Beobachten ist Denken und Denken ist Beobachten, heißt es in ›Der Wunderbrunnen‹ von Henry James.
Ein typischer Satz bereits auf den ersten Seiten: »Und ich bildete mir ein, sie betrachtete mich, um abzuschätzen, wie sehr ich es merke.« Oder: »Ihr Interesse an mir galt allein der Wirkung ihres Einflusses.«
Auf der Suche nach dem Gefährten der klügsten Frau in dieser Abendgesellschaft begegnete er einer erschöpften, ausgezehrten, einer halb schon verwahrlosten Person.
Es ist nun mal mein Ehrgeiz, sagte der unruhige Erzähler, den Wirkungsradius von Verfänglichkeit, die ein Mensch für den anderen besitzt, die geheimen zwischenpersönlichen Fluktuationen, wie James sie nennt, so minutiös wie möglich wiederzugeben. Dazu bediene er sich einer besonderen »Maßeinheit«, nämlich jener von ihm so genannten Nanomoralia, die dazu dienen, unter Gesellschaftspersonen die untergründigsten Regungen zu ermitteln. Obwohl sie beinah unmerklich stattfinden, entscheiden sie schließlich über das ganze und grobe Urteil, das einer über den anderen sich bildet.
Gleichzeitig muß er zugeben: Es würde ihm schwerfallen, jemanden akribisch zu beobachten, der sein volles Vertrauen genießt. Beobachtungsschärfe, ein Restinstinkt, stellt sich ursprünglich im Zusammenhang mit Mißtrauen ein, etwa gegenüber dem Fremden, dem möglichen Feind.
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Da erzählt jemand arglos von seinem letzten Urlaub bei Saint Malo, ein furchtbarer, ein reiner Durchhalteurlaub sei’s gewesen. Der andere lächelt schief, und ihm selbst schießt es durch den Kopf: Halt! Saint Malo! Durchhaltefestung der Deutschen 1944.
Mit dem ersten Wort einer beiläufigen Unterhaltung — rein ins Fettnäpfchen!
Immer wieder ist ihm, als verletze eine beliebige Bemerkung, sobald er sie mit einiger Entschiedenheit äußere, eine Vorliebe, etwas Hochgeschätztes bei seinem Gegenüber. Vielleicht ist es sogar geheimnisvoller; ist es gemeinerweise so, als gelinge es ihm mit einer geradezu teuflischen Unschuld unmittelbar ins Heikle zu treffen. Jener Bereich, in dem der andere seine empfindlichsten Güter bewahrt, zieht ihn unwiderstehlich an. Mit zwei, drei Repliken verschafft er sich Zugang, um den Ort sogleich zu schänden. Diese Anweglosigkeit — dies Vorstoßen scheint wie ein Gift zu wirken und die Intelligenz, die Abwehrkräfte eines arglosen Menschen augenblicklich zu lähmen. Er zeigt dann eine schmerzliche Miene oder leistet sich einen fluchtartigen Wechsel des Themas.
Mittlerweile habe er als Gesellschaftsperson mit dergleichen zwischenmenschlichem Feinstaub so seine Erfahrungen. Besondere Obacht widme er dem, der im Gespräch bei unterschiedlicher Meinung umstandslos die seine aufgibt. Denn er wisse nur zu genau, daß diese Person sich kurz darauf für ihre Selbstverräterei rächen wird, indem sie über ihn herzieht, einem Dritten gegenüber, und ein besonders abschätziges Urteil über sein Verhalten fällt. Deshalb lasse er den Abtrünnigen der eigenen Überzeugung, wie sehr er auch strebt, ihn zum Komplizen seiner Wechsellaune zu machen, grundsätzlich mit Eiseskälte abblitzen.
Auf der subpersonalen Ebene, also in der Sphäre menschlicher Elementarteilchen wechseln unentwegt Anziehung und Abstoßung ihre Ladungen. Dort kann es keine story geben. Nichts strebt hier einem Ende zu oder verliefe folgerichtig (linear). Es wimmelt von zu vielen Möglichkeiten und Virtualitäten, als daß die Entscheidung für nur eine Geschichte Wahrscheinlichkeit mit sich brächte.
Nein, erwidert dem unruhigen nun der gediegene Erzähler: Auf jedem Komplexitätsniveau läßt sich eine Geschichte erzählen. Die epische Kunst ist älter, reicher und tiefer als solch eine Quantentheorie der »Beziehungen« und enthält diese implizit auf ihre Weise.
Sicherlich, antwortete der Ungeduldige, ich überschätze Methoden grundsätzlich nicht. Doch mit dieser hier ließen sich zweifellos neue, unbekannte Dimensionen des Epischen entdecken. Zum Beispiel, was das Innenleben einer erzählten Person betrifft. Gemäß der Quantenanalyse befindet sich eine reale Person gleichzeitig in allen Gemütszuständen, die ihr möglich sind. In dem Augenblick der Messung — in dem Augenblick, da man sie ermißt, das heißt, das Wort an sie richtet oder sie nur erblickt, kollabiert, was der Quantenphysiker ihren »Superpositionszustand« nennt, ihren Superemotionszustand in unserem Fall. Oder ihre Superpersonalität. Und die Gesamtheit der Gemütszustände reduziert sich zu einer einzigen, zu der aktuell opportunen, erzählerisch erforderlichen emotionalen Regung.
Man redet eigentlich nie aneinander vorbei. Die unpassende Antwort, das abweichende Thema übertragen genau wie der Blick und das Wegblicken affektive Botschaften. Die Sprache zu zweit, die Zwie-Sprache wird von einem ständigen Sich-Wundern begleitet und davon nicht selten auch verunsichert.
Zwei, die sprechen, weben, weben. ›Man weiß nicht recht, worum es eigentlich geht? Worum ging es uns?‹ Nur darum, ein dichtes Geweb herzustellen miteinander?
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Am Fenster der Gedanken (nennen wir die Gesamtheit der Prozesse, die im Hirn während einer Außenwahrnehmung ablaufen, behelfsmäßig: Gedanken) huschen vereinzelte Schemen vorbei: nur notdürftig als Individuen verkleidete Grundgestalten des Menschseins. Es genügt ein Blick, d. i. eine Strahlenprobe, um jemandes Geschichte zu kennen. Der andere, sofern er der Gegenwärtige ist: seine Biographie ist nur ein Ring im Sphärengürtel seiner Anwesenheit. In dieser ist er gleichzeitig der Schreiter auf dem Kamm eines Gebirges und ein nervöser seine Zigarette zerbröselnder, eine Ehekrise durchstehender Verwaltungsbeamter. Was einer erlebt hat, seine Geschichte, ist etwas, das in seinem Orbit schwebt, im Teilchenstaub seiner Gegenwart. Und es ist das Ausgeprägte an ihm, Auge, Stimme, Hände und Gesamtes. Der andere ist immer mehr Ingefaltetes als Entfaltetes, mehr hermetische Lyrik als narratives Geschehen: Geschichte. Pellets, Strahlenkügelchen von Energie und Eigenart, damit wird man unentwegt beschossen. Die Begegnung mit dem andern ist lyrisch-stratosphärisch, niemals als erzählt zu verstehen. Wir »erzählen« von einem anderen nur das Oberflächlichste, etwas eigens Zurechtgemachtes. Der andere stellt aber, ohne es ausdrücklich zu wollen, seinem Gegenüber zur Aufgabe, sein Ingefaltetes zu verstehen — er will ganz oder gar nicht verstanden werden. Eine Zwangslesestunde für einen Legastheniker, so mag die Begegnung manch einem zur Last werden. Wir stottern an einem zusammenhanglosen, schier unleserlichen Text herum, das ist »der andere«.
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Stets hielt er diejenigen, die sich einbilden, die Sprache zu beherrschen, für armselige Eingebildete. War er doch überzeugt von den untergründig sich selbstorganisierenden Kräften der Sprache. Wie sich ein Satz findet, wie er sein Ende vermöge geheimster Attraktoren erreicht, darin hat er seinen Stifter und Autor von jeher überrundet.
Bis jetzt gab es keine Finesse beim Betrachten des Weltgeschehens, die nicht schon einmal in der Sprache entdeckt und ausgedrückt wurde. Unter der Herrschaft der Algorithmen verliert die semantische Sensibilität zunächst an Bedeutung. Bis man eines Tages das große (irrationale) Mehr wiederentdeckt, das Sprache allen übrigen Chiffrierungen voraushat.
Weshalb können die Menschen das, was sie können? Weil sie Alleingelassene sind. Ihr Alleinstellungsmerkmal, das Zeichen der Ausgesetztheit ist die Sprache, die jedem anderen Lebewesen fremde Sprache, die Fremdheit von Sprache an sich, die universal ist.
