ungeduld zu beobachten … Ach! Und dann … jetzt erst! … endlich, wie peinlich lange hatte ich gebraucht, um es zu bemerken! Ein großer kugelrunder Tropfen — Schweiß? — rann über die seitliche Mulde ihres Knies, erreichte die obere Wade und wäre von dort schnell über die glatte Haut abwärtsgerollt, wenn ich nicht in diesem Augenblick das Gefühl für Dinahs Fingerspitze in meiner Ohrmuschel mir wachgerufen und in die eigene Fingerspitze übertragen hätte, um damit nun den vollen Tropfen aufzuhalten …
Es war ihrerseits das Gewähren eines Anfangs! Doch sie sah mich nicht an, sie wandte ihr Gesicht nicht vom Fenster, als ich mich, so weit wie möglich, zu ihr beugte, mich bückte und mit Geduld diesen runden Tropfen langsam und vorsichtig zurückrollte auf seiner Waden-Bahn. Merkwürdig aber, daß er fest wie eine Perle blieb, als er vom Nagel meines mittleren Fingers geschoben wurde, unendlich behutsam zurück über die dünne Haut des Knies und weiter hinauf über die nun wirklich zitternde, sich verhärtende Wange ihres Oberschenkels. Mein Finger glich dem fleißigen Insekt, das um alles in der Welt seine Transportarbeit vollbringen muß, ohne seine Beute zu zerstören. Und das gelang mir. Es wäre mir sogar gelungen, den Tropfen bis ins tiefere Dunkle hinaufzurollen, aber ich brach ab vor dem aufgeworfenen Rocksaum, balancierte den Tropfen auf dem Finger wie der Zirkus-Delphin den Ball auf seiner Schnauze. In diesem Augenblick löste die Mitreisende ihren Blick vom Fenster, sie sah mich mit einem auf einmal barschen Lächeln an und mit weiten saugenden Augen; unter diesem Blick bemerkte ich, daß auf ihrer Stirn viele solcher »Tropfen« standen. Sie sahen aus wie durchsichtige Warzen. Das Sekret schien sich auf ihrer Haut zu festen Kügelchen zu verdichten. Unwillkürlich hob ich die Hand und wischte sanft über ihre Stirn. Da war die ganze Hand voll glitzernder Perlen. Im selben Moment wandte sich meine Frau zu mir um, und ich hörte endlich — endlich den Ton leiser Gekränktheit, den Ton schmerzlicher Ironie, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte. Sie fragte, ob sie mir vielleicht meine Lesebrille rüberreichen solle, für den Fall, daß ich die Poren anderer Mitreisender noch genauer zu studieren wünschte. Ich zitterte vor Glück über diesen ersten, noch so bescheidenen Anflug von Eifersucht. Die Hochgewachsene neben mir riß das Kinn empor, als wäre sie von einem Backenstreich getroffen. Fliehst du? Oder sinkst du zu mir in meinen Nebel? Die Macht der von mir Leichtberührten zog noch einmal kräftig an.
Kurz darauf brach sie den Kontakt ab. Sie stellte ihre ganze romanhafte Sphäre ab, als wäre diese bloß eine elektrische Beleuchtung gewesen. Sie schlug die langen Beine übereinander, rückte den Rock zurecht. Alles war vorüber. Ich erhob mich und tauschte mit Dinah den Platz, so daß ich für den Rest der Fahrt wieder neben meiner Frau saß.
Die Handvoll Warzen oder Silikonschweißperlen ließ ich auf Dinahs Sitz liegen. Sollte sie sehen, was sie damit anfing.
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Nach einem halben Jahr war sie aus Argentinien zurückgekehrt, wo sie bei ihrer Schwester Zuflucht gefunden hatte — in der leisen Hoffnung, dort bis ans Ende ihrer Tage bleiben und besser leben zu können. Aber es war schiefgegangen. Es hatte irgendeinen aberwitzigen Vorfall gegeben, und sie sah sich gezwungen, alle Pläne zu ändern. Sie war zurückgekommen, tieftraurig über den Vorfall, nicht eigentlich erschüttert, sondern nur so traurig, daß sie über die ganze Reise Stillschweigen bewahrte. Der Mann aber, vor dem sie geflohen war, obwohl sie ihn liebte, verband sich aufs neue mit ihr. Vorher ein elender Wüterich, war er inzwischen zum verbissenen Fragensteller geworden, der geradezu eine Sucht entwickelte, das Geheimnis ihrer Traurigkeit zu lüften.
»Hast du es endlich herausbekommen?« fragte sie ihn eines Morgens, auf ihrem Krankenbett, schwach lächelnd schon, denn seit vielen Nächten saß der ehemalige Wüterich stumm bei ihr Wache. Oder besser gesagt, er saß da, um ihre Fieberträume auszuhorchen. Doch nun fragte er nicht mehr. Vielleicht hatte sie den Vorfall im Fieber preisgegeben? Der Mann schien nun ebenso traurig wie sie und in dieser Stille waren sie noch einmal vereint. Aber das war ihr schon gleichgültig geworden.
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In Bethel, wo Jonas, der Sohn, vor einigen Jahren ein Sozialpraktikum absolvierte, gab es einen Greis, der frühmorgens um sechs sich in seinen Rollstuhl setzte und auf den Weg machte zum Aufzug, um dort jemanden zu erwarten. Den ganzen Tag über wartete er und zerstreute sich mit den vielen, die ohne von ihm erwartet zu werden, aus dem Aufzug stiegen. Erst abends um sechs verließ er seinen Posten und kehrte auf sein Zimmer zurück. Nicht eigentlich unglücklich darüber, daß der Erwartete wieder einmal nicht eingetroffen war. Denn wen hätte er dann am nächsten Tag zu erwarten gehabt?
Davon erzählte der Sohn, als sein Vater wieder einmal lamentierte, er habe wohl niemanden je getroffen, der so auf sich gestellt hause wie er, vergessen von Frau und Freunden.
Doch, entgegnete der Sohn, ich habe jemanden getroffen, der noch einsamer war als du. Und er erzählte von Bethel und dem Aufzugwarter. Er kam nicht darauf, daß sein Vater, der restliche Mann, sich einer solchen Gestalt längst inbegriffen fühlte.
Es wird dir vielleicht im Gedächtnis bleiben, mein Junge … Non omnis moriar, not all of me will die, eine Luftbewegung bleibt bestimmt von mir zurück … Wer träumte nicht davon, vom Erdboden zu verschwinden, indem er sich in Luft auflöst? Aerifizierung bei lebendigem Leib und wacher Seele, so daß er sich selbst vom Boden aufsteigen spürt und Luft werden unter Lüften. Das Grauen vor dem Tod ist zuvörderst ein Grauen vor dem Einschluß in den Sarg oder Feuerkasten. Gäbe es stattdessen ein Ende mit restloser Auflösung in Äther und Wind, von der alles Leben träumt, so wäre die Todesangst von der Welt vertrieben ….
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Am Abend wieder ›Stechlin‹. Wie man das spätere Leben doch am besten verplaudert. Sofern sich die geeignete Gesellschaft findet wie in Fontanes Alterswerk. Was für gegensätzliche Ansichten! Die einen schonend geäußert, die anderen verletzend. »Wörter sind Kinderklappern.«
Man habe ihn schon einen »Causeur« genannt, sagt der alte Stechlin — und eigentlich hört nur das Plaudern auf, sonst tut sich der Tod nicht besonders dicke. Aber das endgültige Verstummen ist bei einem Plauderer weit ergreifender als bei einer muckschen oder maulfaulen Natur.
Alles geht so weiter, geht eben so und sättigt sich mit Bedeutungslosigkeit. Vieles macht Freude. Und so dümpelt man im Geplätscher der Stunden dahin.
Du hast so viel vertan, wie du getan hast.
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Auch in Gleichheim war sein Projekt nicht auf Gegenliebe gestoßen. Fontänist nannte er sich: Erfinder einer transportablen Anlage für »neuartige« Wasserspiele zur Verwendung auf Sommerfesten und in Parks. Bildhauer von Aqua-Skulpturen. Er lag in seinem Bett in einer billigen Pension in Gleichheim. Aber die Anlage konnte ja auch als einfache Bewässerungtechnik für öffentliche Rasenflächen benutzt werden … Es war verdammt schwer, Gemeindevertreter vom Nutzen, von den vielen Einsatzmöglichkeiten seiner transportablen Anlage zu überzeugen, es war beinah aussichtslos. Er stand auf und prüfte in seinem Zimmer belanglose Dinge auf ihre Funktion. Es reizte ihn auf einmal, alles zu kontrollieren. Die Scharniere der Schranktüren, die verschmutzte Unterseite des Nachttischs. Die Dralon-Vorhänge mit gerissenen Ösen. Eine Bestandsaufnahme der materiellen Schäbigkeit, die ihn umgab. Das Abgewrackte, Heruntergekommene seiner Herberge. Die Ekelflecken auf dem Bettvorleger. Der gefaltete Plastikschirm der Nachttischlampe, angesengt von zu großer Glühbirne der alten Art. Die Feuchtigkeit in der Wand und ihre dunklen Abdrücke auf der schmutzigen Tapete. Der Ekel trieb ihm Tränen in die Augen. Es war wieder nichts. Kein Auftrag, nicht mal ein Vertrösten auf ein nächstes Mal, wenn die Gemeinde es sich wieder leisten könne, ein Sommerfest auszustatten. Ralf Bergmann, einst der Klassenkamerad, hatte seine erste Million mit Klingeltönen gemacht!
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Der Mann, der im Ruf stand, einen messerscharfen Verstand zu besitzen, machte sich diesen Ruf zu eigen und war fortan selbst davon überzeugt, einen messerscharfen Verstand zu besitzen. Es konnte nun sein, daß sein Verstand, der, einmal ohne Ruf betrachtet, allenfalls ordentlich, doch keineswegs außerordentlich funktionierte, durch Selbstbestätigung tatsächlich einen Sprung nach vorne machte, was wiederum seinen Ruf um ein weiteres bekräftigen würde, so daß zwischen Ruf und ihm selbst keine große Lücke mehr klaffte. Es konnte aber genausogut sein, daß er wie ein Werbestratege sich um Erhalt und Verbreitung seines Rufs bemühte, wozu er keinen messerscharfen Verstand benötigte, so daß dieser schnell außer Übung kommen mußte. Tatsächlich konnte aber dieses gegenseitige Aufschaukeln von Ruf und dem Ruf Entsprechen kaum je zu einem überzeugenden Ausgleich finden.
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Oft wußte sie nicht, wovon er spricht. Sie kannte alle Ausdrücke, alle Floskeln, das gesamte Mitteilungsfeld seiner Rede, einschließlich seiner verdeckten Absichten, war ihr verständlich — und doch wußte sie nicht, wovon er sprach.
Er erwähnte den Besuch eines Vertreters seiner Standesorganisation, verlor sich sogleich in der Schilderung skurriler Eigenarten dieses Mannes. Dabei ließ er durchblicken, daß man den Mann wegen ungeheurer Verfehlungen demnächst aus der Organisation entfernen werde, obgleich es sich bei seinen angeblichen Verfehlungen nachweislich um plumpe Versäumnisse vonseiten der Organisation handelte. Problem und Sorge seiner Berichte traten ihr, seiner Beherbergerin, im ersten Moment klar umrissen vor Augen, um im nächsten in einem Wust von Abschweifungen und belanglosen Einzelheiten unterzugehen. Es schien ihr, daß er den Sinn seiner erregten Rede zuweilen selbst bezweifelte, nur um sie kurz darauf aus nächster Nähe mit einem erstickten Aufschrei zu erschrecken. Es war, als ob mit denselben Worten eine jeweils gegenteilige Aussage hin und her wehte wie ein frischgewaschenes Bettlaken an der Leine im Wind.
Außerdem sprach er des öfteren zu seiner Wirtin, als wäre sie selbst der Vertreter der Standesorganisation, etwa in der Art: »Und ich versichere Ihnen, Sie werden mich nicht dazu bringen, ein Schuldbekenntnis abzulegen.« Als holte er mit ihr nach, was er beim Besuch des Mittelsmanns mangels Geistesgegenwart zu sagen versäumt hatte.
Er verwickelte sie buchstäblich in eine Art Rollenspiel, bei dem sie aber nicht viel mehr an Reaktionen zeigte als ein kurzes Kopfnicken und ein gelegentliches Glucksen der beipflichtenden Empörung.
Plötzlich, in einer scharfen Wendung, war sie leibhaftig sein Gegenspieler — und ebenso plötzlich stieg er aus seiner Rolle aus und wechselte in den Ton des Verzagens und der Selbstbezichtigung, woraufhin natürlich die Angespielte wiederum die Verkörperung des Kontrahenten vernachlässigte.
Auf diese Weise herausgefordert und wider Willen in die gegensätzlichste Mitleidenschaft gezogen, büßte sie Mal um Mal als sein Gegenüber an Standfestigkeit ein. Bisweilen hatte sie versucht, wenn er sie — »in effigie« — als den lästigen Verbandsvertreter traktierte, ihm als ein solcher Paroli zu bieten.
Sie sah durchaus nicht ein, weshalb ausgerechnet sie ihre geordnete Seele zur Verfügung stellen sollte, damit der bestürzte Mensch sich an ihr emporrichte. Die ernste Übung, seinen bohrenden Fragen, seinen schroffen Rechtfertigungen und dann wieder den kleinmütigen Selbstanklagen standzuhalten, war ihr nicht leichtgefallen. In ihrer Mitleidenschaft hatte sie bereits eine gehörige Portion seiner Schwäche übernommen. Als sein ausgestopfter Gegenspieler befand sie sich in genau der Verfassung, in der er seinen wirklichen Gegner gerne vor sich gehabt hätte: unsicher, verlegen, nachgiebig, verdattert. Und in genau dem Ton, im Ton eines von ihm ersehnten Schwächlings sagte sie dann stotternd auch den einen weit hergeholten Satz: »Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden …«
Doch der Satz entsprach der Wahrheit, ganz gleich, auf welcher Ebene man ihn verstehen mochte.
Der Beherbergte sammelte sich, ging in kleinen Schritten vor seiner Wirtin auf und ab und holte dann zu einer unerbittlichen Selbstbetrachtung aus, offensichtlich einzig in der Erwartung, von der Angesprochenen die Lösung für das Rätsel seiner Existenz zu erhalten.
»Ich bin ein langsamer Mensch und einer ohne Punkt und Komma. Ein rastloser und ein zutiefst aufgehaltener Mensch. Ein armselig gekleideter und ein gut frisierter. Einer mit sanfter Stimme und grobem Zorn. Wie paßt ein solch auseinanderstrebendes Wesen, muß man sich fragen, auf ein und dasselbe Knochengerüst? Wie kann es, so geschniegelt und verkrümmt, geschmeidig und vereckt aufrecht durch die Menge gehen, hier und da sich beigesellen, Frauen küssen, Schuhe kaufen? Ich, der ich zu Kompromissen bereit bin buchstäblich auf Schritt und Tritt. Kompromisse! Meine Seligkeit! Gleichzeitig ein Mann, bei dem sich die Miene des Unbestechlichen immer stärker ausprägt. Oh nein, ich bin kein Heuchler, ich hinke nur. Bin aber nicht mit dem Teufel verwandt, sondern hinke in meiner Menschennatur. Ich schleppe einen Teil meines Wesens stets dem anderen hinterher …
Mein Geiz, meine Wutanfälle, meine Redseligkeit, meine Schüchternheit, meine Unüberblickbarkeit und die tiefe Kluft zwischen Kummer und Übermut. Ich bin nicht böse, nur ein hinkendes Unding von Mensch. Nicht Unmensch wohlgemerkt. Ein Unmensch, um möglichst unkenntlich zu bleiben, besäße im Gegensatz zu mir ein gewisses Maß an taktisch genutzter Liebenswürdigkeit. Ich hingegen bin so etwas wie ein Engel, dem man einen Mühlstein um den Hals gehängt hat! Es ist ein Übermaß an Unausgeglichenheit, das Sie an mir bemerken und bemängeln: zum einen die ganze Herzspärlichkeit in Form bitterer Skrupel, dann wieder eine Flut von großzügigen Unbedenklichkeiten.
Ja, wissen Sie überhaupt, was sich hinter dem banalen Ausdruck »Auf und ab« in Wahrheit abspielt? … Ich?-mich?-bemeistern? Sie werden verstehen, daß diese Forderung ebenso absurd ist, als würden Sie der dreigestalten Chimära nahelegen, sich endlich zu entscheiden, ob sie Löwe, Ziege oder Schlange sein will. Ich suche meinen Meister, seitdem ich Erdenbürger bin. Den Meister des Rechten und Richtigen, der mich nur sacht zu berühren brauchte und schon wäre ich entkauert, entkrümmt und ententzweit. Ich, ich bin das Angebot, kein Zweifel, daß ich eine einzige Heraufbeschwörung des Rechten und Richtigen bin, so wie der restlos Verunglückte den Glücksbringer herbeilenkt, der vollkommen Ungestalte den genialen Gestalter. Für den Rest des Lebens heißt es Atem holen aus dem Abgrund der einen, der unerschöpflichen Frage. Wie konnte ich nach dem Unglück in die Dorfkneipe gehen, eine Flasche Schnaps kaufen und dennoch bis auf den heutigen Tag nicht der Unfallflucht überführt werden?
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Die endgültige Bescheidung mit dem, wie es nun einmal gekommen ist … Der kleine Laden zwischen Hochhäusern, eine Musikalienhandlung. Felix Arndt, der Besitzer. Seit 40 Jahren das Geschäft im schmalen Altbau zwischen zwei Mietskasernen. Im Schaufenster eine alte Posaune. Ausgelegt auch Noten von Pop-Musik, sonst vor allem Material von weniger bekannten Komponisten des 20.Jahrhunderts, Schreker, Korngold, Krenek. Dazu ein Komponist, mit dem er persönlich befreundet war: Wilhelm Killmayer. Einmal am Tag Besuch, nachmittags um vier, vom Kirchenchorleiter. Gewöhnlich sitzt er in einem Sessel neben der Ladentheke und liest. So in etwa. Mehr bist du nicht. Doch es genügt.
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In der Zerstreutheit des Herzens stößt man auf den entlegensten Menschen, den man kaum kannte, einen aber, der von allen, die man bloß flüchtig streifte, als der freundlichste im Gedächtnis blieb.
Was mag wohl aus Ruij geworden sein, dem Sohn einer englischen Sportjournalistin, die ihren Job aufgab, einen Inder heiratete und Jahr für Jahr mit ihm auf den Weltmeeren segelte? Was hört man von Ruij, dem aus Vorsicht vor falschen Worten stotternden Jungen, der seinen Vater verlor auf einem Segeltörn vor Kap Horn, wo er auf den Wellen an Herzversagen starb? Und die Witwe zog mit ihrem Sohn nach Sardinien und baute ein altes Gemäuer aus. Bei ihr verbrachten wir unsere ersten Nächte auf der Insel, lange bevor wir dort selbst ansässig wurden, um, wie es manchmal geschieht, die beiden am selben Ort mit den Jahren aus den Augen zu verlieren. Und Ruij wurde der beste Schwimmer und Taucher der Gegend. Las eine Menge Bücher, vor allem über das Meer, und half seiner Mutter im Haus. Als er kein Kind mehr war, zog er nach London und studierte Meeresbiologie. So blieb er, vom Sportler zum Forscher geworden, immer am Meer. Ihn aufsuchen, Ruij, den freundlichsten von allen, den immer hilfsbereiten, nach ihm fahnden, falls sich die Spuren verlieren, und für kurz ihm das schwere Herz übergeben, nur für zwei Minuten es zu halten. Denn von allen, den bloß Gestreiften, kannte niemand besser das Meer.
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Die Finger des inzwischen erblindeten Manns, die über das Gesicht der wiedergefundenen Jugendliebe tasten, die ihre Züge strafft, die Augen schließt, die Lippen ein wenig aufwirft in der Hoffnung, seine Hände fänden etwas von ihrem Aussehen in jenen glücklichen Tagen wieder.
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Immerzu sah ich seinen muskulösen Hals und dachte, wie kann ein so kräftiger Hals soviel dünnen Unsinn ausgießen? Wie kann jemand, ein Filmunterproduzent, Auge in Auge mit mir, derart schamlos angeben? Vermag ich denn gar nichts über ihn? Hat er denn keinerlei Respekt vor meiner Menschenkenntnis? Ich nahm es hin als einen Akt umständlicher Beleidigung … »John River, Ihnen ein Begriff? Ja, genau der, amtierender amerikanischer Verteidigungsminister, ich lernte ihn bei Oliver Stone kennen, inzwischen haben wir viele Briefe gewechselt, übrigens ein ausgezeichneter Eliot-Kenner. Ich begleite ihn regelmäßig, wenn er nach Europa kommt. Ich kenn mich im Grunde in der römischen Geschichte besser aus als in der deutschen. Der Zerfall des Römischen Reichs ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß die Armee nicht mehr überwiegend von römischen Führern befohlen wurde. John, wie ist das heute? Und er macht mir klar: Das einzige, was unsere Macht erhält, die Macht der weißen Amerikaner, werden unsere Elitecorps, wird die Ordnungskraft der Armee sein. Frauen? Gut. Aber nur für die Öffentlichkeit. Nur für die Front political correctness, da sind sie immer dabei. Die combatant units können keine Frauen gebrauchen. Also machen wir das schon in der Ausbildung klar. Wir fliegen in Westpoint über die Zwölftausend-Meter-Grenze und schmeißen Männer und Frauen aus dem Flugzeug. Tausend Meter vor Bodenberührung dürfen sie den Fallschirm ziehen. Zwei von den Weibern sind dabei ins Meer geklatscht. Die Frage der weiblichen Anteile bei den combattant units war damit ein für allemal geregelt. Scorsese, der mir damals die Co-Produktion von ›Last Temptation‹ anbot, hat kurz darauf die Verbindung zu Benigni hergestellt, mit dem ich seither engstens befreundet bin, aber ›Das Leben ist schön‹ wollte ich nicht mit ihm machen. KZ, nein. Ich wollte einfach keinen KZ-Film, obwohl ich mir denken konnte, daß Roberto keinen gewöhnlichen KZ-Film drehen würde …« So schwatzte er in einem fort, alles mit lauter Stimme, unterbrochen zuweilen von einem bübisch-konvulsivischen Lachen, noch lauter, vollkommen selbstisch und unecht. Ich sprach immer leiser, was war auch gegen diesen Primaten der Kulturkonversation mit seinem Imponiergetrommele auszurichten? Ich sah immer mehr das ethologische Schema, der Mensch verschwand zwischen seinen Verhaltens-Atavismen.
Wie konnte es zur Begegnung mit einer solchen Leerperson kommen? Hinter mir lagen Tage der empfindlichsten, zermürbendsten Einsamkeit. Und dann treffe ich auf eine solche Karikatur des »Anderen«, jenes selben Anderen, dem Philosophen schon manches Meisterwerk gewidmet haben und den auch meine Gedanken in völliger Abgeschiedenheit unablässig umkreisen. Jener Andere, der dieser Mensch hier durchaus nicht ist und niemals für jemanden sein könnte! Nur ein Zungenschnalzer im weltweiten Geschnatter des Namedropping. Dann wieder sage ich mir, meine unwürdige Lage vor mir selber rechtfertigend: Klappern gehört zum Handwerk. In diesem Fall ist wohl das Klappern bereits das Handwerk selbst. Aber was will er von mir? Der hat von mir nicht den geringsten Zipfel erwischt. Es ist Demütigung, nichts als Demütigung, die er mir zufügen will, indem er genau weiß oder spürt, was es für mich bedeutet, wenn er, ein vollkommen Bedeutungsloser, sich vor mir aufbläst und mich zum Zuhören zwingt. Ich bin bereits der Erniedrigte, indem ich mit einem solchen Menschen am Tisch sitzen bleibe und nicht den Mut finde, einfach wegzugehen … Aber der will doch vielleicht irgendetwas von mir?! Insgeheim höre ich einen nüchternen Menschen aus der Branche sagen: »Ach, der Brünning, der redet ein bißchen viel, macht aber tadellose Arbeit.« Doch es will mir nicht einleuchten, daß jemand in seinen Handlungen zuverlässig sein soll, wenn ich mich auf nichts verlassen kann, was aus seinem Mund dröhnt. Ich spüre: ich besitze keine Abwehr, die mich vor den animalischen Gebärden der Selbstvergrößerung schützen könnte. Auf mich strömt alles unvermindert ein, selbst wenn der Beschuß nicht aus Wirkungs-Quanten, sondern bloß aus Styroporkügelchen, aus zerbröseltem Verpackungsmaterial besteht.
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»Wie sehe eigentlich ich aus? Ich habe noch gar kein Kostüm,« sagte der kleine Schauspieler kurz vor der Hauptprobe, als er unverhofft den Blick des Regisseurs auf sich gerichtet sah. Der war gerade dabei, ein Arrangement für die vier Hauptdarsteller zu ändern, und der kleine Schauspieler las den Blick des Meisters falsch, denn der war nur zufällig an ihm hängengeblieben, dem Kollegen mit den zwei kurzen Melde-Auftritten. Es war ein durchaus nichts sehender Blick, der für kurz auf ihm ruhte. Folglich hatte seine schüchtern-erregte Anfrage auch nur die Wirkung, daß sie den Meister aus seiner Gedankenverlorenheit weckte, weshalb dieser, statt dem kleinen Schauspieler eine Antwort zu geben, sich auf dem Absatz umdrehte, um bei der immer noch unbefriedigenden Gruppierung der Hauptdarsteller die entscheidende, zauberhaft richtige Veränderung vorzunehmen.
Dann war die Probe beendet, der Regisseur begab sich zum Stab seiner engsten Mitarbeiter und diktierte die noch notwendigen Ergänzungen für das Bühnenbild.
Nun machte sich der kleine Schauspieler auf eigene Faust auf die Suche nach seinem Kostüm. Er lief durch den Korridor der Ausstattungsabteilung und betrat die Kostümbildnerei. Leider war die für die Kostüme zuständige Künstlerin bereits abgereist, um ein nächstes Engagement wahrzunehmen, und eine Assistentin überwachte die Ausführung ihrer Entwürfe. Er fragte sie, ob für ihn schon ein Kostüm angefertigt sei.
Sie lachte und fragte zurück: »Für welche Rolle?« Denn sie hatte ihn bei seinen kurzen Auftritten nie auf der Probe gesehen.
»Ich bin im Stück der engste Freund der Hauptperson. Ich melde dem Vater den Tod seines Sohns. Im Personenverzeichnis heiße ich einfach: Ein Freund.
Das ist ebenso viel- wie nichtssagend. Genau um diese Achse herum — viel/nichts — müßte mein Kostüm geschneidert sein.
Mein Auftritt ist kurz. Im Grunde sind es zwei. Ich erscheine, melde, verschwinde.
Kurz darauf kehre ich zurück, nachdem ich den Vater für zwei Minuten um Fassung ringen lasse, und berichte etwas ausführlicher, stehe Rede und Antwort, alles kurz und markant. Anschließend verschwinde ich unwiderruflich aus der Handlung.«
»Spielen Sie einen Offizier?« fragte das weiche Mädchen mit dem aufgesteckten Lockenhaar. Sie saß schräg angelehnt mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Drehhocker vor ihrem Ateliertisch und strichelte mit dem Bleistift auf einem Zeichenblock. Es schien, als entwürfe sie aus dem Moment heraus ein Kostüm für den kleinen Schauspieler nach ihrer Phantasie.
»Nein, kein Offizier. ›Ein Freund‹, das bin ich. Es wird nicht näher gesagt, welcher Berufsgruppe oder gesellschaftlichen Schicht ich angehöre. Darin liegt ja die Notwendigkeit eines mich bezeichnenden Kostüms begründet. Aber man hat sich offenbar bis zur Stunde keine Gedanken darüber gemacht. Indem ich dem Vater Meldung erstatte, stürze ich ihn in eine ausweglose Lage. Er schleppt sich fortan nur noch mit großer Mühe, geplagt von Reue und Schuldgefühl, durch den Rest des Vierten Akts. Ich allein könnte ihm Erleichterung verschaffen. Wenn ich länger auf der Bühne bliebe, könnte ich ihm zum Beispiel die näheren Umstände schildern, die zum Tod des Sohns führten. Aber das tue ich nicht. Ich bleibe einsilbig und kurz angebunden. Später verschwinde ich nach Bekanntgabe der nötigsten Fakten rigoros.
Mein Auftritt saust nieder wie ein Schwert auf den Schädel des Unglücklichen. Wie ein Schwert — schmal, schneidend, blitzend. Vielleicht wäre das ein Anhaltspunkt für mein Erscheinungsbild …«
»Gehen Sie in die Schneiderei. Fragen Sie dort, ob Ihr Kostüm schon fertig ist.«
Die Assistentin, die den rechten Ellenbogen auf die Tischplatte stützte, drehte sich auf dem Hocker hin und her, es sah aus, als wäre ihr im selben Augenblick die anfängliche Phantasie für das passende Bühnengewand des kleinen Schauspielers in Lustlosigkeit zusammengesackt.
Der also lief weiter den Werkstätten-Korridor entlang bis zur Schneiderei, wo er auf zwei Vorhangnäherinnen traf, die aber nichts von einem Kostüm für ›Ein Freund‹ wußten — die nicht einmal wußten, welches Stück in wenigen Tagen Premiere hatte.
Darauf ging er zu einem rollbaren Garderobenständer, an dem eine Reihe von Kostümen für die Komparserie hing, jeweils mit einem angesteckten Zettel mit dem Namen des Statisten, aber seines war nicht dabei, man hatte sein Kostüm vergessen.
Nun läßt sich an jedem Theater für jeden beliebigen Mitwirkenden innerhalb von zwei Stunden ein beliebiges Not-Kostüm schneidern. Jedoch müßten die Schneiderinnen zu diesem Zweck einen Auftrag aus der Kostümbildnerei bekommen, und ein solcher war bisher nicht ergangen. Die Assistentin wiederum weigerte sich, eine entsprechende Weisung zu geben, obgleich sie doch kurz nach Eintritt des kleinen Schauspielers im Nebenbei und spontan einige Skizzen aufs Papier gebracht hatte. Sie hätte aber nie gewagt, ein von ihr entworfenes Kostüm ohne Erlaubnis der Meisterin zur Fertigung zu bringen. Die künstlerische Verantwortung lag schließlich bei einem bekannten Namen, und die dazugehörige Person befand sich längst auf einem anderen Erdteil.
»Ich habe kein Kostüm! Ich habe kein Kostüm!« schrie der kleine Schauspieler hinter der Bühne, kurz bevor sich der Vorhang zum letzten Durchlauf hob.
Lieber wollte er es zum Eklat kommen lassen, die Aufmerksamkeit des Leitungsstabs mit Gewalt und Störung auf sich lenken, als gewissermaßen unbekleidet seine Rolle zu spielen, also in Jeans und Sweatshirt der Hauptfigur die Nachricht vom Tod des Sohns zu überbringen.
In einem heftigen Zornesausbruch winkte der Regisseur den Beginn des Durchlaufs ab, zu dem alle bereitstanden, auf den jeder in höchster Konzentration eingestellt war.
Der Vorhang ging auf, und der arme Unbekleidete wurde auf die Bühne gerufen.
Da stand er nun im Mittelpunkt aller, allein, unter dem harten Scheinwerferlicht, das fürs Erste Bild, eine Ballszene, benötigt wurde, stand da in seiner erbärmlichen Straßenkleidung und in Turnschuhen. Der Regisseur blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an und rief: »Sie bekommen einen grauen Drillich. Sie sind als der Freund des Sohns in einem niedrigen Dienstleistungssektor tätig. Als solcher treten Sie auf zu Beginn des Vierten Akts und hinterlassen den Eindruck eines Mannes, der seine Arbeit unterbrochen hat.«
Nun waren die Kostüme der Künstlerin durchweg alltagslos. Zum Teil übertriebenes Fin du siècle, dazwischen auch futuristische Unbequemlichkeiten, Stilbruch als Prinzip. Als dann der kleine Schauspieler im grauen Drillich seine beiden Auftritte absolvierte, erkannte auch der Regisseur, daß hier eine falsche Banalität dem Kalkül der übrigen Ausstattung widersprach. Er bat um die sofortige Entfernung des geschmacklosen Drillichs. Vergaß allerdings unter den vielen Sorgen, die die Probe mit sich brachte, anzuordnen, in welcher Bekleidung der gute Mann stattdessen auftreten sollte.
Niemand, absolut niemand, weder die Assistenten noch der Bühnenbildner, weder Dramaturg noch ein Schauspieler-Kollege, wagte einen Vorschlag zu machen.
So nahte der Abend der Premiere, und den Kleindarsteller, für den man kein Kostüm hatte, befiel ein furchtbares Lampenfieber, so daß er nicht mehr Herr seiner Entscheidungen war.