Könnte er für kurz sich seiner Art entäußern, so würde der Mensch in dieser Tier-Sekunde das maßlose Erschrecken vor der Sprache erfahren.
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Einmal ergab es sich, daß sie im Sportstudio eine Brünette am Ellbogen faßte, um ihr von einer Kritik am Trainer abzuraten, und dabei ein altes Wort benutzte: Auf das Scharmützel laß dich nicht ein! Worauf die starke Turnerin ein paar Sekunden stillstand, denn so lange brauchte sie, um den Tropfen fremde Sprache zu prüfen: Scharmützel … Ob das keine Beleidigung war.
Ärgerlich genug, daß man gezwungen war, bei allen Menschen zuerst auf ihre verbrauchten Innenteile zu stoßen. Was einmal ihr Herz war, war nun ihr Sprech.
Abgegriffen das Wort, ausgewohnt die Hütte, zersessen der Stuhl. Ein Monument der Schäbigkeit: die Ortschaft. Man darf nicht dorthin schauen, wo, was sie fälschlich Morgenröte nennen, Spuren der Verwüstung hinterließ. Es gibt noch Orte, Blicke, wo diese Morgenröte gar nicht erst hinkommt.
Die unruhigen Frauen, die an jeglichem Ort nach anderen, ferneren Orten sich sehnen; die nicht im Winter den Winter anerkennen; das reife Laub im Frühling suchen, an heißen Sommerabenden alles gäben für eine Schneeballschlacht.
Die keinen Mann begrüßen — ohne den Vorgeschmack, eines Tags ihm trauen zu dürfen.
Wir machen erst einmal Schluß, ziehen einen Schlußstrich, und ich lasse die Rechnung kommen. Was ihr später noch trinkt, der Morgen ist schon angebrochen, zahlt jeder selbst. Die Zwischensumme ziehe ich, danach ad libitum, sagt man das noch? … In den Rest der Nacht, Rest des Lebens hinaus geht ihr mit bezahlter Zwischensumme, ab jetzt, von hier und jetzt.
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Seine Aufrichtigkeit, die nicht wenigen so zusetzte, als wäre ein Säureattentat auf ihre Moral verübt worden, ging immer einher mit der Gefahr empfindlicher Einbußen bei der Wahrnehmung seines Gegenübers. Er wollte das Seine stets ohne Umschweife, ganz im Dienste der Unmittelbarkeit und eben der Aufrichtigkeit sagen. Ohne zu berücksichtigen, daß ein Mensch sogenannte endgültige Wahrheiten in seinem sonst nirgends endgültigem Leben gewöhnlich nicht für ernst nimmt. Hingegen sind das Geheimnis, das Schöne, das Unauflösliche — allesamt Medien einer tieferen und zugleich flüchtigen Verständigung. Um der Flüchtigkeit allen Gewahrens gerecht zu werden, bedarf es des Muts zur Zerstreutheit: Was du verstehst, löst sich dann in das, was es mitzuverstehen gibt, auf.
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— Ich wunderte mich, daß du auf seine Beleidigungen nicht reagiert hast.
— Ich hörte ihn reden, liebe Freundin, er redete dasselbe wie immer, vielleicht redete er auch etwas anderes. Aber die Worte, die Art, sie zu wählen und auszusprechen, sind mir allzu bekannt und sie legen einen geheimen Schlummer über mein Gehirn. Ich seh auf seinen Mund und meine Gedanken schweifen ab … Du meinst, er hat eine Beleidigung ganz unauffällig unter lauter gefällige Worte und Töne, ein Kraftwort, geschmuggelt?
— Es war so klar und niederträchtig, was er sagte. Schließlich war es nichts Geringes, er nannte dich eine Latrinennixe.
— Ausgesprochen hat er diese Worte. Ich höre noch von fern die Laute.
— Sie waren unzweideutig auf dich gemünzt!
— Ohne mich zu erschrecken. Ohne mich aus dem eintönigen Lauf seiner Rede einmal geradeheraus anzusprechen. Im Verborgenen der wohlvertrauten Töne plötzlich mich zu beleidigen! Einmal hat er’s gesagt, ist es losgeworden, kaum merklich.
— Und du tust nix?
— Nix, nein. Ich muß mich schonen. Das Ende kommt, das Enden naht. Mir ist, als ob ich für einen einzigen gottverdammten Schritt die Behausung des Menschlichen verlassen hätte. Einmal zu weit hinausgegangen! Einmal wirklich draußen gewesen.
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— Viele Fenster tanzten mir vor Augen wie Tiere des Monds … Ich erwachte zuweilen aus unserem Gespräch mit dem entsetzlichen Gedanken, daß Sie am Ende aller Tage der einzige Zeuge meiner Worte gewesen sein könnten.
— Mußte das noch gesagt werden? Es gibt das Gefühl, sich beschmutzt zu haben, wenn man mit einem ungeliebten Menschen ins Bett geht. Und es gibt das Gefühl sich beschmutzt zu haben, wenn man mit einem geliebten Menschen zu viel gesprochen hat.
— Es ist Katzenjammer, nicht Schmutz!
— Wir hatten das Glück, es aushalten zu können. Das Gesicht. Die Frage. Das Gehör. Die Hände. Nicht lockerzulassen. Nicht gleich davonzulaufen.
— Sie brauchten ja auch nicht davonzulaufen, weil Sie sich gedemütigt fühlten. Da ich Sie nicht gedemütigt habe.
— Wir werden nun hinter uns das Tor schließen, verriegeln, werden das Haus zu zweit verlassen, gemeinsam, in dem wir unzählige Versuche unternommen haben, von Raum zu Raum, den richtigen, den wohltuenden Abstand voneinander zu finden. Als ich noch ein Besessener war, Tag und Nacht arbeitete, Pläne und Werke hervorbrachte wie ein Kriegsherr, der sich Länder und Völker unterwirft, der keinen Einhalt mehr findet auf seinen Feldzügen … Sie haben mich angehalten! Weshalb?
— Wir haben einander angehalten. Warum?
— Weil wir nicht sofort und als erstes einander in die Arme sanken.
— Wir haben nie eine erste Umarmung gehabt. Es waren nachfolgende von Beginn an.
— Sie sprechen von der Fähre, die planmäßig täglich drei Mal von Ihrem Ufer zu meiner Insel übersetzte?
— Berührungen, Stippvisiten, Anlegemanöver.
— Sie werden mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen je ein Anlegemanöver verweigert hätte?
— Ist nicht verständlich, daß ein Mann für sein sperrigstes Teil einen Unterschlupf sucht?
— Nachsicht empfing Ihr Teil, Geschick bewies meine freundliche Lücke.
— Verzieh mehrmals, gewährte reichlich Verzeihen. War denn unter den vielen Malen nicht auch eines das erste? Jedenfalls bewirkten sie, daß das Interesse füreinander nicht abnahm und die Distanz zwischen uns nicht gestört wurde. Sagen wir doch —
— Sagen wir doch … nicht mehr, bitte! Vom Sagen auch noch zu reden!
— Wir schließen das Haus für alle Zeiten hinter uns ab?
— Wer behält den Schlüssel?
— Wir werfen ihn in den Gulli.
— Nein. Warten Sie. Ist unser Mißverständnis, tiefgründig wie es ist, nun doch verbraucht?
— Das Mißverständnis! Wie zart Sie sind. Ich glaube, daß es das reine und offene Unverständnis ist, das mich an Sie fesselt. Mit nicht nachlassendem Unverständnis, der Liebe nächstem Nachbarn, habe ich Ihre Schritte bestaunt, bin ich Ihren Worten gefolgt.
— Und doch ist es mir nicht einmal gelungen, Sie in Verwirrung zu bringen.
— Was hätten Sie damit erreicht?
— Glauben Sie, es gab etwas, das wir beide nicht erreichten?
— Natürlich. Das Glück. Wir haben das Glück nicht gekannt.
— Aber wie lange — auf welch ergiebige Weise haben wir vermocht, es gemeinsam zu entbehren!
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Feind der Ereignisse. Arbeiter an Dauer und Weile. Er sah nachts im Traum die Verstecke der Handelnden. Die Verstecke der Brennpunkte. Und war im wesentlichen damit beschäftigt, das Sein mit Sein-Lassen zu bestreiten. Kein Feuer, nur das Fernrot der zurückweichenden Nacht und die glühenden Wangen des Alleshinnehmenden auf seinem weißen Kissen.
Er beschritt eine unten nachwachsende Treppe. Sein Lebtag stieg er hinab, eine letzte Stufe betrat er nie.