Er räumte zuhause seinen Kleiderschrank leer, von der fixen Idee besessen, dem Anspruch höchster Extravaganz zu genügen, doch fand er nicht ein einziges Kleidungsstück, das diesem Anspruch gerecht werden konnte. Alle Stücke waren salopp-sportlich-billig. Er wickelte mehrere Hosen und Pullover zu einem wulstigen Band zusammen und schnürte es sich um den nackten Leib. Er knüpfte auf ähnliche Weise sämtliche Paar Schuhe, die er besaß, um die Waden. Über den nackten Rücken hängte er ein halbes Dutzend langärmliger Hemden auf Kleiderbügeln, die er an eine um den Hals geschlungene Kordel hakte. Auf seinen Kopf stülpte er eine mitraförmige Komposition zusammengeknoteter Strümpfe.
In dieser Aufmachung — in äußerster Not gerafft und geballt — begab er sich ins Theater und wartete in einer Abstellkammer auf den Einruf zum Vierten Akt.
Er hatte eine große Decke über seinen Wäsche-Körper geschlungen, und Kollegen, die ihn zufällig beobachteten, glaubten, er würde sogleich nackt auf die Bühne treten.
Als er schließlich seinen Auftritt hatte, erstarrte der Hauptdarsteller bei seinem Anblick, und durch das Publikum zog ein befremdliches Raunen. Da stand er, der Bote, ein lebender Kleiderständer, steckte in keinem Kostüm und war doch nicht ohne eines. So gab er, wie es ihm von Anfang an vorschwebte, eine ebenso viel- wie nichtssagende Gestalt ab.
Als das Publikum aber aus dem Mund dieser bizarren Garderobe die Nachricht vom Tod des Sohns vernahm, hörte es auf sich zu wundern und bemerkte nur noch die ganze Armut und Verzweiflung eines Boten, der eine erschütternde Nachricht überbringt. Niemand im Saal hätte behaupten können, daß er jemals eine überzeugendere, ergreifendere Darstellung dieser uralten und ewigen Melderolle erlebt hätte. Nach dem zweiten Auftritt des — wie nun jeder sah — mit den Kleidern des Toten umhüllten Freunds spendete das Publikum spontanen Szenenapplaus.
*
Der Mann ist ein Erkunder, ein stiller, ernster, undurchsichtiger Fragensteller, wie ihn jedermann, der begierig ist, erschöpfend befragt zu werden, für einen nicht geringen Betrag bei der Agentur »Das Selbstgefühl« mieten kann.
Er lacht nie. Er fragt und hört mit langem dunklen Blick. Höflich, kalt, ungeniert. Rückt häufig, wenn ihm eine Frage kommt, die er nicht gleich stellen kann, mit dem Hintern nervös auf dem Stuhl hin und her, indem er, leicht vorgebeugt, die Unterarme auf die Lehnen stützt und zwischen den Fingern, sehr altmodisch, den Stift und den Notizblock hält.
Beim Zuhören ruht der Kopf, leicht zur Seite geneigt, an der aufgestützten Hand, der ausgestreckte Zeigefinger drückt gegen den Wangenknochen, der Daumen von unten gegen das Kinn, die restlichen drei Finger bilden eine kleine Faust vor den Lippen — um damit notfalls den Mund zu halten. Dazu der unentwegte Blick zur Befragten, deren ausladenden Kupferlocken wie schweres Geschmeide über die Schläfen hängen, während aus dem ungefärbten Ansatz immer wieder Schweißtropfen über ihre Stirn rinnen.
»Und wenn erst alles ausgekundschaftet ist, läßt man mich dann wieder sein? Da hat man mich ausgenommen, gesäubert und gesäuert wie einen Barsch, mit Rosmarin gefüllt. Doch das nützt alles nichts. Eine Burg wird geschleift, eine Vision ist zerfetzt. Ein Mann ist dahintergekommen. Eine Höhle wird plombiert, die Türen versiegelt. Am Himmel die Klingelleine gezogen und mit einer Hand wie früher in der Straßenbahn, Klingelleine als es sowas noch gab! Nur weiter so. Frag mich was, du Fragefritze!
Und wenn ich erst einmal ausgekundschaftet bin, das Stückchen Erde, die Frau, der Leib, das Atoll, dann wird sich’s nicht mehr lohnen, will ja nicht sagen, daß es kein Ende hätte, wenn man bedenkt, daß sich das Leben insgesamt auch mal nach rückwärts erstreckt, wo man nicht gut hinsieht, ich meine, daß es sich auch mal in die Buchten der besten Jahre verzieht, das gehört zur Lebensverbringung wie Dankbarkeit, wie Auf und Ab und passé, und doch nicht so ganz, mein ich, weil man genug zu tun hat mit einem Wesen, das sich erinnern kann und es fühlt noch das Weiche von ganz früh, jedenfalls das viele Weiche beim Beginnen, da war ein bißchen mehr los als bei dem jungen Küken, das gerade das Flattern lernen muß, aber gar nicht weiß, was zurückgucken heißt, etwa so, wie immerhin die Henne auf ihre Küken zurückblickt, ob sie noch am Platz sind, ob, was zu einem gehört, noch da ist, das ist ja, daß es zu einem gehört und daß es dich dann größer macht und du wächst, mehr Raum zwischen den Beinen, den Hüften, den Brüsten, vielleicht, daß es sogar wird, wie es einmal war, Illusionen nehmen zu, als da mal ein Leib für dich riesig war, die Mutterbrust aufs ganze Gesicht drückte und das Näschen platt, ist ja noch unvergessen, lebt ja noch, kann als Illusion überleben, kann sich selbst behaupten neben allem besseren Wissen gleichberechtigt. Einmal kann man sagen, daß am Anfang nichts hart und straff ist, sondern weich. Glücklicherweise kann man sagen, kommt das wieder, man hat so viel in den Händen gehalten, aber wenn man älter wird und eine Frau ist reif neben dir, größer als schlank — schlank ist man, solange man nichts erlebt hat, keine Verrücktheiten, keine Dankbarkeit, kein Weinen und Lachen, runder wird sie, weil sie genug erlebt hat, dann kannst du von Glück sagen, daß du wieder dort angelangt bist, von wo du ausgegangen bist und daß sich der Weg gelohnt hat, wenn er so rund war, weil alles Runde mehr befriedigt und schöner ist als das schlanke Gerade, wie der Weg, der sich spärlich ins Weite verliert.
Wenn ich dich umrunde, wirst du noch runder. Sagte mal einer.
Ach, was hat man schon für faule Satrapen-Trabanten im Orbit gehabt!
Es ist ja wahr, daß man mich mit den Mitteln der sphärischen Geometrie vermessen, entschlüsseln, erkunden muß. Da kreisen doch schwerelos Brocken von Männergriffen um mich. Du bist noch viel runder als dein Abdruck im Sand, meinte der Surfer damals.
Meine Stimme naht und weicht, kommt und geht wie früher bei einem altersschwachen Radio, schwillt und schwindet wieder. Das kommt auch von den sphärischen Ringen, die mich umgeben und in denen dieBrocken von den Kerlen kreisen.
In Tateinheit mit Illusionen ist das ganze Hilfswesen, das behelfsmäßige Biographieverbringen ein noch und noch Die-Fühler-Ausstrecken. Man kann gar nicht anders, als einen Gedanken vom Buckel des anderen abrutschen zu lassen. Man ist im Geist nicht frei von Nebensächlichkeiten. Das ganze Blut ist gleichsam ein dauerndes Abgleiten vom Wesentlichen. Und das bei einem Gehirn, darin sich, wenn’s not tut, die Sonne um die Erde dreht. Wenn’s denn sein muß.«
*
Nur einmal stand er mit klopfendem Herzen auf einem Bahnsteig. Er war noch Student, Anglist in den fortgeschrittenen Semestern, als er seine beiden Freundinnen, die eine aus Osnabrück, die andere aus Neumünster, auf den gleichen Zug dirigiert hatte, der die Rheinstrecke von Köln nach Koblenz nahm. Zwei Freudinnen, die nichts voneinander wussten, zwei Geliebte, verwöhnte junge Frauen, die nun im selben Zug saßen, während er auf dem Bahnsteig seines Heimatstädtchens unruhig hin und her lief. Er merkte wohl, daß ihm die übermütige Konstruktion dieses Doppelbesuchs auf einmal unheimlich wurde und etwas Bedrohliches bekam. Er verfolgte den Ablauf ihrer Anreise in verschiedenen Ahnungen und Visionen: Sie mußten längst in Koblenz aus dem Schnellzug gestiegen und den Bahnsteig des Vorortzugs nach Gießen gesucht haben, nebeneinander, womöglich miteinander, ohne im geringsten zu ahnen, welche Blicke sie am Ziel ihrer Reise sich zuwerfen würden. Vielleicht waren sie sogar die einzigen, um die Mittagsstunde, die den Zug durchs Lahntal bestiegen, zwei nicht ganz unähnliche Erscheinungen, was Körperform und Haltung betraf. Selbst wenn sie einander aufmerksam angesehen hätten, ihre Ähnlichkeit, die nur aufgrund eines von ihm bevorzugten Frauentyps so auffallend war, wäre ihnen selbst verborgen geblieben, wie auch anders? Ebensowenig hätte ihr Verhalten, beiderseits eine gewisse Erwartungsnervosität mit häufigen Blicken auf die Armbanduhr, sie jemals auf den einen und selben Mann schließen lassen, der sie verursachte und der die beiden zu sich dirigiert hatte. Er sah sie vor sich im Einraumwagen, auf gegenüberliegenden Gangplätzen, so daß immerhin jede der anderen Garderobe mustern konnte und vielleicht erstaunt war, ja vielleicht sogar ein wenig lächeln mußte darüber, daß ihr Geschmack in der Wahl der Bekleidung sich kaum unterschied. Indem sie nun den Kopf zur Landschaft richteten, schienen sie sich in Gedanken ihm zu nähern und sich seiner Erzählung zu erinnern, wie er in dieser Umgebung aufgewachsen war und hier eine glückliche Kindheit hatte. Zur gleichen Zeit verließ ihn auf dem Perron jedes trauliche Heimatgefühl, denn er besaß außer dem tolldreisten Plan, nach dem er die getrennt-gemeinsame Anreise seiner beiden Geliebten gelenkt hatte, keinen zweiten, wie nach Enthüllung des ersten, wie nach der riskanten Gegenüberstellung, Zusammenführung, Konfrontation — ja, was würde es sein? — mit den beiden weiter zu verfahren sei. Er fühlte äußerste Beklommenheit sowie die Macht der Ungewißheit, was auf den Augenblick der Entdeckung folgen würde. Einen Augenblick, den er sich lange Zeit als den kühnsten und seligsten zugleich ausgemalt hatte, nämlich als eine unbeschwerte Liebesfreundlichkeit und erotische Balance-Harmonie. Er verfolgte bei der ganzen Strippenzieherei ja keinerlei zweifelhafte Absichten, er wollte lediglich zwei Frauen, denen er mit gleicher Freude zugetan war, miteinander bekannt machen. Jetzt aber schwante ihm: Es würde eine enorme Sprengung geben. Anfang und Ende würden in der ersten Sekunde der Begegnung mit lautem Knall in eins stürzen. Ich bin verknallt in die und die, hieß es zu damaliger Zeit noch, wenn man sich verliebt hatte. Und so kann man eben auch wieder auseinanderknallen.
Doch was dann tatsächlich auf dem Bahnsteig seines Heimatstädtchens geschah, war alles andere als der erwartete Knall. Es begann nämlich mit einem festen Händedruck der (extra für ihn!) gutgekleideten Frauen, nachdem er sie einander vorgestellt und anschließend beiden auf ihre zusammengepreßten Lippen einen Kuß gegeben hatte. Dann setzte ein schnelles, beinah lautloses Verpuffen aller stärkeren Regungen ein, die dem Menschen für einen solch extravaganten Augenblick vorbehalten sind.
Zuerst entwich die Luft aus der Neugier füreinander, dann schrumpfte die Verzwungenheit, falsche Rücksichten erschlafften, die Enttäuschung war bald flach, und jeder von ihnen legte eine wundersam lasche Selbstbeherrschung an den Tag. Was also wirklich geschah, kaum standen sie zu dritt voreinander, war, daß jeder das Interesse am anderen verlor. Buchstäblich mit einem kurzen Auspusten entwich den dreien die heiße Luft. Auch das brennende Interesse, mit dem er die beiden und mit dem jede von ihnen ihn erwartet hatte, war plötzlich erloschen. Vielleicht weil jeder — um den Skandal, den Knall zu vermeiden — sich blitzschnell hinter einem Panzerglas von Unaufrichtigkeit in Sicherheit gebracht hatte? Vielleicht aber auch, weil sie so, mit nicht mehr so brennendem Interesse, recht gut miteinander auskamen. Jedenfalls über das Wochenende. Die drei Tage waren keine aufreibende Zeit, und danach war alles vorbei.
*
Nichts war mehr erhalten von Bernd Schierers so kluger und bildprächtiger Aufführung von Ferdinand Raimunds ›Der Alpenkönig und der Menschenfeind‹, einer Münchner Inszenierung aus dem Jahr 1973. Kein Video, keine TV-Aufzeichnung, nur einige wenige Fotos. Nun gab es Jahre später einen jungen Theaterbegeisterten, dem sein Vater aus einem Archivbuch eine kurze Beschreibung der Aufführung vorgelesen hatte, ohne sie jedoch selbst gesehen zu haben.
Der Junge macht sich also auf den Weg und will die wundersame Aufführung finden in den Sinnen derer, die sie noch gesehen haben. Er trifft etliche Zeitzeugen, Augenzeugen, die ihm mehr oder weniger oberflächliche Auskünfte geben. Mitwirkende sogar, wenngleich nicht die beiden Hauptdarsteller, die wie auch der Regisseur mittlerweile verstorben sind. Die Beschreibungen und Erinnerungen, die einige Zuschauer von damals mitteilen, stellen ihm hauptsächlich die sich erinnernden Menschen selbst vor und liefern wenig anschauliches Material zu der gesuchten Aufführung.
Allerdings findet er eine Frau, die inzwischen schon zwei Enkelkinder hat, diese Aufführung kurz vor ihrer Eheschließung sah und für die der Abend immer seine besondere Bedeutung behielt.
»Theater war für mich eine Passion. Ich brauchte am Abend jemanden, mit dem ich mich identifizieren konnte. Egal, ob Hamlet oder die Frau vom Meer. Ich ging nur aus Identifikationsnot ins Theater. Die Aufführung aber, der Sie auf der Spur sind, hatte noch eine andere Wirkung. Sie ist in mir ganz lebendig! Ich weiß noch, dieser Theaterabend, als wär’s ein ganzer Lebensabend voll Theater! Dies Märchen, diese komische Menschenansicht, diese heimliche Verzauberung … Seit diesem Abend begann meine Langeweile im gewöhnlichen Leben. In meinem Beruf, auf meinen Reisen, in meiner Ehe, sogar mit meinen Kindern. Ich habe mich in einem fort nur noch langweilen müssen. Seit dieser Aufführung, sie hat mich verzaubert. Oder verhext. Seitdem muß ich mich immerzu erinnern, an jeden Auftritt und jedes Couplet. Nicht nur das, sondern ich muß mich erinnern überhaupt, meine Gedanken schweifen von allem ab, was gerade geschieht, ziehen dahin zu tausenderlei vergangenen Dingen. Seit diesem Abend ergriff mich eine unerschöpfliche Langeweile vor Mensch und Gegenwart. Ich hab’s nicht genossen damals, ich bin betäubt worden. Die Aufführung war im Grunde ein verlockendes, gut verschnürtes Paket. Ein echtes Angebot. Aber als ich zum ersten Mal daran dachte, was ich da gesehen hatte, Alpenkönig, Menschenfeind, Geisterchöre, ja, da sprang das Paket auf, und der ganze Zauber fiel über mich her.«
*
Der Anfang der Erzählung überblickt das Ganze. Der erste Satz weiß mehr als der Autor, zumal wenn er kurz und verschwiegen ist. Der Erzähler beginnt: das heißt, er macht dem im Anfang ruhenden Ende Beine. Der Anfang kennt die ganze Geschichte.
Es sind ihre zitternden, schlanken Hände, die mit blutrotlackierten Nagelspitzen zärtlich den Rücken des Umarmten kratzen, den Reiz einer leichten Verletzung andeuten, nur um ihn aufs neue zu erregen.
Und es sind dieselben Hände, die am folgenden Tag heftig schlotterten, als sie wieder und wieder an den Kanten ihres Entwurf-Papiers entlangfuhren, um es zum glatt abschließenden Block zusammenzufassen, der wegen der unruhigen Finger trotzdem verrutschte. Ein Zittern, das sie nicht unterdrücken konnte, drüben in Dankwarts Büro, wo ihre einzige Reaktion in zwei glucksenden Schluchzern und im Beben der Hände sich zeigte, die immerzu ordnen, einfassen, zusammenhalten wollten, was keinen Wert mehr besaß, das Papier, das ihr der Teamleiter soeben zurückgereicht hatte, den Entwurf, den er »für letztlich unbefriedigend« erklärte, die Studie, an der sie über Monate gearbeitet hatte und die ihr gerade in den letzten Tagen das Herz höher schlagen ließ: Stolz, Zuversicht, Gipfelstürmerglück. Kein Wunder also, daß sie mit schlecht gespielter Bescheidenheit dem Verantwortlichen ihr »Werk« übergeben hatte … Wie peinlich jetzt, den verfrühten Jubel, diese falsche Überlegenheit gefühlt zu haben, jetzt, da sie die Blätter wie Kehricht, etwas vollkommen Wertloses, in den zitternden Händen trägt, während sie aus seinem Zimmer zurückkehrt an ihren Arbeitsplatz.
Eine andere Person, weniger schön, weniger gewohnt an Kompliment und Schmeichelei, hätte wahrscheinlich aus plumpem Selbstbewußtsein gegen die Ablehnung der Arbeit protestiert, sie als erbärmlich und inkompetent zurückgewiesen. Hätte ihre Enttäuschung in Zorn und Schmähung gegen den Frauenverächter umgemünzt, der es wagte, sich ein solch infames Urteil anzumaßen.
Sie hingegen, mit ihren feinen verstörten Händen, vollzog jeden seiner Einwände nach, machte sich die Einwände des Herrn — ja, Herr über sie war er aufgrund seiner mächtigen Ablehnung geworden — selber zu eigen und übertraf sie noch. Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Seine Einwände waren stichhaltig. Tatsächlich hatte sie zuviele Gesichtspunkte außer acht gelassen. Und es war für lange Wochen die einzige Quelle ihres Glücks gewesen: daß ihr keine Zweifel gekommen waren. Wie konnte diese teuflische Zweifelsfreiheit von ihr Besitz ergreifen? Es muß wie eine Geistesstörung, eine Krankheit gewesen sein, die Krankheit »Zweifelsfreiheit«. Nur damit einmal, endlich einmal in ihrem vierzigsten Jahr das Glück freie Bahn hatte, ungehindert, ungeschmälert in ihr aufsteigen konnte. Nur damit einmal ein Hochgefühl bei ihr zu Gast sein durfte und das Gewebe der kühlen, kleinlichen, betulichen Regungen zerriß.
Nun, wie sich herausstellte, war die Stärkung ihres Gemüts bloß von kurzer Dauer gewesen und ging schließlich auf Kosten ihres beruflichen Ansehens.
Sie hatte den Entwurf so angelegt, daß, wie ihr schien, eine zwingende Lösung sich abzeichnete bei den Einfuhrzöllen für osteuropäische Länder.
Die Liebe zu ihrer Studie hatte das Verdikt, dem diese zum Opfer gefallen war, nicht überstanden. Sie verachtete sie jetzt. Punkt für Punkt ging ihr die Verschwommenheit ihrer Argumentation auf, ebenso wie die zweifelhaften Kriterien, die sie bei ihrer Untersuchung angewendet hatte. Es war weitaus schlimmer, als es der Häuptling bei oberflächlicher Lektüre bemerkt hatte. Ihr allein oblag es, das gesamte Ausmaß der Schleichwege bloßzulegen, auf denen sie um »den heißen Brei« herumgestrichen war.
Ihre Hände, die schönen Waffen der Zärtlichkeit, jetzt von Unruhe entstellt, flatterten immer noch um das entwertete Papier, wie jemand im Finsteren an der Wand nach einem Lichtschalter tastet. Die Begeisterung, in die ihre Arbeit sie versetzt hatte, wurde ihr immer rätselhafter und schändlicher. Gleichzeitig verspürte sie das Bedürfnis — hielt sie es für geboten — drängte es sie — mußte sie wohl oder übel — konnte sie kaum widerstehen, ins Zimmer des Häuptlings zurückzukehren, um sich bei ihm zu entschuldigen für die Inanspruchnahme, die sie ihm mit der Lektüre ihres abwegigen Papiers zugemutet hatte. Aber diesem Drängen gab sie vorerst nicht nach. Auch wenn sich deutlich eine gewisse List, die List der Selbstkritik anbahnte, sah sie die Stunde noch nicht gekommen, ihm mit einer vorgetäuschten Geste der Unterwerfung neu zu begegnen. Obgleich sich ihrem Gefühl nach ein Einlenken ihres Vorgesetzten bereits andeutete. Es fehlte nur ein Geringes an Selbsttäuschung, und es wäre ihr der Widerruf seines Urteils als kurz bevorstehend erschienen, und darin hätte sie wohl zu einer neuen Zweifelsfreiheit gefunden.
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Aus einer kleinen, einer Luftfahrtschau beiwohnenden, den Kopf in den Nacken hebenden, gen Himmel blickenden Menge wird ein Staunender von drei Anorakmännern herausgeholt und beiseitegenommen. Es entsteht ein kurzes Wortgeplänkel, dann lassen die Herausholer den Herausgeholten stehen und ziehen wieder ab. Der Mann bleibt mit gesenktem Kopf an seinem Platz, ohne noch einmal den Blick nach oben zu richten, wo Loopings und Schrauben, Fallschirmsprünge und Drohnenritte jahrmarktlich den Himmel verzieren.
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Wie gesagt, die wahre Zukunftsvision liefe darauf hinaus, daß Menschen eines Tages jegliches Interesse an der Zukunft verloren haben. Sie suchen dann nicht mehr nach den »Verbesserungen«, die in Aussicht stehenden bekümmern sie nicht. Sie wollen nichts davon hören. Sie leben in einer Sphäre ohne Voraus und Voran. Sie meiden das schnelle Denken zugunsten eines langsam kreisenden Erfassens ihrer Lage. Was ihnen zur Verfügung steht, erscheint ihnen ausreichend und ausreichend geregelt. Sie nutzen und beherrschen die bleibende, endgültige Gegebenheit. Mit anderen Worten, man sagt dann: Ich sehe nichts mehr kommen. Das Anderswerden abgeklungen. Es regelt sich. Es wird sich finden. Das Geschehen sorgt für sich selbst.
Befreit! Endlich befreit von der Zukunft!
In dieser Ära tritt sie aus dem Haus, folgt ihrem Mann, nur ein paar Schritte, dann kehrt sie um und bleibt stehen in der halbgeöffneten Tür. Es folgt nun ein typischer Wortwechsel; die von jedem Gedanken an Zukunft befreite Sprechweise pflegt Wiederholung und Stagnation, Kehren und Schleifen, es ist ein beinahe stillstehender Wortwechsel, in dem nichts erzielt wird oder fortschreitet. Die Worte sind eher wie Haltegebote, um sich des anderen Gegenwart, sich seiner Gegebenheit aufs neue zu versichern.
Wolltest du mir nicht etwas sagen? fragt sie mehrmals ihren Mann.
DER MANN Gut. Ich sage dir’s. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.
DIE FRAU Weshalb?
DER MANN Ich kann mich nicht mehr erinnern.
DIE FRAU Wann gab es denn das letzte Mal einen Vorfall zwischen uns?
DER MANN Du schließt die Tür nicht?
DIE FRAU Nein. ich schließe die Tür nicht ab. Ich bin noch unentschieden. Ich würde das gern nochmal hören. ich glaube, ich habe nicht richtig gehört. Ich könnte dir eine Geschichte erzählen.
DER MANN Ich könnte mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Hast du verstanden?
DIE FRAU Na ja. Ich auch nicht.
DER MANN Dann schließ jetzt ab. Ist denn etwas vorgefallen zwischen uns? Ist doch gar nichts vorgefallen. Wann ist das letzte Mal was vorgefallen zwischen uns? Ich kann mich nicht erinnern.
DIE FRAU Ich dachte, du hättest mir etwas zu sagen, bevor wir das Haus verlassen. Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Nur so. Das kann doch nicht so schwer sein.
DER MANN Sowas möchte ich auch mal hören.
DIE FRAU Hab ich doch gerade gesagt.
DER MANN Dann schließ die Tür ab.
DIE FRAU Ich bin nicht sicher, ob ich alles mitbekommen habe.
DER MANN Du solltest dich irgendwann entscheiden. Wir könnten sehr gut zusammen gehen. Aber ich bin mir sicher, daß ich auch allein gut gehen werde. Ich bin sehr gern mit dir unterwegs.
DIE FRAU Ich erwarte auch was. Bevor’s dazu kommt.
DER MANN Ist das der richtige Schlüssel?
DIE FRAU Das laß meine Sorge sein.
DER MANN Ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen.
DIE FRAU Was denn. Paßt doch. Ich kann mir manchmal ein ganz anderes Leben mit dir vorstellen.
DER MANN Das hast du gesagt.
DIE FRAU Wer sonst. Von dir kommt ja nichts. Was tust du da?
DER MANN Gibt nicht mehr viel zu tun.
*
Von Entbehrung hart, von Sorge mager ihr Gesicht, offen und furchtlos. Das kranke Kind, der schwadronierende Mann, die zehrende Arbeit, das aufgesteckte leblose Haar. Die tiefe Hast, um nichts als zu überleben. Um nicht abzutrudeln, nicht gleichgültig zu werden. Sich ja nicht gehenlassen, nicht ein einziges Mal, denn sogleich würde das unaufhaltsame Sinken beginnen. Ganz dünn geworden ist ihre Haut unter der Eile. Gelassen wartet nebenan ein neues Pech auf sie …
Wie gern wäre sie einmal nicht wiederzuerkennen! Einmal nicht wiederzuerkennen im langen Abendkleid. Jadegrün und rückenfrei.
*
Winterlich verliebt, ein Mal nur, das erste … die kalte Haut neben dem warmen Mund … jemanden zu wollen des Mantelgeruchs im Frost wegen, der geröteten Nasenflügel und der eiskalten Hand, die bald auf einem warmen Bauch liegen wird … Daß man den Atem sieht, den man verschlingen möchte! Die ganze heiße Statur, die da draußen in klirrender Kälte geht … um der Verhüllung willen die schwarzen Strümpfe, der unechte Pelzkragen, Kopftuch und Schal, nichts frei, um der Entdeckung willen, die vielen Kleidungsstücke, mit der unwahrscheinlichen Nacktheit darin, wenn all das, endlich, im Zimmer, ausgezogen ist und über der Stuhllehne liegt, die Strumpfhose (nicht Strümpfe!), die Stiefelsocken, T-Shirt und Pullover … der Haufe, den die kleine Nacktheit trug.
Er sah bald, wie ihr Lächeln, das freundlich gefällige, verschwand, in der Lust die Lippen schief, die Augen jede Regung überwachend. Sie schenkte sich ungeschickt, als müsse sie ihm ein erstes Mal vorspielen. Oder so etwas zumindest markieren, wie ein Schauspieler, der eine Szene zuerst markiert, bevor er sie wirklich spielt. Und der Firnis von ernster Bedeutung, der über ihrem Gesicht lag, wurde ein wenig brüchig, ein Anflug von Ironie trat hervor, und der schien zu sagen: ich tue es gern, aber es ist vielleicht nicht mein Bestes. Beteiligt waren gleichwohl weder Kühle noch Sprödheit, weder Vortäuschung noch gleichgültiges Geschehenlassen. Nur war es ein wenig so wie bei jemandem, der ein Geschenk übergibt und meint, es kommentieren zu müssen, weil er fürchtet, daß es sich nicht von selbst versteht.
*
Er stand für eine Konzertkarte an in einer sehr langen Reihe. Sein Vordermann drehte sich zu ihm um und bat, den Platz für ihn freizuhalten, er komme gleich zurück. Er verschwand, und kurz darauf kam ein anderer Mann, der sagte, er sei ein guter Freund desjenigen, der eben hier gestanden habe und wolle unterdessen für ihn den Platz halten. Auch dieser Mann drehte sich nach einer Weile um mit der Bemerkung, er komme gleich zurück, der Hintermann möge bitte den Platz für ihn freihalten. »Ich habe vor Ihnen gestanden!« hob er mahnend hervor. Kurz darauf kam aber ein dritter Mann und behauptete, ein guter Freund dessen zu sein, der eben noch vor dem ewigen Hintermann gestanden sei und für den er den Platz freizuhalten versprochen habe. Auch er verschwand bald wieder und ein vierter Freund kam und schließlich ein nächster und wieder ein nächster. Die Zeit verging im ständigen Wechsel der Platzhalterschaft, und als der Mann, der ursprüngliche Platzfreihalter, gerade vor der Konzertkasse angelangt war, indem nämlich der letzte der Freunde für kurz verschwunden und noch kein Ersatz aufgetaucht war, er also gerade dabei war, sein Portemonnaie zu zücken und über den freigehaltenen Platz hinweg ein Billett zu lösen, da kehrte eilends der erste und ursprüngliche Vordermann zurück, schob sich zwischen Platzfreihalter und Kasse und löste die letzte überhaupt erhältliche Konzertkarte.
Der Käufer war sich der bitteren Ironie bewußt, die es für seinen Hintermann bedeuten mußte, so lange gewartet, ihm den Vortritt bis zum letzten Augenblick freigehalten zu haben, um dann am Ende leer auszugehen. Er entschuldigte sich linkisch und grinsend für sein ›unverdientes Glück‹, wie er sich ausdrückte. Der Hintermann zuckte die Schultern und erwiderte, daß ihm das Pech schon lange an den Fersen klebe.
Er war indes neugierig zu erfahren, was es denn auf sich habe mit den vielen Freunden, wohl einem runden Dutzend, das den glücklichen Käufer stellvertretend im Warten abgelöst habe und nun ebenfalls leer ausgegangen sei?
Der Mann zeigte sich verwundert und erklärte, er habe es in seinem ganzen Leben nicht zu einem einzigen zuverlässigen Freund gebracht. Es müsse sich dabei wohl um eine Bande von Vortäuschern handeln, möglicherweise einen Schwarzmarkthändler-Ring, der sich unauffällig an seiner Stelle in die Reihe zu schieben suchte.
»Dann hätte ich niemanden vorlassen sollen!« sagte der Leerausgegangene nachdenklich.
»Eigentlich nicht, denn Sie hatten mir ja zugesagt, den Platz vor Ihnen für mich freizuhalten.«
»Stellen Sie sich vor, Sie wären einen Augenblick früher gekommen und hätten den letzten Ihrer falschen Freunde noch angetroffen: Sie hätten mich für wortbrüchig oder für einen Schwächling halten müssen.«
»Ich hätte mich in jedem Falle wieder vor Sie hingestellt.«
»Aber für mich hätte es dann geheißen: entweder oder. Entweder Sie sind es oder Ihr falscher Freund ist es, dem der Platz vor mir gebührt. Zweien auf einmal hätte ich keinen Vortritt erlaubt. Letztlich wäre die Frage dann wohl mit Armeskräften entschieden worden.«
Der Vordermann betrachtete die schmächtige Gestalt des Platzfreihalters und sagte: »Seien Sie also froh, daß das unverdiente Glück, das ich hatte, Sie vor einer solchen Entscheidung bewahrt hat.«
»Sie haben recht. Ich hätte es vermutlich nicht nur mit einem einzelnen, sondern eben mit einem ganzen Ring von falschen Freunden aufnehmen müssen, denen ich allen irrtümlicherweise die Chance bot, vor mir an eine Karte zu gelangen.«
»Und doch taten Sie es in dem Bewußtsein, immer nur mir den Platz freizuhalten, wie es zwischen uns verabredet war.«
»Sicherlich. Aber dieser Ring von Freunden hatte mich derart geblendet, er glänzte in meiner Seele, ich betrachtete ihn voller Neid und Wärme …«
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Es ist ein junger Architekt, der schlaflos nachts sein Bett verläßt und im unteren Stockwerk sein Büro aufsucht. Auf seinem Arbeitstisch liegt ein Stapel von Computerausdrucken mit der Planzeichnung für ein großes städtisches Gebäude. Er beginnt die Papiere zu falten, in Kuverts zu stecken, zu frankieren und mit Adressen zu bekleben. Es gibt auf der Welt sicher ein Dutzend zuständige Stellen, an die er sich wenden könnte mit seinen Ideen für ein großes Gebäude.