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Der allzeit Unzeitgemäße suchte noch einmal zur Größe seiner Vorbilder sich aufzurichten. Wie ein Blitz wollte er zwischen die Heute-Anbeter fahren, Schrecken verbreiten, die bittere Schelte über sie bringen. Wollte ihnen das Leid-Wesen wiederentdecken, sie zwingen aufzublicken statt scheel aufs Display. Sie sollten leiden. Er wollte sie stürzen, verzweifeln, entgeistert sehen. Kein privates Wehweh. Sondern das unerbittliche Leid, das ein Hölderlin, ein Nietzsche ertragen mußten. Das kulturelle Leid, deutsch zu sein, zu fühlen, zu denken. Ende der Infodemenz, Ende des Gleich-Gültigen von allem und jedem. Nichts gefräßiger als die Bestie der Oberfläche. Nichts fortzeugender als das Unfruchtbare. Die Makulaturphasen der jüngeren Sittengeschichte nannte er sie: vom Minderheitenkult — nicht um eine ästhetische Avantgarde, sondern um die stupide geschlechtliche Identität — bis zum Spuk der 10-Millionen-Follower-Gemeinschaft. Von der selbstgefälligen Kolonialismus-Reue bis zum feministischen Verbandswesen (als dem Machtverzicht der Femina) mitsamt der Einführung einer Schabernack-Orthographie. Alles Gesinnungskitsch, so meinte er, nicht besseren Sinnen oder Gedanken geschuldet. Oder gar einem Traum. Oder einer Vision.
Zum Schutz und zur Erholung der elend politisierten, der geschunden-geschändeten Intimität hielt er es für unabdingbar, neue und ebenso verpflichtende Tabus bereitzustellen, wie die antirassistische Sprache sie beachtet.
Dabei helfe am wirksamsten das Lesen großer Werke, in denen das Unwort Sex nicht vorkomme und die genitale Geltungssucht noch nicht den Rang einer Kulturleistung behaupte.
Und an dieser Stelle, wenn er gerade nicht grummelnd sinnierte, sondern heftig mit einem Zeitgemäßen im Streit lag, gipfelten seine Worte gern in seinem Lieblingszitat:
»… so stehen auch wir vor und in einer spontanen Rekrudeszenz alter, einer spontanen Generation neuer moralischer Seuchen, die mit epidemischer Kraft um sich greifen und an den Grundlagen unserer Gesellschaft rütteln.« Das schrieb Theodor Mommsen 1880.
Im übrigen meinte er sich zu erinnern, in den Netzwerken der Genderisten bei Gelegenheit auf deren Ahnherren gestoßen zu sein. Das wäre nämlich Kaineus — »und er war geboren als Weib« (Ovid, Metamorphosen, XII, 174). Der als Mädchen Kainis hieß und von Poseidon vergewaltigt wurde. Als Buße für seine Gewalttat erfüllte er der jungen Frau den Wunsch, daß ihr nie wieder dergleichen geschehe, und verwandelte sie in einen Krieger der unverwundbaren Lapithen, die später die Kentauren besiegten. Während der Schlacht wurde Kaineus von Baumstämmen erdrückt und starb nicht von Menschenhand. Bei Vergil als einzigem unter den Erzählern der Sage wird er schließlich in der Unterwelt zurückverwandelt ins Weibliche. Zu Kaineus gehört als Verb καινόειν — neugestalten. Ich gestalte mich neu erschien dem Unzeitgemäßen jedenfalls ausdrucksvoller für den Geschlechtswandel als die blassen Trans-Konstruktionen.
Wie es nun im Unzeitgemäßen mehr und mehr brodelte und rumorte, trat ein junger Gedankenleser an seine Seite und legte ihm die Hand auf die Schulter. Er sagte nur: Ach mein Lieber. Und legte ihm erneut die Hand auf die Schulter, als wollte er fortfahren: Wenn du wüßtest. Oder: Was dir nicht alles den Kopf verdreht! Und wie überflüssig ist es doch!
Jedenfalls einer, der rundum zur Petitesse erklärte, was den seiner Zeit Abspenstigen plagte und bedrängte. Ein etwas eingebildeter Gedankenleser, der mitleidig grinste zum schweren Deutschsein, das der Unzeitgemäße den Genossen der Zeit in Erinnerung rufen wollte.
Mit Verachtung strafte er’s, dies joviale Verstummen nach der Anrede, dies schoflige Ellipsieren. Und selbst wenn! Auch ein Unzeitgemäßer genießt Minderheitenschutz, auch er darf seine Stimme erheben! Er muß reden dürfen, bis es ihm selber zuviel wird. Das ist Freiheit. Er redet schließlich nicht, um von irgendeinem eingebildeten Wortkargling gerichtet zu werden. Im übrigen hielt er dessen Schweigen für nichtssagend. Der spart seine Worte keineswegs auf, sie fehlen ihm einfach.
Doch plötzlich kam von diesem heimlichen Mitwisser ein einziges Wort, fast möchte man sagen: er verlor es. Jawohl, er verlor sein einziges Wort.
Und es lautete: »Wir wollten Babel heilen, aber es war nicht mehr zu heilen. Jeremias 51, Vers 9.«
Seine Hand, die lange auf dem Unzeitgemäßen ruhte, hob sich ein wenig und klopfte zum Abschied zweimal ermutigend auf dessen Schulter.
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In den Grundbildern ist kein Raum für Unbekanntes. Hier ist alles vorausgesehen. Im Symbol, also im Zusammengefaßten von Bild und Idee, erschöpft sich nicht nur die menschliche Vorstellungskraft, sondern auch die weltliche Ereignispotenz. Tiefer als die Grundbilder reichen weder Denken noch Geschehen: Labyrinth, Höhle, Maelstrom, Turm von Babylon.
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Man sagt so schnell: was bin ich für ein Narr gewesen! Aber welche Geschichte steckt dahinter? Wo genau liegt der Täuschungs-, der Selbsttäuschungsbruch? Wichtiger noch: wie kann man so sicher sein, daß man in der begeisterten Einsicht, ein Narr gewesen zu sein, nicht wiederum einer Täuschung unterliegt, weil man bei den vielen Schuppen, die einem von den Augen fallen, gar nicht bemerkt, daß man auf der um eine Einsicht höheren Stufe wiederum zum Narren wird und immer einer bleiben wird, da jede gewonnene Einsicht weiter aufsteigend einer verbesserten zum Opfer fällt.
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Ein Waffelverkäufer in der Einkaufspassage und ein Liebespaar, das sich mit dem Rücken an der Wand entlangdrückt, dann draußen mit dem Rücken an einem Lieferwagen entlang, später in ihrem Hausflur mit dem Rücken an der Wand entlang, und er erzählt von den Gefahren des 20. Jahrhunderts, die nun aus dem 20. Jahrhundert wiederkehrende Gefahren sind, in neuartigen Dimensionen, und die beiden drücken sich, wo auch immer, in großer Vorsicht mit dem Rücken an der Wand entlang.
»Vom Taglicht kann man sagen, daß es uns einschließt. Von der Nacht, daß sie alle Türen aufreißt. Aber wir können nicht fliehen, obwohl uns der Traum den Rhythmus der Flucht einhämmert. Wir sind voller Flucht — und kommen nicht von der Stelle.«
»Es beruhigt mich, wenn ich dich nur undeutlich höre. Es gefällt mir, wenn ich dich wie von fern oder wie in einem knisternden Nebel verstehe. Den Abstand, der zwischen unseren Körpern verlorenging, ersetzt nun die Entfernung, in der wir unsere Worte vernehmen.«
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Die schöne Weiterweisende besucht dich in der Einöde nicht. Sie tritt dir aber in gemischter Gesellschaft entgegen — und verführt dann aus jeder Gesellschaft hinaus.
Sie, die du für die Bestangepaßte hieltest, enthüllt sich dir als große Freistehende, als die Weithinausweisende … und eure künftigen Schritte stehen längst chiffriert in winziger Bilderschrift auf dem ihr helles Haar fassenden Reif.
»Ich bin es, die zu dir aus der wirren Menge hervortrat, eben noch ein Teil von ihr. Ich, die anfangs deinen Überdruß erregte, denn ich besitze die Unduldsamkeit, die andere kränkt. Und die Kraft der Widerrede, die andere kleinlaut werden läßt. Du wirst mir folgen unter Flüchen und Stöhnen. Denn das Maßlose der Wörter, wie man’s sonst nur kennt als das Maßlose des Tanzes und der Sucht, wird dich ermüden. Ich hingegen möchte draußen mit dem Sturm ringen, der durch das Dörrgras fegt. Und zwar so, wie nur ich zurückstürme, wenn mich einer anweht.«
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»Der Teufel wußte nicht, was er tat, als er den Menschen politisch machte«, Shakespeare, Timon von Athen.