Nicht viel später erscheint seine schlaftrunkene Frau und setzt sich in einen Sessel neben dem Bücherregal. Sie zieht ihre Beine unter das weiße Nachthemd, das ihre Schultern freigibt. Sie blinzelt in das Morgengrauen hinaus und ist nur gekommen, um mit ihm ein wenig Hoffnung zu schöpfen. Und als ihr wieder die Augenlider sinken, sagt ihr Mann:
»Weißt du, ich stand immer auf der Seite der Marionetten. Ein ewiger Schnürboden ist mir der weite Himmel. Das hat zur Folge, daß mir eine dünne Schnur, fast unsichtbar, ums Handgelenk gebunden ist … Der Menschen-Spieler sitzt in himmlischer Höhe auf seiner Beleuchtergalerie und reißt mir manchmal, wenn ihm danach ist, den Arm hoch. Gerade wenn ich mich vielleicht sehr ernsthaft mit jemandem unterhalte oder unserem Kind die Wange streichle, plötzlich wird mir der Arm in die Höhe gezogen. Und wenn ich etwa versuche, aufgeschreckt, entsetzt, im Lebenshintergrund mich zu verbergen, dann werde ich unverzüglich an der Schnur zurückgezogen in den Vordergrund.«
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Ein Bettler saß unter dem kleinen Mond seines Zinntellers, den er über seinen Hinterkopf hob und über der eigenen Dunkelheit aufgehen ließ. Derselbe Teller, auf dem er sonst Almosen sammelte oder Brocken aus der Armenküche zerlegte mit verbogener Gabel.
Zählen, zählen. Reste zählen, Menschen zählen, sich verzählen.
Er in seinem Hochwassermäntelchen, die Ärmel hören schon vorm Handgelenk auf, die Manschetten-Ränder lösen sich in krause Fäden. Von seinem Kopf steht ein Haar-Gockel ab vom unschmiegsamen Schlaf auf Bänken und Stufen. Fährt sich ins Haar und greift nur Laub. Faßt sich an den Mund und pflückt feuchte Stengel von der Zunge. Sein Traumhaus ist das zerbrochene Gemäuer, die Ruine, der Ort des Evakuierten, offenstehend, verlassen, sein Gelaß: der seit langem geräumte Raum.
Ein solch abgerissener und an allem Gewöhnlichen unbeteiligter Mensch besaß nur die eine Leidenschaft und kannte nur die eine Manie, nämlich den machtvollen Staat, die souveräne Gewalt. Er dachte Macht und nichts als Macht. Und zwar anders als die, die nur um ihre Vorteile, um den Erhalt ihrer Privilegien besorgt sind, er besaß ja keine.
Es ist so, daß die Augen leuchten vor Begier nach herrschaftlicher Regierung, während der Leib dünstet und schwelt. Er wollte lediglich in der öffentlichen Bibliothek hocken dürfen, und es kümmerte ihn nicht, wenn andere Besucher aus seiner Nähe wichen, ihren Platz räumten, ihre Bücher und Zettel zusammenpackten, um möglichst entfernt vom schlechten Geruch an einem anderen Tisch zu sitzen.
Nach außen hin zu keiner verbindlichen Handlung bereit, als soziales Wesen mit Nein erfüllt bis über den Kragenrand, genoß er unter der Schädeldecke das Treiben seines Bewußtseins bis in dessen geheimsten Befehle, feinsten Verästelungen, Salven und Sprünge. Nur leider: An Ordnung fehlte es dort ganz und gar!
Schuld gab er den unbeaufsichtigten Ideen, die machten, daß die erwünschten Regime ihm entglitten wie der Almosen-Teller den ermüdeten Händen. Er sagte sich: Ließe ich mich etwas näher ein auf den Kram dieser Welt, so würde ich wahrscheinlich einsehen, daß wir genug haben mit allem, was nun einmal vorhanden ist. Vorhanden zu unserem Gefallen wie zu unserem Erschrecken, da und vollkommen genug. Sobald mir das Genügen zum Prinzip würde, stünde ich wieder mit den Füßen auf festem Grund. Aber wie gesagt: Die Ideen, die Ideen köpfen die Menschen!
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In der U- Bahn ein rundes Like-Gesicht, gepiercte Lippe und Zungenspitze, sie lacht, lacht, um die Freundin neben sich günstig zu stimmen. Ja, ich heirate … ich heirate einen Teil vom Ganzen. Den Maiki!
Die andere weiß nicht genau … Den mit den langen schwarzen Haaren? Sie deutet einen Haarfall bis auf die Schultern an.
Und warum?
Die lachende Heiratskandidatin wird so durchsichtig, daß man schon jetzt erkennt, wie sie ihr neues Hobby, die Ehe, pflegen wird, zum Beispiel mit einer alle früheren Verbindungen löschenden Gattenanhänglichkeit.
Doch am Ende dann statt Lachen die Tränen, der heiße Kummer wegen dieser mißlungenen Freizeitbeschäftigung Ehe. Wie durch ein zeitliches Fernrohr gesehen, erblickt sie auf einmal lauter Lügen auf Maikis geselligem Gesicht.
Dann aber sagt sie: Es ist eben für ihn steuerlich günstiger. Wir haben zwei Stunden zusammengesessen, und ich hab mich lustig über seinen Antrag gemacht. Aber er wurde rot und sagte, es ist mein voller Ernst. Und da sag ich: Wenn es dein voller Ernst ist, dann mach ich jetzt einen Witz: Ich sag Ja.
Sie war dabei, das alles passend zu erfinden — nur um die Reaktion der Freundin zu prüfen, ob sich’s denn gut anließe, die Steuer, die Antrag-Szene — und weil ich glaube, daß wir uns gut verstehen. Heftiges, vergluckstes Lachen. Aus dem die etwas mißtrauische Freundin schließen soll, daß sie, das Like-Gesicht, es war, die treibende Kraft, die den Maiki zur Heirat drängte. Es gefiel ihr, bei der Freundin in diesem Anschein zu stehen.
Zu Ostern, ein Jahr später, das sorgfältig gemachte Bett, das aufgerichtete Kissen mit Knick, das Plaid über dem Plumeau, darauf das große Blatt Papier mit den Abschiedsworten, die schon bei tausend Abschieden dieselben waren.
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Die heilige Isodora lebte im 4. nachchristlichen Jahrhundert im Kloster Tabenia in Gemeinschaft von vierhundert Frauen. Ihre einzige Sorge war es, immer verachtet zu werden. Sie trug Lumpen um den Kopf, nährte sich von Brotkrumen, die sie mit einem Schwamm vom Boden hob, und trank Spülwasser. Aus Liebe zur Demut und Selbsterniedrigung gab sie vor, verrückt und vom Dämon besessen zu sein, eine heilige Simulantin. Eine Närrin in Christo, Idiotin und Messie-Frau, eine Heilige. Bei einem Besuch des berühmten Einsiedlers Pjoter gestanden viele Frauen, daß sie die Närrin gequält und mißhandelt hatten. Er aber fiel der Närrin zu Füßen und ließ sich segnen. Nachdem daraufhin im Kloster die Verachtung in Verehrung umschlug, verließ die Heilige auf der Stelle die Stätte, und ihre Spuren verloren sich im Nirgendwo.
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Der Dichter Rilke und Elena von Wangenheim. In der Zeitung hatte bereits gestanden, der Dichter habe eine junge Adelige geschwängert. Elena ließ ihn wissen: Sie sei schwanger, aber nicht von ihm. Ihr Körper habe ja den seinen bis auf den heutigen Tag nicht ein einziges Mal empfangen.
Sie könne also nur schwanger sein von ihrem Mann, meinte der Dichter. Wann ihr Mann sie denn zuletzt berührt habe?
Sie könne sich nicht erinnern.
Er jedenfalls, Rilke, sei seit Jahresfrist mit keiner anderen adligen Frau zusammengewesen.
Zumindest das hörte sie mit Genugtuung.
Ob es nicht möglich sei, daß sich der Samen eines Dichters einer Frau auf eine andere Art einpflanze als beim gewöhnlichen Mann?
Er mußte lächeln. Es sei ihm allenfalls vorstellbar, daß die künstlich und durchaus kunstvoll ausgehaltene Distanz zwischen ihnen zu einer Art eingebildeter Schwangerschaft bei ihr geführt habe.
Von Einbildung könne keine Rede sein; sie trage aus wie jede gewöhnlich befruchtete Frau.
Eine gewöhnliche Befruchtung habe aber zwischen ihnen nie stattgefunden.
Dann sei sie eben auf ungewöhnliche Weise geschehen. Wieso aber stand es bereits in der Zeitung? Und treffe im Ergebnis sogar zu?
Die Nachricht höre er zum ersten Mal. Wäre er mehr Hypochonder, als er es tatsächlich sei, käme er nicht umhin, an ein Komplott, an eine gezielte Perfidie zu denken. Aber dann stünde sowohl sie gegen ihn wie er gegen sie in einem fatalen Zwielicht.
Und nach einer Pause fügte er hinzu: »Ehe das vorerst Ungeklärte uns gegenseitig zu verdächtigen Personen macht, verabschieden wir es lieber ins endgültig Unerklärliche und setzen unsere geduldige, langsame Annäherung fort.«
Sie fügte hinzu: Es sei möglicherweise zu einer gewissen Verwirrung ihrer beider Schritte gekommen, bei der sich der abschließende Schritt ihres Aufeinanderzugehens unter die vielen vorläufigen gemischt habe. In deren Schutz, im Schutz der unschuldigen Schritte, habe sich dann unauffällig, in Unschuld verkleidet, der letzte vollzogen. Notgedrungen, aber gewiß nicht notdürftig.
»Es heißt, daß Sie in diesen Jahren oft einen Eimer mit klarem Wasser neben Ihr Bett stellen? So wie man das zuweilen als Vorsichtsmaßnahme bei einem Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen zu tun pflegt.«
»Es könnte ja sein, daß das Feuer in meinem Herzen herausspringt und meine Kleider in Flammen setzt. Zu meiner Sicherheit brauche ich etwas Wasser in der Nähe.«
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Beim Kleinkind gibt es kein Lächeln, das zur Grimasse erstarrt. Das Lächeln ist noch kein soziales Instrument wie bei dem, der schon Sprache hat. Vielmehr ist es ein für sich selbst sprechender Ausdruck, der ein Vergnügen anzeigt und nur sagen will, man möge es ihm noch einmal bereiten. Es ist weder dem Gruß noch der archaischen Vorsicht beigeordnet, den Fremden mit Lächeln auf den Lippen als möglichen Feind zu besänftigen. Es ist vielmehr autonom und will außer der Wiederholung des Vergnügens nichts anderes. Hätte man eine besondere Dolmetscherin, die laufend des Kleinkinds vielfältige Regungen in Erwachsenenworte übersetzte, so würde sie jetzt sagen: »Wie angenehm! Denken Sie nur: wie angenehm ist mir zumute!« Diese Frau, so stellt man sichs vor, spräche mit einer nüchternen, ein wenig brüchigen Stimme wie eine erfahrene Konferenz-Dolmetscherin. In freundlich unbeteiligter Diktion würde sie aus dem Innersten des Kindes berichten.
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Die beiden trafen sich nach einer Woche zum zweiten Mal. »Ich — « sagten sie gleichzeitig und stockten, um nicht einander ins Wort zu fallen.
»Bitte, du zuerst!« Und sie sagte: »Ich liebe dich.« Er indessen, an zweiter Stelle, brachte denselben Satz, den er in der Gleichzeitigkeit schon auf den Lippen hatte, nicht mehr heraus, er entgleiste zu einem banalen: »Bist du dir sicher?«
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In einer Bar trat ein Mann mit aschblondem Haar auf ihn zu mit den Worten: »Man sagt, du habest dich lächerlich gemacht. Der Ausgang ins Freie war ein hohes Eschenholz-Tor. Du hast es nicht aufstoßen können. Du hast nichts öffnen können, das vor dir verschlossen war. Keine Frau, keinen Wandschrank, keinen Schlagbaum. Nie hast du dich in deine Worte hinein vergessen. Du hast sie einzeln hervorgestoßen. Du hast immer gewußt, was du willst. Aber einen Willen, ohne ihn zu wissen, hast du nie besessen. Mit ihm gewiß hättest du jedes Tor aufgestoßen.«
Nachdem er ihm so seine Geringschätzung ausgesprochen hatte, gab er dem Beleidigten mit beiden Händen einen Stoß gegen die Brust, als wollte er ihn, im Sich-Abwenden, für immer von der Bildfläche stoßen.
Der Mann neigte den Kopf zwischen die hängenden Schultern und schüttelte ihn, er war jetzt zu keiner Selbstbehauptung, keinem Aufbegehren fähig.
Aber der Aschblonde kam zurück und sagte zu dem Gestoßenen: »Ich habe dich immer bewundert um der Demütigungen willen, die du ertrugst. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine Aura um sich hat, die allein aus dem Leuchten der Erniedrigungen und der erduldeten Bosheiten besteht!«
»Laß uns nicht weiter davon sprechen«, sagte der Bewunderte.
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Eine Frau, um die Sechzig vielleicht, etwas rundlich, tabakbraune Lederjacke, die ergrauten Haare zu einem kleinen Dutt am Hinterkopf verknotet, fährt in einem Bus die Straße entlang, in der sie aussteigen soll. Draußen fliegen die Hausnummern vorbei, 172, Nähe Tellmerplatz, es muß die nächste Station sein.
Sie steht umrundet von Gepäck, kleineren und größeren Stücken, ohne fremde Hilfe käme sie mit der ganzen Habe so schnell nicht hinaus. Nach Auflösung des Elternhauses hat sie eine Menge Kram zusammengerafft, vieles, worum sie die Schwester gebeten hat, bei der sie jetzt ihre Fuhre abladen wird. Inzwischen verflucht sie ihre Hilfsbereitschaft. Die linke Hand spielt nervös an dem Anhänger einer Reisetasche. Sie zählt Koffer, Beutel, Taschen durch, rückt sie näher zusammen. Wen fragen, ob er beim Aussteigen hilft? Die beiden angetrunkenen Kahlschädel doch wohl nicht. Die Frau mit Kinderwagen auch nicht, den zittrigen Spießer dort …? Beim Einsteigen hat ihr ein Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe geholfen, ein zeitweiliger Begleiter des Busfahrers. Sie will im Bus niemanden ansprechen. Sie rechnet mit jemandem, der einsteigen will und zuvor die Gepäckstücke entgegennimmt. Sie riecht auf einmal penetrant das Leder der eigenen Jacke, so stark, als besäße sie die Witterung eines Tiers. »Ich habe mich zu jung angezogen.« Mit den Fingerspitzen betastet sie die Narben im Leder und breitet die Arme aus über das Reich ihres Gepäcks. Dann ein Augenblick, in dem Unruhe, Anspannung, Besorgnis umschlagen in Müdigkeit und Gleichgültigkeit. »Wird schon schiefgehen.«
Man kann auch unter einer Salve von Selbstvorwürfen zusammenbrechen. Wenn du dich nur ein wenig deutlicher äußern könntest. Wenn du nicht so wehleidig wärst. Wozu die Menschenscheu? Solltest dich ein wenig mehr mit den Leuten um dich herum beschäftigen. Zeig dich mal interessiert an wem. Aber nein, wer dir auch vor Augen kommt, ist nicht dein Fall. Jeden Tag versuchst du alle vorangegangenen Tage abzuschütteln, um einen nie dagewesenen Anfang zu machen. Doch der Tag wird um nichts neuer, gründlicher als die vorigen, vorläufigen.
Und sie schob, sie bugsierte ihre Sachen an die Bustür. Der Kampf begann. Die Fahrgäste rückten zum Ausstieg. Sie räumten ihr und ihrer Habe keinen Platz ein.
Müde erhob sie die Stimme und meldete, daß sie aussteigen müsse an der nächsten Station. Niemand rührte sich. Sie schob ihr Gepäck mit Händen und Knien gegen die Beine der zum Ausstieg Versammelten. Sie wurde von einem Rumoren aggressiver Ungeduld vermahnt, verschaffte sich trotzdem gewaltsam Platz, wofür sie von den Umstehenden laute Zurechtweisungen einstecken mußte. Sie erwiderte ungehalten, wobei sie das Maß ihrer Beschimpfungen nicht mehr unter Kontrolle hatte.
Es ging ausgesprochen ordinär hin und her, alles nur wegen ihrer sperrigen Fracht, alles nur der Schwester zuliebe.
Der Bus hielt, die Passagiere drängten sich vor, schoben die Beladene beiseite und traten ihr Gepäck aus dem Weg. Keiner half. Dafür hatte sie sich zu verhaßt gemacht mit ihren unflätigen Ausrufen. Und gleich nochmal: In München seien die Leute so viel menschlicher, in Berlin nur widerwärtiges Gesocks, sie habe es immer gewußt! Kaum hatte sie mit dem Ausladen begonnen, wurde sie auch vom Busfahrer über den Bordlautsprecher ermahnt: Dies sei ein Bus für Passagiere und kein Güterwagen.
In ihrer hilflosen Lage hatte sie jede Umgänglichkeit mit anderen Menschen verloren.
Und während sie noch immer Teile ihrer Habe gegen den Haufen der Zusteigenden nach draußen trug, schloß plötzlich, kaum war der letzte Zusteigende im Bus, die Tür, ohne daß die verzweifelte Frau die Reste ihres Gepäcks hätte nach draußen schaffen können. Da bekam sie einen Schreikrampf, bahnte sich einen Weg zum Fahrersitz, der Bus rollte an, die Frau kreischte dem Fahrer ins Gesicht: Schwein, du Schwein, du Nazischwein … Anhalten, anhalten! Meine Sachen … Und plötzlich griff sie zu dem roten Hämmerchen, mit dem man im Notfall die Fenster öffnen sollte, und schlug damit gegen die Windschutzscheibe vor dem Busfahrer.
Der brachte — einfach der Ordnung gemäß — das Fahrzeug zum Stehen, rang den Arm der zuschlagenden Frau nieder, so daß sie vor Schmerzen schrie, biß und trat. Dann rief er über Funk die Polizei, bat alle Passagiere auszusteigen und auf den nächsten Bus zu warten.
Die Frau lief den Aussteigenden hinterher zum mittleren Ausgang, zurück zum mittleren Ausgang! Wo noch ihr letztes Teil, die schwerste Reisetasche, stand. Der Fahrer schloß vor ihr die automatische Tür, und die restlichen Fahrgäste wurden gebeten, den vorderen Ausgang, den er kontrollieren konnte, zu benutzen. Er wickelte den nicht alltäglichen Vorfall ohne die geringste Spur von Erregung ab, selbstsicher und zwischenfallgeschult, während die Frau erschöpft und entgeistert, wirr und bleich, sich mit beiden Händen an einem Vordersitz festhielt. Unterdessen war der Busbegleiter, der ihr beim Einsteigen behilflich gewesen war, unversehens wieder aufgetaucht, offenbar hatte er die ganze Zeit auf dem für das Publikum gesperrten Oberdeck zugebracht. Sogleich wollte sich die Erschöpfte an ihn wenden, sie rief noch schwach: »Hallo, mein lieber Herr —«
Dann wurde ihr schwarz vor Augen und sie sank in den Gang. Auch diesen Vorfall wußte der Busfahrer ohne die geringste Unruhe oder innere Anteilnahme zu regeln. Mit Hilfe seines Kollegen wurde die Ohnmächtige krankengerecht gelagert, Gürtel und Büstenhalter gelöst, und der Fahrer rief den Krankenwagen.
Man hätte den Eindruck gewinnen können, die Männer seien auf den Vorfall gut vorbereitet gewesen, alles hätte sich geradezu verabredungsgemäß abgespielt wie bei einer Notfallübung.
Auf seinem Chauffeursitz zündete sich der Fahrer eine Zigarette an. Es brauchten zwischen ihm und dem Begleiter keine Worte gewechselt zu werden, es war selbstverständlich, daß beide bei derlei Ordnungsverstößen als Zeugen aufseiten der Verkehrsbetriebe standen. Auch der Begleiter rauchte jetzt in dem bis auf die Ohnmächtige leeren Bus. Beiden schien die Pause willkommen zu sein.
Aber die Bilder sagen nicht einfach: Einsamkeit. Dann könnte man ja einen kleinen Bleistiftstrich machen auf einer großen weißen Wand.
Man muß eine Menge Welt malen, bis eines Menschen Verlorenheit darin zum Vorschein kommt.
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Am liebsten aber hört er Grüße. Und wenn seine Frau von jemandem ausrichtet: »Ich soll dir sagen, wie sehr er dich vermißt«, so antwortet er heiter: »Das ist schön, das hört man gern.«
Früher vernahm er oft aus solchen Grüßen den innigen Ruf: ›Laß uns bald wieder zusammenkommen!‹ Dem hatte er in der Regel stattgegeben. Man kam zusammen. Und schon war da nichts mehr von Gruß und Ruf. Dieser oder jener wollte ihn nur sehen (wie einen x-beliebigen anderen), um seine Neuigkeiten loszuwerden und seiner Eitelkeit zu frönen.
Also hat er niemanden mehr treffen wollen. Lebt nun vom Grüßen und vom Grüßenlassen.
Schlimm jedoch, daß seine Frau ihm zuweilen einen Gruß als einen so warmherzigen schildert, wie er unmöglich gewesen sein kann. Seine Frau, der er traut, obgleich sie immer wieder versucht, ihn in die Falle eines verführerisch schönen Grußes zu locken. Aus welchen trüben Gründen auch immer.
»Weißt du, wie es ist, wenn das Grüßen auf einmal schmerzt? Wenn sich das Herz vor Freude verbeugt, aber Mund und Hand rühren sich nicht? Wie wenn ein Boot mit einer musizierenden Schar flußabwärts treibt, ein Boot voll Shuffle Dance. Aber man selbst bleibt still am Ufer zurück und tänzelt vor sich hin, hüpft und wiegt sich — aber man winkt nicht. Einfach weil das Grüßen auf einmal so weh tut.«
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Stefanie, die anrief, besorgt, weil sie keine Arbeit mehr findet. Nun ist sie fürs Geschäftsleben zu alt. Für die Männer nicht mehr interessant. Eine zerknitterte Kindfrau. Als er jung, ein störrischer, trinkender Angeber war, vor mehr als vierzig Jahren, da hatte sie ihn aufgenommen und ausgehalten. Nun kommt sie als alte Frau zurück und bittet um Herberge, sucht Unterschlupf nebenan seiner Ehe, ein kleines Zimmer nur unterm Dach, bloß vorübergehend. Ist es denn nicht recht und billig, fordert sie nicht lediglich den Ausgleich für ihre damalige Investition? Schließlich hatte sie investiert in sein Talent — einem mehr als fragwürdigen Startup-Unternehmen. Ja, sie hatte den Autor der gertenschlanken Romane vor dem Abbruch seiner kurzen Karriere lange Zeit ermutigt und gefördert.
Nehmen wir alle Kranken und Lahmen auf in unsere Kutsche, die durch den nächtlichen Wald rollt … Wie oft hatten sie die Hilfreichen gespielt, er und sein Sohn, als er noch ein Kind war, vor dem Einschlafen! … Die vielen kranken Tiere, die mitfahren wollten und durften, um in der Stadt sich verarzten zu lassen … Des Kindes Kutsche der Barmherzigkeit!
Eines Tages war sie klug aus sich geworden, Stefanie. Ihr Intrigantentum war restlos erloschen. Das behauptete sie jedenfalls von sich und gefiel sich überhaupt darin, die wichtigsten Ergebnisse ihrer Selbsterkundung nun vor den beiden Eheleuten auszubreiten. Sie gestand auch den schlechten Leumund, den sie seinerzeit als Liebesstreunerin hatte, und unterzog ihn scharfsinnigen Analysen. Führte einige drastische Beispiele an, die angeblich allesamt auf einer Fehleinschätzung ihrer Person beruhten, wenn sie auch, zugegeben, nicht völlig aus der Luft gegriffen waren, denn … Und sie analysierte sich selbst in Grund und Boden. Ich bin, entschied sie abschließend, heute wie damals immer ein fragiles Püppchen gewesen, das, von zwei Männerhänden gepackt, sogleich in zwei Teile zerbrach.
Etwas Besonderes allerdings, ein wenig ungelenk war der Beginn: Dies unsichere Sich-Erkundigen bei einem Wiedersehen nach langer Zeit …
ER Und deine Atembeschwerden?
STEFANIE Sind nicht besser geworden.
ER Na, siehst du. Es lag nicht an mir.
STEFANIE Lebt eigentlich die Mutter deiner Frau noch?
ER Ja, sie lebt, sie lebt! Noch einmal davongekommen. Und wie sie lebt!
STEFANIE Wie war das damals, als plötzlich alles vorbei war?
ER Mein Gott, wie soll es gewesen sein? Aus war’s.
STEFANIE Lebte eigentlich dein Vater noch, als wir das Haus auf Elba gemietet haben?
ER Ich glaube nicht. Bin mir aber nicht ganz sicher.
STEFANIE Du hast dich gar nicht verändert.
ER Ich hoffe, das hast du nicht gesagt, damit ich das Gleiche von dir sage.
STEFANIE Ich kann mich gar nicht erinnern …
ER Ich erinnere mich genau, daß du mir schriebst, er sei jetzt da, ein neuer Mann an deiner Seite.
STEFANIE Geschrieben? Geschrieben? Wozu? Ich bin ein Mensch, der dir zu gewissen Zeitpunkten, Punkten! Winzig kleinen Zeitpunkten! Zettel mit ein paar klitzekleinen Bemerkungen schickte. Deutlicher bin ich nie geworden!
ER Es ist das nackte Entsetzen: Erinnerung.
STEFANIE Das Entsetzen macht vor niemandem halt.
Dann liest sie in seinem Gesicht, wer er sei, und es beginnt ein langes Wiedererkennen.
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Im Mittag lehnte eine warme Joggerin an ihm, wie angeweht landete sie an seiner Schulter und fragte mit schläfrigem Interesse, wie man das so mache, was er macht? Aber schon war sie weitergeweht, mit allem Laub, Unrat und Streu von Arbeit, Verabredungen, Urlaub, Eltern auf windiger Straße, doch er sah sie ein nächstes Mal. An einem Gasthaustisch saß sie bitter und bleich, von ihren Brüdern gehalten am Arm, denn sie war ausfällig geworden. Sie tobte, nachdem ihr Freund sich getrennt hatte von ihr. Der Mann, an dem sie im Mittag kurz lehnte, saß am Tisch gegenüber und suchte ihren Blick. An seiner Schulter spürte er noch den Druck der ihren. Aber sie sah durch ihn hindurch und sah ihn nicht wieder. Nur solange sie mit ihrem Freund war, wollte sie auch einem anderen Mann gefallen.
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So lag es vor ihm, das neue Jahr: so weiß und unberührt wie die verschneiten Felder ringsumher.
Schnee und wieder Schnee und Aberschnee wie in Stifters ›Bergkristall‹, wo die Kinder nichts mehr sehen und sie von den Augen her zu erdrücken droht das wüste Weiß.
Jeder in seiner Zone. Der Dendrophile, in Liebe entbrannt zu einer schlanken jungen Hainbuche, umarmt sie, liebkost sie in ihrer kalten Kahlheit, und findet dann im Winterwald ihre Eltern am Boden übereinandergestürzt. Die Alten, die der Orkan im Herbst gefällt hat. Astlos und über fünfzehn Meter lang. Und so ein Baum in der Waagrechten, von Windwut niedergemacht, ist ja, was einem zu Sturz und Ende das gültige Sinnbild liefert. Machtlos liegt er wie ein beendeter Mensch. Nie wieder ein Schwanken, nie wieder Blättergeschwätz, kein Ästestrecken, kein Knospenschwellen. Nur noch Holz, geduldig bereit zu seiner Verarbeitung.
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Die Schwangere oben in der Dachwohnung schiebt immer mehr Leute in ihre engen Räume. Schon die schweren Schritte der großen Ausgefüllten bringen die Dielen zum Knarren, aber die Gesellschaft erst, die sie allabendlich um sich versammelt, läßt Fenster erzittern, die Decke wackeln, der Trittschall versetzt sogar das Parkett einen Stock tiefer in Schwingungen. Offenbar ist ihr Mann heute nur deshalb von ihr angebrüllt worden, weil er versuchte, für kurze Zeit mit seiner schönen Frau allein zu sein. Der Vater ihres Kinds! Einmal für kurz mit ihr allein … Nein, das soll er nicht. Er soll sich mäßigen als Hauptperson, als der Besondere, soll lieber einer unter anderen sein, kaum unterscheidbar für sie von den weitläufigen Freunden, wie eine Schlagzeile, die unter Vermischtes geriet. Sie kann das stickige Vorrecht ihres Mannes, sie für sich allein zu haben, so wenig ertragen wie den Zigarettenrauch, der von der unteren Etage in ihre Wohnung steigt, durch die Poren der Mauern, Fugen des Gebälks, der sie dazu bringt, schon frühmorgens wild mit dem Fuß aufzustampfen und den Raucher unter ihr ebenso zu verfluchen wie ihren unentwegt auf sie Anspruch erhebenden Mann.
Am meisten bewegt sie den Körper im An- und Abschwellen ihres Lachens vor dem Bildschirm. Man hat ihr eine sanfte Geburt versprochen, sofern sie möglichst viele Lustspiele und Filmkomödien sieht. Gleichzeitig spottet sie über den amerikanischen Gesundheitswahn, der über die Erde greift und der offenkundig einhergeht mit fortschreitender geistiger und seelischer Invalidität. Wozu denn ein leeres Körpergestell in Schuß halten!?
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Am Rande der Armut, sagt ihr? Na, desperately poor würde ich sagen. Bis vor kurzem war ich in einem Projekt beschäftigt. Die bayrische Tourismusförderung brachte unsere alte Brettlkunst nach Osten. Ich tingelte mit einem historischen »Brettl«-Programm durch die Mark Brandenburg. Die Leute im Publikum bekamen alles umsonst, eine Schweinshaxe mit Kraut wurde ihnen aufgetischt, und dazu trug ich gemeinsam mit meinem blinden Akkordeonspieler Lieder von Wedekind und Lautensack vor. Selten, daß die stutzigen Dörfler uns während des Schmausens ein wenig Aufmerksamkeit schenkten, dennoch füllten sich zwischen Kyritz und Gramzow die Turnhallen und Gemeindesäle. Schon wegen der Schweinshaxe. Dann war die Tour vorüber, und ich hatte nichts mehr.
Im letzten halben Jahr habe ich dann praktisch nur an meiner Liebe gestrickt … Die zarte Anspielung soll nicht verhehlen, daß mir Beziehung wie Beruf schwer auf der Seele liegen. Vater meines dreijährigen Jungen ist ein Bulgare, den man als Clown und Pantomimen auf Vereinstagen, Betriebsfesten und Kindergeburtstagen mieten kann. Stumm übt er seinen Beruf aus, und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß er kaum Deutsch spricht. Rührende, sentimentale Pantomimen sind seine Stärke, und deshalb war er bisher auch nicht besonders erfolgreich. Aber auf internationalen Pantomime-Festivals wurde er mehrmals ausgezeichnet. Manchmal betrachte ich mir meinen Jungen und sage mir: Der kommt nun von diesem fremden Mann, mit dem ich noch nie eine einfache Unterhaltung führen konnte. Weil er aus seiner Sprache nicht rauswill, sich hinter ihr, einem Stück Heimat, buchstäblich verschanzt. Aber macht mir das Kind und liebt das Kind, aber richtig reden können die beiden nicht miteinander. Jetzt, wo er älter wird, möchte er doch von seinem Vater etwas hören, Geschichten, Erklärungen, die ihm im Gedächtnis bleiben. Er spricht ja ein bißchen, wenn auch nicht flüssig, es fehlt ihm die Melodie und das Wirksame der Sprache. Wenn er sich mit seinen Gebärden und seinem pantomimischen »Geplapper« (so schimpfe ich manchmal!) aus der Affäre zieht, dann möchte ich am liebsten alles hinwerfen. Also habe ich das letzte halbe Jahr nur an meiner Liebe gearbeitet …
Deine Brüste sind flach, mimte er gestern, sehen aus wie ein Weihnachtsplätzchen mit ’nem Schokoladentupfer obendrauf.
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Um endlich alltäglicher als der Alltag zu werden, schildere man die Verhältnisse eines jungen Mietshausbesitzers, der gegen seinen türkischen Hausmeister einen Prozeß führt, weil dieser die ihm zur Verfügung gestellte Souterrainwohnung in ein Ladengeschäft wandelte, während über dem Streit die Tochter des Beklagten demonstrativ zur Geliebten des Klägers wird, der aber den Prozeß schließlich verliert, worauf die Tochter sich wieder dem Vater annähert, als dem Gewinner und also dem Stärkeren, während der junge Hausbesitzer am Ende nichts als sein Haus besitzt.
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Und er findet das Mädchen aus dem Elfenland und spricht mit der einsamen Elfe, die von großer Klugheit müde war, vor Müdigkeit aber schlaflos.