TIMON zieht in den Wald. Unsinnige Neuerungen überall, denen man besser den Rücken kehrt. Neue Menschen? Ach, bloß Neukostümierte. Behängt mit Cargo-Stücken aus der Früheren Welt. Bric-à-brac- Figuren, Plunderwesen. Alkibiades wohnt inzwischen auch unter den Föhren. Aber der hat diese seltsame Frau im Schlepptau. Die Burschikose mit der karierten Fliege überm karierten Flanellhemd und dauernd in Reithosen. Dünne Lippen, großes Gebiß. Sehr wäßriger Mund. Drei Menschen, auswärts jetzt, die einst in Athen die großen Feste feierten. Ich will euch einmal den Beweis antreten, daß entgegen der allgemeinen Ansicht die vier sogenannten Elementarkräfte, starke, schwache Wechselwirkung, Gravitation, elektromagnetische Kraft, die die Welt angeblich zusammenhalten, diese innersten Bestandteile der Welt seit langem, seit Schöpfungsbeginn, im Zorn auseinanderstreben. Welch ungeheuer verzögertes Aufhören! Welch katastrophal verlängertes Enden von allem, von allem und jedem, vorzüglich aber von dem ganzen wunderbaren und entsetzlichen, schäbigen und tröstlichen Witz, genannt ›der Mensch‹. Man beweise mir einen einzigen Zusammenhang in dieser Welt! Wenn ihr etwas bis ins Feinste untersucht, so weicht darin zuletzt jeder Bestandteil dem anderen aus. Sie weichen auseinander!
ALKIBIADES hört weiter nicht hin, sondern stopft zusammen mit seiner überaus karierten Gesellin dicke Batzen Wiesenmahd in schwarze Rohrausgänge, weil er die Stimmen nicht mehr hören will, die aus der Erde kommen. Tatsächlich befindet sich tief unter dem Hügel eine gläserne Halle, hell erleuchtet, in der die Unterirdischen auf Laufbändern hin und her fahren und sich mit lauten Stimmen Mut zur Ewigkeit zurufen.
DIE KARIERTE Meine Gebete sind dünn, meine Rufe tragen nicht weit, die Welt macht nach woanders hin (als ich’s gern hätte). Lange mitgelaufen mitgetrappelt mitgestrampelt zwischen Bett und Besenkammer. Dann haltgemacht. Stehengeblieben. Den Kopf geschüttelt. Langsam umgekehrt. Von wo man losrannte, dort war’s besser.
TIMON beiseite Es zieht sie immer tiefer rein in diesen Muskel-Mann. Irgendwann wird sie wieder zwischen seinen Rippen liegen. Hallo, Menschen! Bin zurück am Ausgangsort!
Zu Alkibiades Nicht können allein, sondern nicht anders können. Das muß sie lernen, darauf kommt’s an. Nicht die Kristallschärfe allein, da ist auch noch der Herzschlag, die Träne, die Schmelze. Da sind Heiterkeit, Trauer und Jähzorn. Nicht die Stille allein, da gibt’s auch noch den Klatsch und Klamauk, das Sichvergessen und das Imponiergehabe.
ALKIBIADES Und das soll alles in diese karierte Frau gegossen werden, damit soll sie belebt werden? Nur ein Künstler vermag das. Doch ich bin nur ein Lieferant von Ersatzteilen.
DIE KARIERTE Ich unterschob mich dem Alkibiades mit Haut und Haar. Doch er umklammert nur mein Handgelenk mit seiner Faust.
TIMON laut und ungeduldig Ich bin gar nicht fähig, jemand anderem zuzuhören, ich schwelle von Neuigkeiten. Werde ich sie nicht los, so muß ich bersten und verspritze den ganzen Bewußtseins-Saft in eure Gesichter. Wenn ihr mir dazwischenredet und mich nicht ausreden laßt, dann zerreiße ich meine ganze feingewebte Weisheit in hundert unverständliche Fetzen!… Unvereinbarkeit erhält die Welt. Der Mensch? Noch immer sprechen die Erdenbürger aus dem Mund einer entwicklungsgeschichtlich unfertigen Vorerstkreatur. Sie sprechen aus dem Mund eines über Jahrtausende noch immer nicht voll und ganz Mensch gewordenen Wesens. Wie sollte es je zu einem guten Ende finden: das zyklische Gären, die ewige Unreife von Mensch und Bewandtnis, Planen und Erinnern, Traum und Trieb, die ewige Unreife des Wissens und Beschließens. Der Gedanken und Sentimente. Das Furchtbarste und das Nützlichste: Alles steckt noch in Kinderschuhen! Ein Anti-Evolutionist erzählt uns, daß irgendwann von irgendwo ein »großer Mensch« auf die Erde gelangte, den alle übrigen Hominiden ungeschickt nachzuahmen suchten. Nicht eritis sicut deus, sondern imitatio hominis maioris wäre nach dieser Theorie der Weg der höheren Artentwicklung. Auch wir Unreifen jetzt stellen nur einen weiteren Versuch dar, diesem ursprünglich Großen, dessen Gestalt und Kraft in unserem Ahnen unauslöschlich wurde, irgendwann gleich zu kommen. Ich wiederhole mich: Jedes Ding entstrebt sich. Es taucht nur kurz auf einer der unzähligen Verbindungslinien auf, die zu ihm hin und dann für immer von ihm fortführen, ins Meer endgültiger Unverbundenheit. Alle links der Erde führen zu einem großen und wilden missing issue. Zum Etwaslosen. Die Sache selbst ist nur mit 58 Prozent Wahrscheinlichkeit auf der Welt. Alles übrige besteht aus offenen Verbindungen, Querverbindungen ohne Ende, in denen sie sich auflöst, die Sache, sich selbst verliert. Vergessen wir jene Welt, in der wir noch wir sagen konnten!
ALKIBIADES Du sprichst mir aus der Seele.
TIMON Sag doch: du nimmst mir das Wort aus dem Mund.
ALKIBIADES Warum?
TIMON Seele, ich weiß nicht, paßt nicht recht zu dir.
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Auf seinem alten Schulhof stand er und war ein abgestandener Mann. Hier war es, wo sich ihm einst die ersten Begriffe bildeten, durch die er »in seine Zeit« eintrat. Diese Zeit war längst abgelaufen, doch er besaß immer noch nichts Besseres als seine alten jungen Begriffe, und er mußte sie für sich behalten. Nein, ich sage nichts! rief er aus, wenn ihn jemand nach seinen Begriffen fragte, ich gebe nichts von meinen alten jungen Begriffen preis. Nur schweigend kann er sie hüten, denn sie sind ihm teuer.
»Bin glücklich und bitter gewesen. Verliebt und verlassen. Zornig wie ein Specht, weich wie ein Polyp. Kein Ruhm, kein Amt. Eigentlich bin ich bloß sitzen geblieben. Ich habe mein Lebtag die letzte Klasse vorm Abitur wiederholt.«
»Wovon haben Sie denn gelebt?«
»Mein Gott, was brauche ich schon. Ich kaufe keine Bücher, ich habe mein Plätzchen in der Bibliothek. Ich esse wenig. Ich bin mit dem niedrigsten Beitragssatz in der Krankenversicherung. Die Stube, in der ich wohne, befindet sich in einem Haus, das einem gütigen Schwager von mir gehört. Gehlen hat irgendwo gesagt: Fast alles hat der Kapitalismus seiner Lebensart assimiliert, nur die Askese spielte nie eine Rolle. Dabei hat man es schwarz auf weiß von den Größen des Altertums, denen man ja sonst alles glaubt … Bedürfnislosigkeit ist die Voraussetzung für ein bekömmliches Leben. Aber seit der Französischen Revolution hat Askese keine Rolle in der Gesellschaft mehr gespielt. Schade. Und letztlich ein Makel der Moderne.«
»Das sagen Sie, ein misogyner Zölibatär! Sie können es sagen, aber ein verheirateter Mann mit zwei Kindern, der kann sich Askese nicht leisten. Dem nützt keine Stube, die ein gütiger Schwager ihm kostenlos überläßt. Der kommt nicht als ewiger Lehrling durchs Leben.