»Und in der Nacht?«
»Ist es wie am Tag. Immer nur denken, denken, denken. John Searle sagt, es wird keine starke AI geben, der Computer kann nur mit Symbolen arbeiten, findet keinen Zugang zur Bedeutung, ist unfähig zur Semantik. Die Churchlands sagen, das trifft nur für den Parallelcomputer zu. Der neuronale Rechner der Zukunft wird auch die Bedeutung kennen.«
Das hübsche Mischblut spricht, das Halb-und-Halb aus Märchenfee und IT-Kundiger, die junge Frau mit den Kleinmädchenzöpfen. Neben ihr steht der hagere Junge, der immerzu Miene macht zu den Umstehenden hin, wenn die Begabte, ohne daß sie jemand recht verstünde, dies und das, immer Wissenwertes, manchmal ein wenig von gestern, von sich gibt. Bei scheinbarem Verstehen nickt er, den Anflug eines überlegenen Lächelns um den Mund, das kurz darauf einem Ausdruck der Ergebenheit weicht. Dabei erinnert seine Miene ein wenig an den Sprechstallmeister im Zirkus, der einen Tanzbären in der Arena vorführt, hier jedoch, als ob es mit einer gewissen Schüchternheit vor dem Tier geschähe.
»Die kleinste Einheit von menschlicher Zeitwahrnehmung: dreißig Millisekunden. Der Flügelschlag einer Stubenfliege dauert drei Millisekunden, ist also für den Menschen nicht wahrnehmbar; der Wimpernschlag eines Menschen dauert hundert Millisekunden; ein AI-PC wird während eines menschlichen Wimpernschlags hundert Geschäfte tätigen. Die Identifikation eines Schmerzes dauert etwa eine halbe Sekunde.«
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Greift er zum Handy, um zu telefonieren, reißt sie ihm den Apparat aus der Hand. Nimmt er ein Taschentuch, einen Schal, ein Buch, stets schlägt sie ihm die Dinge aus der Hand, ohne ein Wort, während sie gleichzeitig einem Besucher Rede und Antwort steht und dabei seitwärts ihren nach der Kleiderbürste greifenden Mann anzischt: »Laß es!«
Als so ein Besucher aber einmal sagt: »Es zeigt sich nicht der geringste Hoffnungsschimmer am Horizont«, da bricht es aus dem Nebenstehenden, ihrem Mann, hervor, als hätte es sich seit langem in ihm angestaut:
»Es gibt genügend Hoffnung auf der Welt. Bei Geschäftsleuten, Kranken, Verliebten und Pauschalreisenden. Hoffnung muß man deshalb noch lange nicht in der Verfassung verankern. Man hat sie oder man hat sie nicht. Da liegt nichts Diskriminierendes vor. Hoffnung ist ja kein Rechtsgut. Man sollte nicht soviel davon hermachen. Hoffnung ist per se was Stilles. Stille Hoffnung, sagt man ja. Stille Hoffnung macht stark. Oder ist tief.«
Seine Frau wendet sich an den Besucher und sagt: »Die Worte, die er in den Mund nimmt, sind mir allemal lieber als alles, was er in die Hände nimmt.«
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Juva hieß sie und bat ihn, so schnell wie möglich zu ihr, der neuen Freundin, zu kommen. Er wollte die S-Bahn-Karte lösen an einem der letzten Kartenschalter, die es gab in Berlin. Die Kartenverkäuferin hatte aber ihre Kinder dabei, die spielten mit Geld, und als er seine vier Euro in die Schale legte, überschütteten sie sie mit einer Flut von Ein-Cent-Münzen. Dazu riefen sie aufgeregt und zornig: Du mußt dossen, du mußt dossen! Er wußte nicht, was das Wort bedeutete, und sagte, er sei in Eile und könne jetzt nicht spielen. Sein Geld lag unter einem Berg verkupferter Münzen begraben, er bekam keine Fahrkarte. Du mußt dossen! Die Mutter und Kartenverkäuferin lachte über seine Begriffsstutzigkeit. Wahrscheinlich war’s ein Spiel, das sich in den Game-Medien schnell verbreitet hatte, ohne daß er etwas davon mitbekommen hätte, wie üblich. Er fluchte heftig und ließ sein Geld begraben sein. Rannte auf den Bahnsteig, um als Schwarzfahrer in den Zug zu steigen.
Es ging ihm an diesem Morgen so, als ob er nicht länger das Subjekt seiner Handlungen wäre. Ein ungeschickter Anruf von ihm hatte zur Folge, daß sein Freund Udo nicht zu einer Prüfung zugelassen wurde. Unterdessen hatte er nun mit einer ihm noch unbekannten Juva eine Verabredung getroffen und bekam dafür auf dem Handy von irgend jemandem »einen Freude-Punkt« gutgeschrieben. Ihm schien, es war eine einzige Verkettung von Game-Fallen, in die sein Handeln ihn verwickelte. Darin einbeschlossen einige Postings, die ihn mit zweifelhaften Versprechungen von seinem Weg zu einem neuen Menschen ablenken wollten.
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»Bitte, kann ich dich sprechen?« Gut. Auf einen letzten Gang! Im Park, zur Mittagspause. Im Winterwasser und im Schmutz der Wege, wenn in hechtgrauen Wolken die weiße Sonne schwebt. Es war keine Erklärung mehr nötig. Es war nur noch ein einfaches Gehen. Und sein Stehenbleiben ab und an, da er’s nicht fassen will oder kann, und ein Kopfschütteln zu Boden hinab über sein kindisches Weh. Jetzt im Park war ihm, als hörten die kurzen Schritte nicht auf, als gingen sie noch einmal die langen Wege zusammen, die tausend und abertausend Schritte nebeneinander. Ihr aber grau nur und lieblos erinnerlich: alles ist Gehen. Wir sind schon fort.
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Im Strudel einer aus dem Musical strömenden und einer zweiten, zur Kaufhauspassage vordringenden Menge, im großen Gewühl vieler Menschen, die einen sich hinaus-, die anderen sich voranschiebend, stand eingezwängt der Autor Mansholt, und auf den ersten Blick (vielleicht vom Rand des Geschehens) schien es, als ob man sich um ihn drängte, denn er ragte hervor, der magere Greis. Doch die Menge beachtete ihn nicht, sondern der eine Teil strebte zum wahren Star des Begehrens, nämlich zu einem Mediamarkt, der um Mitternacht mit dem Verkauf einer süchtig erwarteten Neuheit beginnen würde. Mansholt, der hochgewachsene Herr, wurde ein wenig mitgerissen. Geschützt von seinem Begleiter, stemmte er sich zunächst gegen eine Richtung, die er nicht einschlagen wollte, doch der Wirbel der Menge gab ihn nicht frei. Und dabei befand sich hier nur ein winziger Teil der Millionen Erdenbürger, die zu gleicher Zeit in aller Herren Länder anstanden für die neue Spielkonsole und rangelnd sich vorankämpften, um sich den Erstzugriff zu sichern.
Siehe, das sind nun unsere Krieger, verehrter Reichsverkünder, teurer Stefan George, murmelte sein beflissener Begleiter, um dem Dichter eine Vorlage zu schärferen Ansichten zu liefern.
Mansholt aber stand still im Gedränge und empfand sich für eine Weile von der Masse ununterschieden. Auch wenn er daran gehindert war, seinen Weg fortzusetzen, fühlte er sich nicht bedroht. Niemand rempelte ihn an, keiner trat ihm auf die Füße, die beiden Strömungen hatten sich ineinander vermengt, gegenseitig gestaut, nichts bewegte sich mehr, alle standen fest. Warten wir also, bis sich eine neue Strömung bildet, die uns förmlich aus der Passage tragen wird … Im Stillstand kamen ihm einige noch ungeprüfte Gedanken, die alle auf ein Lob des Stillstands hinauswollten. Was ist denn: zupacken, in Angriff nehmen, vorankommen? Auf was hin leben die Leute? (fragte sich einst Hugo von Hofmannsthal). Natürlich war ihm seine Lage befremdlich und unbequem, aber die Menge machte ihm weniger zu schaffen als es inzwischen der einzelne Mensch tat, der ihm zusehends eine schwere Prüfung und ein Rätsel geworden war. Er verspürte jetzt eine Bescheidenheit der Befremdung, fast eine Zartheit, es nicht zu verstehen, auf was hin die Leute leben.
Für den Autor Mansholt gab es keine erzählten Geschichten, keine Handlungsverläufe — nur und allein Sphäre, Hülle und »Sillage« (das Nachwehen eines Dufts) waren für ihn von Interesse. In Anbetracht seiner gegenwärtigen Lage, im Gehege der Menge, entstand ihm die Vision von einem endgültigen und absoluten Stillstand. Von vollkommener Eingeschlossenheit in das tiefe Innere des Bergs, in dem seine Sprache, das vielsagende Deutsch, wie der Bart des Kaisers durch den steinernen Tisch wuchs. Es war ihm, dem Autor philosophischer Märchen, unmöglich, die Metapher von der nächtlichen Zwischenzeit, vom Interregnum der Verdunkelung, in Anlehnung an Petrarcas tenebrae-Periode, die angeblich zwischen Antike und Renaissance währte, jemals aufzugeben. Als Dichter blieb er ein Gefangener dieser Metapher; er mußte sie, als wäre ihm eine poetische Fron auferlegt, immer aufs neue variieren und, sobald sie eine leere zu werden drohte, mit frischem Stoff versehen.
Da aber schlug es auf fernöstlichem Gong in der Passage Mitternacht. Der Haufe rührte sich. Der Elektronikmarkt öffnete die Tore. Ein Großteil der Menge strömte nun in die Schlacht um die neuen Spielkonsolen, die der Laden mit erster Lieferung erhalten hatte. Das Gedränge löste sich. Sein Begleiter griff dem alten Phantasten unter die Arme und führte ihn auf den Heimweg.
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Die Kassiererin kommentiert die Waren, die ihr die Kunden aufs Laufband legen, skeptisch und nicht selten vorwurfsvoll: Was machen Sie denn damit?! Oder: Ihnen scheint es ja auf den Preis nicht anzukommen. Oder: Oh, dies Deodorant kenne ich! Damit können Sie meine Hühner verjagen!
Jemand fragt: Ist das Ihr letzter Tag heute? Sie antwortet: Ich lasse mir von niemandem den Mund verbieten. Ich fange hier heute erst an. Ich war immer eine kritische Verbraucherin und das bleibe ich auch hinter der Ladenkasse.
— Prima!
— Sie mit Ihrem »Prima!« Das ist Kolonialwarendeutsch. Prima Gewürzgurken! Prima Wollsocken! Da sind mir echt geil, total gut cool und supi doch lieber.
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Öffnet er den Wasserhahn über dem Waschbecken, kommt nur ein Fauchen heraus, das mit Stimmen der Straße versetzt ist.
Ansonsten Ruhe. Bis die Eine zurückkehrt, die Unerbittliche, die ihren Liebsten wieder einmal mit Vorwürfen begrüßt, nämlich daß er sich »eingereiht« habe.
»Ja, du hast dich eingereiht … Deine Flugblätter gegen das Unrecht stapeln sich im Korridor. Sie gelangen nicht mehr nach draußen unter die Leute. Wir ersticken an Appellen, die nie ausgerufen werden.
Gegen die Stadtplaner nicht, gegen die Rauschgifthändler nicht, gegen die Klimaschänder nicht. Diese geduldete Gemeinschaft von Betrügern, Unmenschen und Scharlatanen! … Himmel, wie habe ich mich auf dich gefreut! Vielleicht war es nur, weil der Körper, der ganze Frauenmensch, einen Aufschwung braucht und sich wieder mal einen Aufschwung verschaffen muß. Weil man doch in diesem lautlosen Dahinleben ab und an mal aufleben muß, einmal so richtig aufleben, sonst verläuft man ja im Sande.«
»Nein, Wanda, so kann man das nicht sagen. Wenn überhaupt, so ist es eben deine ganze Art, die dazu führt, daß wir an diese jugendlichen Vorfälle, nenn es Liebesleben, nenn es Protestbewegung, anknüpfen und diese jugendlichen Vorfälle versuchen, möglichst originalgetreu nachzuahmen. Anderen, Tausenden, geht es nicht anders. Aber du hast eben eine Art, die alles sehr schwer nimmt.«
»Ach, ich habe nie aufgegeben. Ich wende mich mit blindem Fleiß an ein sicher gespürtes Gegenüber, mit dem ich Übereinstimmung empfinde. Aber wie es manchmal so ist, daß man bei halbgeöffneter Tür zu jemandem spricht im Nebenzimmer und gar nicht mitbekommen hat, daß er schon fortgegangen ist, so wie du jetzt, mein sicheres Gegenüber, aus dem Nebenzimmer längst verschwunden bist. Doch das Ansprechen steckt zu tief in meiner Sprache, als daß ich wegen ein bißchen Abwesenheit aufhören könnte, zu dir zu sprechen.«
Früher hätte man gesagt: Sie war nah am Wasser gebaut. Sie weinte mit offenen Augen — nicht vor Glück, noch weniger vor Traurigkeit, sondern beim geringsten Anflug von Sympathie mit irgendwem. Übereinstimmung rührte sie. Die Tränen standen im Stau, sie warteten darauf zu fließen. Doch war es nie Betrübnis, nie Wonne, was ihren ungehemmten Lauf auslöste. Der Tropfen schwoll unterm Lid, sobald sie ein Einverständnis mit jemand anderem fand. Mit seiner Meinung, seinem Gesicht, seinem Charakter — schon rannen die Tränen
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Sie hat ein Haus geerbt. Die hübsche Metallarbeiterin schwärmt vom Haus ihrer Eltern, beide kürzlich verstorben, lauter Nischen im Haus, grundgemütlich, sofort beziehbar übrigens, das Haus, und sie schildert alles Gute daran einem jungen Mann, der zwar verheiratet ist, ihr aber über die Wochenenden als Liebhaber dient, schwärmt immer heftiger, fast aufsässig, will ihn hineinlocken ins Haus, ja geradezu hineinstoßen, während sie die Pizza aus der Verpackung zieht. Der Mann dreht unterdessen immer nervöser den Ehering um den Finger und lächelt schief — ungläubig und kopfschüttelnd. Doch halbwegs so, als stehe er bereits jenseits der Schwelle und könne es nur noch nicht fassen.
Trotz vieler Güter, trotz großen Besitzes — die Liebe erstickt nicht am Haben. Sie regt sich unter allen Umständen, auch ohne jeden Funken Ferne und Sehnsucht. Und ist doch Liebe — mit ziemlich viel Freuden und Wunden. Liebe kennt keinen Sollwert, ist unzensierbar, und jede Erfahrung, auch die abwegigste, läßt sich mit ihr verbinden …. Wir wissen doch gar nicht, was man da sieht auf den ersten Blick. … Wir kennen doch die Geheimsprache des Anscheins nicht, der immer noch, wie eh und je, über die Zeiten und Generationen hin sein Erstlingsrecht behauptet.
Der Anschein! Der Anschein, möge er lange währen!
Wie war das also mit den beiden?
Zunächst sind sie rasch unterwegs. Laufen, laufen. Sie stolpert hinter ihm her, er dreht sich um, sie bleiben stehen, sie reden. Ein andermal geht’s eilend die Treppe hinunter — er schlüpft die Stufen hinab. Sie bleibt stehen, ruft ihn an. Er kommt zurück, hakt sich ein, sie gehen gemeinsam hinunter.
Auf dem Smartphone erscheint seine Frau auf Reisen: »Bring mir den Sohn heil zurück! Achte auf ihn. Sei nicht nachlässig. Lauf nicht jedem Leckerli hinterher. Laß nicht überall etwas liegen. Achte auf deine Schritte, verlier dein Kind nicht aus den Augen!«
Er will nicht mehr gehen. Lehnt sich an oder setzt sich auf eine Treppenstufe. Und sie ist es, die ihm gut zuredet. Drei Stufen über ihm spricht sie in seinen Rücken:
— Aber von irgendetwas muß doch zwischen uns die Rede sein?!
— Vielleicht geht’s eher darum, irgendetwas wieder ungesagt zu machen.
— Wozu es wohl am besten wär, es unter Weiterreden zu begraben.
Schließlich beide in blöder Betrunkenheit, wo sie auf allen vieren kriecht und er sich noch über sie lustig macht, torkelnd, schlingernd.
Laufen wie im Musical, in der Filmkomödie — auf der Stelle laufen und den Hut schwenken zum Publikum.
Rennen zum Bahnhof. Bis er außer Atem gerät und nicht mehr kann.
Schuhe ausziehen und barfuß gehen: wie zum Verführen.
Schuhe schnüren wie vor einer Bergwanderung.
»Du willst mir deine Gangart, mein Geliebter, in die träge Masse meiner Stunden deine schnellen Schritte pressen? Dein Tempo, deine Ideale. Gegen mich, die langsam lebt und langsam breiter wird?«
»Bedenke doch, jeder gemessene Meter ist neu zu messen. Kürzlich hat man eine winzige Fehlberechnung des Urmetermaßes entdeckt. Alle Entfernungsangaben, die jemals gemacht wurden auf Erden, müssen nun leicht korrigiert werden. Dem wird sich auch das menschliche Schrittmaß anpassen.«
»Während die Welt täglich geschickter wird, umarmen sich zwei Liebende immer unbeholfener.«
Manchmal war es wie ein Blitzschlag, als ob sie einander wieder Unbekannte wären und sich noch einmal kennenlernten. Dann schritten sie aufs neue durch die Flamme des Anfangs.
Das Um-und-um-Rücken der Möbel, wie’s jeweils besser gefiele, ihrer beider Fleiß, eine Anordnung der Möbel für ein endgültiges Wohnen zu schaffen. Dabei ließ schon das leichte Verrücken, die umstandslose Veränderbarkeit des Inventars befürchten, daß hier wieder nur ein vorübergehendes Eingerichtetsein erreicht wurde.
Zum Abschied dann das stille Beieinanderstehen, während ein untergründiges Rumoren die hohen Gläser in der Vitrine erzittern, leise klingeln ließ, des Tages letzte U-Bahn fuhr unterm Haus vorbei.
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Ist das noch zu bezahlen? Kannst du das bezahlen? Ich kann es nicht mehr bezahlen, ich weiß gar nicht, wie man so etwas noch bezahlen soll. Wie machst du das? Du sprichst nicht drüber, du bezahlst einfach. Man weiß nicht: Erschreckt dich das eigentlich? Wenn du so viel bezahlen mußt? Man sieht dir nichts an. Das möchte ich können. In deiner Lage mich befinden und wortlos bezahlen, ohne Gesichtsausdruck. Keiner weiß, was du denkst. Gern tust du’s nicht, soviel darf man voraussetzen. Aber es könnte ja sein, daß es dir nichts ausmacht. Das wäre … das wäre einfach phantastisch! Wenn ich so dasitzen könnte, zahlen, runterschlucken, aufstehen und fortgehen, als wäre nichts gewesen, vorbei und vergessen. Wenn ich dagegen so etwas bezahlen soll, wenn ich so eine Rechnung in die Hände bekomme, dann fällt vor mir ein Eisengitter herab, ich stehe schon im Gefängnis, ich stehe vorm Ende der Welt, das mit Brettern vernagelt ist. Ich weiß: Ich-kann-das-nicht-bezahlen! Das ist ein Schock. Ich starre wie gelähmt auf die Rechnung, als wäre sie mein eigner Totenschein … Wenn ich nur wüßte, wie du so etwas noch bezahlen kannst? Es regt mich auf, ich empfinde es als Demütigung, diese Ziffern, diese kaltschnäuzige, gemeine Forderung, eine schreiende Ungerechtigkeit. Dafür soll ich meine Wertbestände plündern? Für nichts, für beinah nichts! Und das noch schlecht ausgeführt. Aber du — du kannst es bezahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Frißt es stumm in dich hinein. Diese gesenkten Lider, diese eiserne Verachtung gegen das da unten, dieses niedrigste Stück Papier! Aber wenn du es tust, wenn du so etwas bezahlst, ist es dann so, daß dir das Gefühl der tödlichen Verachtung dabei hilft, daß es dich emporträgt, eine Verachtung, wie du sie nur für diese eiskalten Ziffern und niemals für einen Menschen empfinden könntest? Ist es das? Erhebt es dich, so etwas zu bezahlen, den Wisch letztlich mit der Fußspitze aus dem Weg zu stoßen? Die Demütigung nicht anzunehmen, sondern auf Heller und Pfennig … die Rechnung zu begleichen, wie man unter streitenden Männern manchmal sagt, aber auch zwischen Mann und Frau, gegebenenfalls, aber kein Mann, keine Frau steht hier zur Debatte, nur diese erbärmlichen Ziffern. Irgendein Computer hat sie ausgespuckt. Maschinenschrift! Maschinenschrift!… Aber letztlich kommen wir dem Geheimnis nicht näher, weshalb du sowas überhaupt noch bezahlen kannst? Das ist für mich, die deine Lebensführung ein bißchen im Auge hat, ein Rätsel. Natürlich, jeder kann das bezahlen. So ist es nicht. Er braucht ja nur Schulden zu machen. Sich Geld leihen. Aber machst du Schulden? Lebst du auf Pump? Du siehst nicht so aus. Du siehst einfach nicht so aus. Du hast Geld, und du hast eine ganz bestimmte Haltung zum Geld. So geht man nicht mit Geliehenem um, das sieht ganz anders aus. Aber damit muß ich leben. Wenn du das hier bezahlst, bin ich bereit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, wieso du so etwas überhaupt bezahlen kannst. Ich bin sogar bereit, dabei zu keinem Schluß zu kommen und es irgendwann als gegeben hinzunehmen. Der bezahlt sowas. Der kann das eben. Basta. Ich kann das nicht bezahlen
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Dieser stille, gehemmte Arzt, der auf seinen Patienten einsprechen will, aber nichts herausbringt. Der ihm aber folgt beim Einkauf, im Restaurant am Nebentisch sitzt, beim Dessert über den Gang hin fragt: »Wie fühlen Sie sich?« Bei einer Bootspartie dicht neben ihm seinen Kahn bewegt. Schließlich stellt der Verfolgte ihn zur Rede, und nun muß er reden. »Ich möchte Kontakt zu Ihnen halten.« Ist es so schlimm? »Das würde ich — so — nicht sagen.« Haben Sie mir etwas verschwiegen? »Verschwiegen habe ich nichts. Ich kann es nur nicht genau genug sagen. Die Befunde, die vorliegen — «
Es hieß doch, sie seien soweit in Ordnung.
»Sie sind soweit in Ordnung. Aber eben nur — soweit. Ich dachte, ich sollte —« Was? »Ich sollte Sie für eine Weile nicht aus dem Auge lassen. Wie fühlen Sie sich?« Nun ja. Es ist natürlich beunruhigend, wenn ein Arzt hinter einem her ist, einem auf demFuße folgt.
»Verstehen Sie mich recht: Ich taste mich an etwas heran, das ich nicht restlos geklärt habe. Das Krankheitsbild, das sich bei Ihnen zeigt — « Was für eine Krankheit, was für ein Bild!? Was haben Sie bei mir gefunden?
»Es läßt sich eben nicht eindeutig feststellen, um welches Krankheitsbild genau es sich handelt.«
In welche Richtung gehen Ihre Vermutungen?
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Ich müßte Sie dafür noch eine Zeitlang in Ihrem Alltagsverhalten beobachten.«
Mein Verhalten, indem ich nun weiß, daß Sie es so beflissen beobachten, kann wohl kaum noch ein alltägliches genannt werden. Aber tun Sie, was Sie für nötig erachten, um mich vor Schlimmerem zu bewahren. Ich wiederum tue so, als wüßte ich von nichts.
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Der verendende Schuh. Auf den marmorierten Fliesen des Entrées, ganz allein, der Damenschuh mit halbhohem Absatz, liegengeblieben, zur Seite gekippt, und wie er sich biegt und windet, wie er versucht sich aufzurichten, auf den Absatz zu kommen, um gerade zu stehen, dann aber umfällt, ruht und schwer atmet, sich streckt und einmal um die eigene Achse dreht, sich zusammenzieht und wieder dehnt, dann ist es vorbei, der Schuh ist tot.
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Eine Ungeduldige, schlagfertig, eher zweitklassig gekleidet, weil für Klamotten nie genug Geld übrigblieb. Eine, die mit »geistiger Beratung« notdürftig den Lebensunterhalt besorgt, Masterarbeit in Philosophie, hin und wieder Ghostwriterin für Publikumslieblinge.
Eine unzulänglich Selbstbewußte, sie wüßte wohl nicht, welche Gebärde, sich attraktiv zu genieren beim Umkleiden, am besten zu ihr paßte. Nach dem gemeinsamen Bad im See zog sie ein langes leichtes Kleid über, unter dem sie den nassen Badeanzug abstreifte mit hin und her ruckelnder Hüfte, vor seinen Augen fiel das Teil auf ihre nackten Füße, während beide ihr Streit-Gespräch nicht unterbrachen. Das Kleid hatte im Rücken einen tiefen Ausschnitt und sie fingerte ohne Zweck hinten am Reißverschluß, als ob sie des anderen Dorthinblicken ebenso provozieren wie es zugleich behindern wollte. Auch störte es sie und kam ihr nur zu gelegen, daß er ihr jetzt in den zu ihren Behauptungen passenden, besonders ausschreitenden Schritt sah. Er wiederum war nur an ihren Verlegenheiten, keineswegs an einer Gelegenheit interessiert.
»Was soll ich dich fragen? Was wüßt ich noch nicht? Wie lange kennen wir uns jetzt?«
Zwei, die sich noch unsicher sind, lauschen aufeinander, ob in dem, wovon sie sprechen, nicht irgendein Wort auftaucht, das ihnen die Augen öffnet und sie plötzlich ausrufen läßt: Wir werden ein Kind zusammen haben!
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An einen Entwertungsautomaten am U-Bahnsteig lehnt sie sich, die Zeitungsausträgerin, vor Kälte zitternd am frühen Morgen, einen Plastikbecher mit heißem Kaffee auf dem roten Kasten absetzend, eine Schale mit Pommes in der anderen Hand. Dann eine Ansage und laut ruft sie zum Lautsprecher hinauf: »Du! Laß mich nicht im Regen stehen.«
Da antwortet der Lautsprecher ihr: »Wenn die Männer kommen und ihre Fahrkarten unter deinem Arm hindurch in den Automaten stecken … unter ihnen achte auf den einen Ungeschickten!«
»Thanks. Your name will be on my lips tonight.«
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Die Drei, die jede erwünschte Gestalt annehmen können, wenn sie in einer Versammlung von Menschen sich bewegen, in einer Hotelhalle, auf dem Bahnsteig, in der Konzertpause. Sanft durch die Kleider leuchtende Körper. Mal da, mal dort nippen sie an einem Gespräch oder schleichen sich ins Vertrauen und kommen jedem, bei dem sie stehenbleiben, von irgendwoher bekannt vor. Auch wenn sie flüsternd ihre Anweisungen, ganz leise Befehle geben: Kauf nie das Fleisch aus Megaställen. Setze dich nie auf eine Parkbank, die von der Sparkasse gestiftet wurde. Etc.
Später am Tresen, auf hohen Hockern, wieder die Drei, Essen schaufelnd. Klotho, wie sie ihre Waden um die Beine des Hockers windet, Lachesis, die ihre Knie stößt gegen den Tresen, Atropos, die ihre Füße lose baumeln läßt. Über den Ausschank gelehnt, spreizen sie die Ellbogen ab, deren Ende mit moiren-typischen Ellbogenzuspitzungen versehen waren. Protopersonen. Grundwesen, aus denen seit Urzeiten die verschiedensten Personen — Abzweige, Varianten, Mischungen und Mutationen hervorgehen.
»Und wenn wir mit den Männern waren, kamen wir schnell zum Höhepunkt. Freilich war’s ein Höhepunkt des Entsetzens, nicht der Lust.«
»Seht nur, wie leicht die Menschen ihre Zugehörigkeiten wechseln! Nur weil die einen die einen, die anderen die anderen sind, und niemand könnte sagen, weshalb es sich so verhält.«
»Ich schreibe keine Briefe an einen fernen Geliebten. Ich schreibe meine Briefe an die vielen, den Haufen, die Menge. ›Liebste Zufälle!‹, ›Geneigte Möglichkeiten!‹, ›Verehrte flüchtige Anblicke!‹, ›Geschätzte Vorbeischauende!‹ Für euch schlägt mein Herz: Ihr unübersehbar vielen!«
Dann noch einmal: Die Drei in blauen Leinenkleidern, eng beieinanderstehend, etwas erhöht im Wind. Ein Menschenkundler zeigt auf sie und redet etwas abschätzig, etwas verlegen über diese »Personalunion«, drei Grundfiguren unserer Phantasie, unserer Ängste, unserer Wünsche und Gelüste, unserer Mythen und Märchen.
»Jede für sich wäre eine vernünftige Frau geworden. Aber zu dritt, wie sie sich fanden, bilden sie eine Kon-stella-tion. Sie verstehen, das kommt von stella, der Stern. Ein Gestirn. Zu dritt haben sie das Sagen.«
*
König David ruft Bathseba zu sich.
DAVID Wie heißt du?
BATHSEBA Bathseba.
DAVID Zu wem gehörst du?
BATHSEBA Mein Gemahl ist der Feldherr Urija.
DAVID Ah! Urija, der Hethiter. Ich kenne ihn. Er kämpft vor Rabathas.
BATHSEBA Er ist ein tapferer Mann. Urija ist nicht oft im Haus.
DAVID Ich habe dich rufen lassen, um dich um Verzeihung zu bitten.
BATHSEBA Weshalb?
DAVID Ich stand auf dem Söller und sah dir beim Bad zu.
BATHSEBA Ah!
DAVID Ich habe mich nicht abgewendet.
BATHSEBA Ich — ich schäme mich nicht.
DAVID Ich habe dich gesehen.
BATHSEBA Das ist kein Grund, mich um Verzeihung zu bitten.
DAVID Nimmst du immer dein Bad auf dem Dach am Abend?
BATHSEBA Wenn Urija nicht im Haus ist.
DAVID Hast du dich nicht angesehen gefühlt?
BATHSEBA schweigt
DAVID Hast du mich gesehen?
BATHSEBA Ich wußte, daß du seit einigen Tagen wieder im Palast wohnst.
DAVID Du hast dich mir — gezeigt? Ich habe dich nicht zufällig gesehen?
BATHSEBA Als ich mich wusch? Sahst du eine befangene Bewegung an meinem Körper?
DAVID Ich war mir nicht sicher.
BATHSEBA Hast du nicht bemerkt, wie ich im Bad all meinen Bewegungen befahl, wie unbeobachtet zu sein?
DAVID Nein.
BATHSEBA Dann hast du mich nicht ganz und gar gesehen.
DAVID Du hast dich mir gezeigt!
BATHSEBA Ohne es dir zu zeigen.
DAVID Zieh dich aus.
*
Sie sprechen nicht unsere Sprache?
Wenn in der Tiefe der Ebene der vollkommen Fremde erscheint, ankommt, weit entfernt noch von ihr, die einsam im Vordergrund steht und ins Grenzenlose ausblickt, anstatt sich zu dem Eintreffenden herumzudrehen.
Da ist einer, der ankommt, weit entfernt noch von mir, die ich ihn in meinem Rücken erwarte, jemanden, dessen Schatten einmal an meinen Nacken stoßen wird.
Du sprichst nicht unsere Sprache?
Komm! Komm! rufe ich. Oder flüstere: Warum bleibst du so weit?
Du kommst und näherst dich nicht. Ich fühle dein Haar, deine Schultern, deinen Schritt. Komm doch! Was ist so unüberwindlich an dieser letzten Strecke? Du kannst doch schreiten, schreite doch!… Nein, ich darf mich nicht umdrehen (wenn es das ist?). Nicht umdrehen. Warten muß ich, bis du hinter mir angekommen bist. Ich will dich angekommen sehen oder will dich nie im Leben sehen. Hier stand ich, ausgesprochen hoffnungslos, schon sehr lange, kaum länger möglich, und stehen bleib ich, selbst wenn Erwartung mich aufzehrt wie Feuer das Reisig. Komm, hier gibt es nichts zu tun. Untätig sollst du sein und dich ausruhen. Komm, und wenn du unsere Sprache nicht sprichst, dann grüße mich. Grüß mich. Warum tust du’s nicht? Warum läßt du mich endlos rufen und reden? Den Gruß! Damit ich stumm erwidern kann. Den Gruß!
Damit ich mein Ja! drauf schweige.
Du bist nie hier in der Gegend gewesen. Du kommst hier an zum ersten Mal. Du weißt nicht, wo du bist. Du kommst nicht näher, obgleich du nicht aufhörst vorwärts zu gehen. Frag nicht, in welcher Gegend du dich befindest. Frag nicht nach dem Ort, frag nach der atmenden Stelle hier, dem Leib, dem einzigen Wegweiser in der wüsten Ebene, frag: »Wer bist du?« in deiner Sprache, und zur Antwort bekommst du einen Menschen, warm und lebendig, das ist mehr als ein Ort, ein Reich, ein Erdkreis.