Die sozial Schwachen, die sozial Schwachen … wer ist damit gemeint? Ich bin ein sozial Schwacher. Haben Sie sich ihn so vorgestellt? Ich bin es, jawohl, zwei heranwachsende Kinder und kein Arbeitsplatz. Verloren vor acht Jahren. Opelkrise. Sie haben sicher davon gehört. Und ich finde, daß endlich Schluß sein muß mit —«
»Womit?«
»Mit den Allerweltsbegriffen. Ich möchte ein sozial Schwacher zum Anfassen sein. Ein konkretes Beispiel, meinetwegen, aber vor allem ein Mensch mit fünf gesunden Sinnen, der nicht niedergemacht werden will von einem Pauschalbegriff, einer biestigen Abstraktion, unter der man ihn verschwinden läßt. Ich bin auch noch: Angler! Ich sammle Ammoniten-Steine. Ich bin ein ziemlich guter Märchenerzähler, überhaupt ein Vater, den man alles nennen kann, nur nicht schwach. Ich bin ein ganz normaler mittelloser Mensch.«
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Hofmannsthal schrieb mit 28 Jahren den Brief des Lord Chandos, Valéry mit 25 Monsieur Teste, Sartre mit 33 La Nausée/ Der Ekel …
Auch der allzeit Unzeitgemäße suchte nach dem treffenden Krisen-Bild für seine Zeit. Die Magie der Epochen-Metapher sollte ihn in das jugendliche Alter versetzen, in dem die großen Krisen-Künstler einst das ihre fanden. Sobald er die eine unwiderstehliche Metapher zu fassen bekäme, ließe sich die neue, nur zu seiner Ära passende Krise namhaft machen und würde ihm Jugend bringen, wie er sie in seiner Jugend nicht gekannt.
Doch das durchschlagende Bild blieb aus, die Jahrhundert- Metapher versagte sich ihm.
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Als Behelf diente ihm die Phantasie vom viralen désintéressement. Absturz in die Teilnahmslosigkeit, die weltweit alle Vernetzten gleichzeitig befällt. Eines Tages schlägt mitten im Instagram die letzte Stunde des Instagrams. Eine Revolution der Unlust! Ein kommunikativer Gau, Online-Doomsday. Ein Befreiungsschlag, geboren aus dem reinen, explosiven Desinteresse. Es herrscht: Teilnahmslosigkeit. Eine solche Unterbrechung hatte es in der Geschichte der miteinander beschäftigten Menschen noch nie gegeben.
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Nun, er spreche ohnehin zu lauter Abgewandten, sagte sich der allzeit Unzeitgemäße, die eine Empfangsfrequenz für jeden anderen Ton besitzen außer für den seinen. Man kann aber nicht, ohne sich lächerlich zu machen, fortwährend ohne Widerhall in anderer Leute unwendbaren Rücken reden. Man schweigt also besser. Das Unlautere daran ist nur: man hofft insgeheim, daß dieses Schweigen auffällt. Bemerkt wird. Daß es an irgendeinem Rücken zehrt oder kitzelt, so daß einer vielleicht doch meint, sich umdrehen zu sollen, und, so hofft man kleinmütig, dann trifft vom Gewendeten, Angesichtigen vielleicht ein aufrüttelndes »Warum sagen Sie nichts?« den Schweiger — und schon wäre er erlöst.
»Man verstehe mich recht: nicht alles auf Erden wächst, und Vielfalt ist zum Beispiel nicht das Ziel unserer Verkehrsordnung, unserer Religion oder unserer Wasserzufuhr. Das Menschenleben hat sich im Naturfernen ebenso würdig zu behaupten wie im Natürgemäßen. Wir sind teils lebende, teils künstliche Geschöpfe. Nur daß das Künstliche bei uns auch das Idealische ist.«
»Genug von dem!« schreit ein Dritter und dreht den Zuhörenden wieder um in die Reihe der Abgewandten. »Laßt den Mann im Regen stehen. Er ist ein Gaukler von vorvorgestern. Wir sehen jetzt den neuen Gauklern zu. Artisten, die mehr sein wollen als Artisten, kommen schnell zu Fall.«
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Im Traum machte er die Bekanntschaft des Philosophen Oskar Scheun. Es war nur ein Bild von ihm, das sein Oneiroskop (Sehhilfe des Träumenden) erfaßte und ihm nahebrachte, ein schwaches Foto, zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag in einer Kölner Zeitung erschienen. Er saß an einem Schreibtisch mit aufgerichtetem Denker-Gesicht, ohne Eitelkeit darin, sondern von Geduld und Einsicht gezeichnet, die rechte Hälfte wurde vom Fensterlicht beschienen. Sein Denken, hieß es, kreiste im wesentlichen um das menschliche Raumgefühl und dessen geschichtlichen Wandel, Schüler von O. F. Bollnow. Die letzten Jahre vor der Emeritierung lehrte er an der Pädagogischen Hochschule Elberfeld. Er gehörte nicht zu den namhaften Philosophen der Zeit, seine Veröffentlichungen beschränkten sich auf Fachzeitschriften, zum siebzigsten Geburtstag erschien keine Festschrift. Die meisten seiner Schüler hatten sich im praktischen Berufsleben von der Philosophie wieder entfernt. Er aber hielt an seinen sorgfältig überprüften Gedanken fest und verbitterte nicht.
Das Bild zeigte einen alten Mann, dessen Gesicht vom Denken, von Bescheidung und Ruhmverzicht geprägt, geklärt und vollkommen lauter war.
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Die meisten Denker waren auf ihren Park-Bänken zufrieden eingenickt. Darunter der Lacanist, der Systemtheoretiker, die analytische Schule, der Neurophilosoph. Nur dem Pyrrhonisten sprühte noch das geistige Leben aus den Augen, er glühte vor Feststellungseifer. Vom Enthusiasmus der Skepsis ergriffen, fehlte es ihm nah und fern nicht an Material, um, ohne den geringsten Zweifel an der eigenen Begeisterung, allem unbegründet erscheinenden Zweifel im Nu einen triftigen Grund zu verschaffen.
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In einer fremden Stadt, vor vielen Jahren, auf der Eingangstreppe eines Keller-Antiquariats vor einem Unbekannten stehen, mit dem man Lektüre-Empfehlungen austauscht, Lesetips. Andere Leute, Stammkunden am Samstagvormittag, müssen sich hindurchzwängen zwischen zwei Männern, die den erregten Handel mit Lesefrüchten nicht unterbrechen wollen. Allenfalls, wenn für einen Beleibten gar kein Durchkommen ist, tritt einer von beiden eine Stufe tiefer oder höher, öffnet das mindeste an Zwischenraum, das sie gewähren können, um nicht aus dem Schwung der Meinungen zu kommen, doch dann sofort zurück auf die gleiche Stufe und ins nahe, frohe Gegenüber.
Plötzlich aber der Auftritt einer jungen Frau, die wie eine erzürnte Lehrerin die Klassenzimmertür aufreißt, Frau mit schwarzen Haarzipfeln in der Stirn: keine Augen zu sehen, nur Haut, wie zugenäht die Lider, Hast in allen Gliedern, keine Schlafwandlerin, eine Schlafstürmerin, so eilt sie die Stufen hinab ins Antiquariat, stellt sich vor ein Regal mit Raritäten und berichtet blind, atemlos aus dem menschenleeren Stadion ihrer Zehnkampf-Nacht.
Ich aber, ich komme noch einmal darauf zurück …
So beginnen erneut die beiden Lese-Männer, die auf der Treppe wieder enger beieinanderstehen.
Der Leopold-Andrian-Komplex! … Das bedeutet, jemand, so einer wie seinerzeit der träumerische Österreicher in seinem Buch ›Der Garten der Erkenntnis‹, verlöre sich wieder einmal an Verwunschenes, Verfallenes, Vereinzeltes und seit langem Vergangenes. So daß er im Ton einer schreckhaften Empfindlichkeit zurückwiche vor den Billiglebenden, sich flüchtete in eine Festung der Feinheiten, zu seinem Schutz ein Kettenhemd trüge aus Anspielungen, Anlehnungen, Vorlieben und Hingaben; gar zum Schluß sich selber auflöste und nur noch bestünde aus dem Dunst einer kostbaren Entlegenheit … Von wegen Weltflucht! Gläserner Turm, Introspektion: alles plappernde Vernunft. Lasches Geraunze von papierenen Allerweltsrittern, die nicht vom Fleck rücken — im Unterschied zum Ritter des Zurückkommens auf die kostbaren Dinge, die er einst beim Vorpreschen übersah. Und dabei sich bemüht, wo er auf dem Hinweg zuviel Spur in den Boden drückte, sie auf dem Heimweg zu verwischen, unkenntlich zu machen.
Und schon holt der andere, sein engagiertes Treppen-Gegenüber, noch weiter aus:
— Wenn wir wieder unter uns sind … Schreiben und Lesen Sache der wenigen wie zu den besten Zeiten des Abendlands. Wie werden wir in Entdeckungen schwelgen, nach dieser Dürre der Vergangenheitsentbehrung! Wie werden wir mit Wiedergefundenem unsere Tage verlängern. Sobald also die Schrift nur noch ein Medium der Hinterlassenschaft und Lesen ein Ritus des Vermissens sein werden …
Dem entspräche eine Empfindlichkeit, die in so manchem, das gerade geschieht, eher das Überbleibsel, das Hinterlassene entdeckt anstelle von Tendenz, Erwartung, Vorsprung, Innovation. Ein kleines Beispiel.
Eine Zimmerung ist eine Holzkonstruktion zum Abstützen der Schächte in einer Grube. Eine Binge ist eine durch Einsturz alter Grubenbauten entstandene trichterförmige Vertiefung der Erdoberfläche. Abteufen: einen Schacht senkrecht in die Tiefe bohren. Ich will sagen: so manches bleibt zurück aus der Sprache des Bergmanns nach Absterben seines Handwerks. Es steigt Sprache von Unter-der-Erde auf, aus der Nachbarschaft der heute verpönten fossilen Brennstoffe — und selbst die Sprache der Erneuerbaren kommt nicht ohne den Bergmann aus: windhöffig muß eine Gegend sein, die man mit Windkrafträdern spickt — wie eben einst unter Tage ein Gebiet höffig genannt wurde, wenn dort größere Mengen an Rohstoffen vermutet wurden.
— Nicht wahr, beginnt nun wieder der andere und geht auf der Treppe zwei Stufen aufwärts und gleich wieder runter, nur um sich die Füße ein wenig zu vertreten. Nicht wahr: Das totum digitale, so möchte man meinen, vertriebe jede Regung »aus alten Tagen«. Diese sind jedoch in diesem Ganzen enthalten. Nichts ist mehr wie früher — doch das künstliche Ganze stellt auch ein Früher wieder her und stellt es zur Verfügung.
Das Digitalium, indem es alles versammelt und bewahrt, fördert gerade damit das subjektive Vergessen. Es handelt mit Verbindungen in dem Maße, als es ein Ethos der Verbundenheit nicht besitzt.
Eine lange Zeit noch wird sich Gemeinschaft vor allem in sozialen Netzen bilden und wieder verlieren. Wir finden nur zu uns, wenn wir einer unter Millionen sind. Der Mensch ist ein übereinstimmungsbedürftiges Wesen. Er ist von Stimmfühlung so abhängig wie die schnatternden Wildgänse auf ihrem Heimflug.
In welcher Verbannung lebt dann aber der alte, der Kierkegaardsche Einzelne?
»Die Pointe beim Menschen ist: daß die Einzahl das Höchste ist, 1000 von ihnen ist weniger wert.« So Kierkegaard in seinen ›Geheimen Papieren‹.
Und wieder der andere auf der unteren Stufe:
— Wir wissen ja, daß Vergangenheit nicht einfach ruht oder sich mit einem gelegentlichen Techtelmechtel zufrieden gibt. Wir wissen vielmehr, daß sie eines Tages als der graue Bart, als riesig hohe Wellenwand aufersteht, unda tumescens, den Vergeßlichen in seinem lifeboat zu erschlagen droht. Der Kultur-Schock, der nicht den Wilden, sondern den Vergeßlichen mit der Wucht eines Tsunami trifft, Vergangenheit wird ihn als etwas Unbezähmbares anfallen, sie wird im Zivilisationsbereich das sein, was in der Natur die aufgewühlten Elemente sind, und sie wird in dem Moment, wo einer isoliert und ganz allein ist, ihn angreifen.
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Man nimmt von der Straße den weitoffenen Eingang zu einer Ladenpassage mitten in der Stadt. Man schmiegt sich mit Wohlgefühl dem Lauf der Passanten an und bemerkt gar nicht, wie er sich allmählich verringert und die meisten in links und rechts abzweigenden Gassen verschwinden, so daß man schließlich ganz allein auf einem nun schmaleren gefliesten Pfad weitergeht, den keine Geschäfte mehr säumen.
Plötzlich steht man vor einer weißen hohen Mauer. Der Weg ist zuende, abgesperrt, obwohl ihm der Gänger von Anfang geradeaus und richtungstreu gefolgt war. Der einladende, breite Zugang von der Straße aber endete abrupt vor einer glatten weißen Wand. »Da stehe ich nun wie der Ochs vorm Scheunentor.«
So enden urplötzlich vollkommen offen beginnende, verlockend davonführende Wege: vor einer hohen unüberwindlichen Sperre, die kein Ausweichen oder Umgehen erlauben. Sondern nur ein unwilliges, enttäuschtes, bitteres Zurück. Aber ist es nicht auch ein Stück Theologie, dem Menschen ab und an künstlich die Wege zu versperren, ihn allenthalben fühlen zu lassen, er stehe auf Erden immer wieder irgendwo wie ein Ochs vorm Scheunentor. Nicht zuletzt, um ihm die Verheißung vom ewig unversperrten Wandel, vom mauerlosen Hinübersein (Jenseits) ein wenig schmackhafter zu machen.
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Mitten im Zimmer eisern stehengeblieben, mit geschlossenen Beinen, antennensteif der senkrechte Mann, aufragend im Harfen-Ornament des Teppichs, um endlos daherzusagen, was ihm eingegeben: Tausende unbekannter Namen, die er empfängt, Gefallene unter ihren unbeschrifteten Holzkreuzen, einer nach dem anderen, vollzählig ein Soldatenfriedhof in der Eifel, alle Namen ausgerufen von einem aufgerichteten Menschen, ihre Namen, die ihm die Toten sandten, unter der Erde plötzlich von der Panik gepackt, daß auf ewig ihr Name verloren sei.
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Zuweilen ist gerade die feine und rücksichtsvolle Belanglosigkeit eines Gesprächs beglückend. Weil man nichts drunter, nichts drüber verstehen muß, sondern nur spürt, daß der andere um der Freundlichkeit willen spricht. Man genießt, daß er großzügig genug ist, auf eine naheliegende Konfrontation zu verzichten, und stattdessen die Zone vorzieht, wo unerhebliche Verständigungen Wunder wirken: die der Sympathie. Meinungen sind unumgänglich und werden auch hier geäußert, doch ohne jeden persönlichen Ehrgeiz, ohne Bekehrungs- oder Zustimmungsgebot. Es fehlt auch nicht an Verständnis für den Flirt, den der gutgekleidete Sinn mit dem blanken Unsinn treibt. Es geht letztlich um den ästhetischen Reiz beim Horchen: Wie sagt er das? Und nicht: Wie meint er das eigentlich?
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Beachte einmal die besondere Höflichkeit, die ein Mensch besitzt, der ein wenig welterfahren ist, den du immerzu unterbrichst, weil du dir das im engen Kreis deiner Vertrauten so angewöhnt hast. Jetzt aber errötest du, denn du bemerkst, daß der höfliche Mensch nicht etwa lauter spricht, lauter sich über dich hinwegsetzt, sondern sich sofort zurücknimmt und kaum hast du den Mund geöffnet, sogleich sich selber unterbricht und aufmerksam wartet, was der andere, was nämlich du einzuwenden hast. Wie anteilnehmend er sich erkundigt und nachfragt! Und wie ekelhaft verhetzt und nur mit dir und deiner Äußerung beschäftigt du selber sprichst!
Und so fort. In Gesellschaft findet man immer aufs neue Gelegenheit, seine Sammlung von Nanomoralia zu erweitern.
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Die Kellner in der Trattoria »Sorriso« am Rialtomarkt, mindestens acht oder zehn an der Zahl, besitzen jeder für sich einen Stil der verspielten, scherzhaften Aufnahme und Kommentierung der Bestellungen, und diesen Unernst führen sie auf die Dauer eines Mittagessens allmählich auf die Spitze, indem sie untereinander bei ihren Besorgungen nicht nur unentwegt in Fühlungnahme sowie durch Zurufe und despektierliche Anmerkungen im Ensemble bleiben, sondern auch dieses zu einem virtuosen Bedienungstanz, zu einem wahren Ballett des Servierens und Kassierens ausbauen. Ja, es waren aus kunstfertiger Unordnung und Selbstironie geborene Komödien mit längeren Nummern und Soli, die sowohl die komische Rolle des Gastes wie die Betriebsamkeit des Dienstpersonals zur Schau stellten.
Wenn man ihnen indessen nachmittags nach Dienstschluß auf der Gasse oder im Vaporetto begegnete, ohne ihre weiße Jacke, im schicken Loden- oder Kaschmirmantel, dann waren sie völlig humorlose, träge, ihres Berufs, ihrer Virtuosen-Rolle gänzlich uneingedenke Gestalten, kleine zeitunglesende Nörgler und Miesnickel, die selbst die treusten Mittagsgäste nicht wiedererkannten oder sie übersahen.
Ein junger Kerl ist zurück im Betrieb, den der tafelnde Rentsch, Residente auf der Giudecca, mit Ironie begrüßt. Kaum daß er noch in seine Kellnerjacke paßt, so breit ist sein Brustkorb, denn er hebt zusammen mit seinem Vater Gewichte, und zusammen mit seinem Vater verschwand er im vergangenen Jahr nach Mexiko. Offenbar war der äußere Anlaß ein sportliches Ereignis, jedenfalls flogen sie als Amateure des Gewichthebens kostenlos hinüber. Aber der junge Kellner verliebte sich in eine Mexikanerin und heirate sie halsüberkopf. Die Ehe — immer mit dem Vater zur Seite, der den Sohn weiter zum Gewichtheben antrieb — geriet in der wachsenden, täglich größere Sprünge machenden Inflation unter Druck: Die aus Italien mitgeführte, jedoch in labiles mexikanisches Geld vollständig eingetauschte Barschaft schoß in ihrem Gegenwert gegen Null, ohne daß die beiden Venezianer etwa durch ihrer Arme Kräfte für die nötige Aufbesserung hätten sorgen können. Das ganze Abenteuer ging nun sehr schnell seinem Ende entgegen. Nach einem knappen Jahr waren Vater und Sohn wieder in der Heimat, der Sohn zurück an seinem Arbeitsplatz im »Sorriso«.
Es war aber keinesfalls so, daß mir Rentsch diese Geschichte in kürzester Form hätte mitteilen können. Ich erriet sie vielmehr aus dem Abtausch der verschiedenen Scherze, die der Kellner und der Stammgast zum besten gaben. Ich verlor mich für gewöhnlich in Gedanken, während Rentsch redete, ich konnte seinen Worten nur mühsam folgen, nicht weil sie schwerverständlich waren, sondern weil sie mich durch einen mal stockenden, mal leerlaufenden Redefluß ermüdeten und ablenkten. Seit längerem war meine Fähigkeit, dem Inhalt von etwas Mitgeteiltem Aufmerksamkeit zu schenken, stark beeinträchtigt. Ich reagierte viel zu stark auf das Untergründige einer Rede, viel zu intensiv auf die Modulationen der Stimme, auf jede Gemütsnuance, auf den gesamten emotionalen Anspruch einer Verlautbarung, so daß ich häufig nicht mitbekam, was mir gesagt, um so prägnanter aber, was mir bedeutet werden sollte. Bei Rentsch kam erschwerend hinzu, daß sein ständiges Zögern, Widerrufen, rhetorisches Zweifeln an den eigenen Worten das Gespräch mit ihm zur Qual werden ließ. In die Austastlücken, in die Pausen der Wortfindungen und Wortwiderrufe sprang ich jedesmal hinein, sie veranlaßten, ja zwangen mich, ihm mit irgendetwas auszuhelfen, das ihn ergänzen sollte. Ich versuchte an etwas anzuknüpfen, das er kurz zuvor »angeschnitten«, aber nicht ausgeführt hatte. Wobei ich mich nicht selten versah und auf etwas völlig anderes zu sprechen kam, als er in einem von ihm nicht beendeten, nicht zustande gebrachten Zusammenhang erwähnt hatte. Aber je hilfreicher ich mich ihm zuwandte, um so schneller zerbröckelte die eigentliche Absicht seiner Worte. Mir schien, er sprach dann nur noch, um mich mit seiner unleidlichen Stimme zu ärgern. Und ich höre diesen Selbstbefangenen, wie er in einem abrupten Drang etwas von sich selber bekennen, es aus seinem Innersten hervorholen möchte, das kurz darauf, so schonungslos er es auch einkreist und faßt, als Bekenntnis wieder abbricht, um einer Reflexion darüber zu weichen, welches wohl der vorherrschenden Eindruck sein könnte, den er auf mich mache.
»Ich besitze nun einmal diese öde, eintönige Stimme.« So oder ähnlich wollte er beginnen. »Eine Stimme, die unfähig ist, etwas von mir selbst zum besten zu geben. Sie verrät nichts, sie läuft neben mir dahin wie ein etwas entfernter Verkehrsfluß. Undurchdringlich ist sie, sowohl von innen her, für meine eigene Leidenschaft, die in ihr nicht zum Ausdruck kommt; undurchdringlich aber auch von außen her für andere, die vergeblich versuchen, durch diese Stimme in mich einzudringen, um bis zu jenen Beweggründen meines Sprechens zu gelangen, die meine Worte, meine Stimme nicht offenlegen können. Meine Stimme ist etwas, das sich zuerst in meinem Herzen bildet; etwas, das, kaum aus der Mundhöhle gestiegen, kaum mit der Luft in Berührung gekommen, sich augenblicklich verhärtet, ja in seltsamer Starrheit zuweilen sogar souverän wirken mag, in Wahrheit aber das versteinerte Entsetzen wiedergibt, in das mich die Welt der anderen, ein ursprünglicher Akt der Befremdung und des Mißtrauens, für immer versetzt hat.«
Unvermeidlich entstand der Eindruck, es beschäftigte ihn kaum, wovon er sprach. Er rührte alles nur sehr flüchtig an. Schicksale, Philosophien, Kunstwerke, alles war nur für den Moment des Antippens interessant, und schon gab es nichts weiter dazu zu sagen. Im Grunde war er trotz seiner starken Gesprächshemmungen ein solcher Mit-und-Gesellschaftsmensch, daß ihn an einer Sache überhaupt nur interessierte, was er davon zum besten geben konnte.
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Jemand hatte etwas Ungutes gesagt. Jemand hatte ein falsches Wort gewählt.
Daraufhin war er aus der Runde aufgebrochen und kopfschüttelnd durch die Nacht gerannt.
Die Wohnsprache und die Sprache aushäusig, bei Wind und Wetter ohne feste Bleibe … Was haben sie nicht alles geflüstert hinter seinem Rücken, die empfindlichen Freunde des empfindlichen Verlierers! Daß es ihm bloß verborgen bleibe, das ganze Ausmaß seiner Niederlage, daß er nie davon erfahren dürfe … Ein glühendes Verschweigen stand jedem im Gesicht, und plötzliches Abbiegen bei brenzliger Nähe, sich zu verraten, ließ sich in kaum einem Gespräch vermeiden.
Wie nicht anders möglich, hatte man sich eines Tages im dichten Netz der Sicherheitsvorkehrungen, die alle dem Schutz des sich selbst nur halbwegs als Verlierer bekannten Freunds dienten, unglücklich verfangen, verstrickt und schließlich wütend darin gezappelt, bis es zerriß. Damit war der ganze Aufwand des Schonens für die Katz. Das machte seine Freunde ausgesprochen ungehalten und sie hackten jetzt unverhohlen, geradezu bösartig auf seinem Verlierertum herum, ohne jede Hemmung. Der Verlierer selbst spürte dabei nichts als Übertreibung und Fehleinschätzung seiner Person und Lage. Nun fühlt er sich nicht einmal mehr halbwegs als Verlierer.
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Nach drei Besuchern an einem Tag stellt er fest: »Ich bin der größte Ausbügler von Unvereinbarkeiten und Niveauunterschieden geworden, der nachgiebigste Sichselbstbehauptende, der mildeste Tadler, der entschuldigungsbereiteste Unverschämte, der sich aus dem herzerwärmenden Moorbad des Relativen nicht mehr erheben will, der im interesselosen Um- und Umfärben aller Werte seine eigentliche, letzte, klarste Begabung findet.«
Nicht selten kommt es seinerseits zu Entgleisungen der Aufmerksamkeit. Wie oft erschrickt er bei einer Frage, die er höflich stellt, in dem akuten Zweifel, ob er sie nicht soeben schon einmal gestellt habe und sie längst beantwortet wurde — ohne daß er es bemerkt hätte. Die Angst, partienweise nicht richtig zugehört zu haben, peinigt ihn gerade dann, wenn er mit gespanntester Aufmerksamkeit zuhört, um den ganzen Menschen zu vernehmen, nicht nur seine Mitteilungen, wenn er also ganz Ohr ist.
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Ein andermal beteuert er einem Gast, wieviel er ihm bedeute: »Um Ihre Bedeutung aber zu würdigen, bedarf es Ihrer Abwesenheit.« Er sei ihm so wichtig, daß er ihn ausschließlich innerlich präsent haben möchte. Nur Distanz und Entfernung erlaubten es ihm, diesen Menschen, so wie er es verdiene, wertzuschätzen. Er könne ihm nur aufrecht begegnen, wenn er nicht vor ihm stünde. Er gedenke inständig und beinahe unaufhörlich seiner, die eigne Person dabei zurücksetzend, fast verleugnend. Trete er indessen vor ihm leiblich in Erscheinung, so wäre sein wahres Präsentsein miteins dahin. »Ich verbitte mir jede Ablenkung von Ihnen durch Sie selbst. Bleiben Sie fern, und Sie sind unvergessen!«
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Man konnte diesen Freund nicht mehr ins Vertrauen ziehen wie früher. Er sträubte sich, ließ sich ins Vertrauen weder ziehen noch zerren noch schubsen. Keine Macht der Welt brachte ihn in ein von wem auch immer geschenktes Vertrauen hinein. Er wollte auch nicht an »früher« erinnert werden. Er hatte nichts verwunden, nichts von den infamen Verleumdungen, denen er ausgesetzt war, solange er mancher Leute Vertrauen genoß.
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Er stieg eine Stunde unschlüssig im Treppenhaus auf und ab. Aus einem oberen Stockwerk kam eilig ein Mann und fragte ihn nach Chris Schwimmer. Er sagte, er habe den Namen schon oft gehört, denn täglich frage ihn jemand anderes nach Chris Schwimmer im Treppenhaus. Aber er hätte ihn nie zu Gesicht bekommen. Er müsse fast annehmen, daß es sich um einen Namen des leeren Verlangens, einen nur zum Fragen ersonnenen Namen handle.
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Es ist eine Form besonderer männlicher Schäbigkeit, den Mann, dem ein anderer die Frau fortnahm, nicht zu loben, ihn nicht mit Komplimenten zu überschütten und nicht vorzugeben, jetzt erst entdecke man seine wahren Verdienste, die er sich in Beruf und Sport tatsächlich erworben habe: Jetzt erst finde man zur vollen Wertschätzung seiner Person, womit man sich über Jahre zurückhalten mußte, nicht zuletzt weil man in Anwesenheit seiner Frau niemals unbefangen genug war, ihn so rückhaltlos zu loben, wie einem zumute war.
Stattdessen finden Männer ihn noch weniger beachtenswert als vor seinem Unglück, empfinden sie seine Bedrückung als störend und hinderlich im Verkehr, erkennen sie nur das Kleine und Ungeliebte an ihm und schämen sich nicht, in die kalten Blicke jener Frau zu schlüpfen, die einen anderen ihm vorzog.
»Ich kam immer ganz zuletzt dran, mich konnte sie ja immer erreichen, ich war da, wo ich immer war. Ich war für sie keine Unsicherheit, keine Gefahr. Ich sagte ihr oft: Wie schön du bist! Noch immer bist du so schön! Aber das war eben nur ich, der Sichere, der das sagte. Hingegen bei anderen, da lauerte sie auf so einen Satz, da suchte sie die Überraschung, die Gefahr …«
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Sie auf Stufen steigender Ämter in schwindelnde Höhe gelangt!
Ihn aber überrascht auf einmal der Gedanke oder das Gefühl, daß sie ihn niemals fest angefaßt habe. Daß ihre Hände ihn niemals gegriffen, umschlungen, festgehalten haben; daß sie ihn gewöhnlich nur so berührten, wie man ein Tischtuch glattstreift.
Das war vor der Krankheit, sagt sie häufig zu ihrem Mann und meint ihre amour fou-Affäre, den tiefsten Einschnitt in ihrem gemeinsamen Leben. Die Küche hatten wir gerade renoviert. Das war unmittelbar vor der Krankheit.
Dann: nichts weiter, als daß er ihr aufhilft, die ausgestreckte Hand reicht, weil sie wieder einmal ausgerutscht ist und ohne fremde Hilfe nicht hochkommt. An Leib, Gesicht und Händen schmal und schmaler werdend, im Nicht-wissen-Wohin die Hüfte mehrmals wendend.
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Auftaucht ein Gebilde, das weder für die Leinwand des Malers noch die Filmkamera verwendbar ist und dessen sich ein Künstler mit gänzlich unerprobten Mitteln annehmen muß. Es handelt sich um etwas so Vages wie ein Fluidum, das einer Person abhanden kam, eine sphärische Materie, die nun ungebunden durch die Menge streift, bis sie auf jemanden trifft, den sie reizt, ihr Form und Stärke zu geben. So daß sie, nun durchaus ein Kunstwerk, zum Air-Verlassenen zurückfindet, ihn umfängt und endgültig unwiderstehlich macht.
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Zu einer Abendeinladung kam verspätet Herr Doktor Neuman alias Glienowicz (er hatte den gewöhnlicheren Namen seiner Frau angenommen), in dessen Erwartung eigentlich alle sich versammelt hatten. Begrüßung reihum. Neuman, ein jüngerer Artenforscher, der ein halbes Jahr im Urwald von Peru auf Station war, begann, kaum daß er Platz genommen hatte und ohne eigens dazu aufgefordert zu werden, sofort mit seiner Erzählung, und alle hörten gespannt zu, vor allem weil es von Anfang an rätselhaft war, worauf sie hinauslaufen würde. Bis irgendwann das Wort ungewohnt, ungewöhnlich sich so oft wiederholte in seinem Bericht, daß die Zuhörer, äußerlich immer noch am Erzähler hängend, anfingen, eigenen Gedanken nachzugehen und schließlich erkennbar genug davon hatten, ein weiteres Mal die »daily watchlist« mit dem Erzähler durchzugehen. Der Erzähler beherrschte aber nach wie vor die gesamte Runde, die Stimme des jungen Forschers dominierte, sie gehörte ihrem Ton und Gestus nach zu einem Mann, der keinen Zweifel ließ, daß er wahrhaftig etwas zu erzählen hatte — obwohl dabei nicht viel mehr herauskam, als daß er das Ungewöhnliche seines Aufenthalts immer wieder ungewöhnlich nannte.
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Die Eingeschlossenen der Zukunft! Als er zufällig seinen akademischen Lehrer wiedertraf, einen altgewordenen Komparatisten, und in der Kantine neben ihm die Häppchen zum Mittag wählte, konnte er beobachten, was alles lebendiges Klischee war an diesem Menschen. Und er sagte sich: Nur das Klischee lebt wirklich, ausdifferenziert ist am Menschen außer seinem Organismus gar nichts, er wäre nicht überlebensfähig. Er sah, wie der Lehrer die Hände über dem Steiß kreuzte, Daumen und Zeigefinger gegeneinander rieb, solange er unter den Häppchen wählte, um schließlich keines davon zu nehmen. Als habe er Zurückhaltung zu seinem Prinzip gemacht, sie in sich erhärtet bis zur Verknöcherung … Was alles hatte er nicht mit sich eins werden lassen! Sein ganzes Menschenwesen bestand aus radikal Üblichem. Schablone neben Schablone im Sich-Verhalten, Empfinden, Reagieren. Das zeichnet aus die Eingeschlossenen der Zukunft. Es werden Millionen zu Milliarden Klischees sich vermehren und herrschen, darin eingeschlossen der menschliche Mensch überlebt.
Vorerst aber gilt: erkenne das Bekannte! Durchmustere eines Menschen Lebensfeld und du findest nichts Eigenes und nichts Unbekanntes. Alles an ihm stammt ab. Oder stammt von.
Da packte ihn sein alter Lehrer bei den Schultern …
— Sie, mein bester Mann, und so ein Weltentwurf! Sie sind und bleiben nichts als ein Idiosynkrat.
— Auch ein Herrscher!
— Keineswegs. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen: krasis, idiosynkrasis, die Zusammenmischung aus Selbstigem, Eigenem, hat nichts mit kratein, dem Herrschen, zu tun.
Jemand wie Sie! Der übt sich in Überempfindlichkeiten, Kommunikationspedanterien. Hängt Lehren nach von vorvorgestern. Der liegt in der Nacht und träumt die Träume anderer … Wer sind Sie nicht alles gewesen mit Ihrem ganz und gar nachträglichen Talent … Brentano und Lichtenberg, Francis Ponge und Manganelli, Isaak Babel und Hart Crane … Metempsychose eines durch und durch Beeinflußbaren. Ja, ein von Glanzlichtern zerstrahltes Talent! Nichts, was Sie waren, stimmt mit dem, was Sie sonst noch waren, überein.
— Sie meinen: fremdbestimmt? Ich? Und wie! Von Kopf bis Fuß. Durch und durch. Klaftertief, bis auf den Seelengrund. Und täglich von was neuem. Marginalismus als Lebensraum. Ein Bezirk, ein Topos, eine Existenz: der Rand. Im übrigen: Welcher Autor dürfte heute guten Gewissens von sich behaupten, daß er mehr biete als eine ausführliche Randbemerkung zu einem der großen Werke der Vergangenheit?
— Wie man’s nimmt. So manches »Meisterwerk« erinnert zweifellos an die Scholien-Literatur des Altertums! Da gab es große Romane, die nichts als Kommentare vergangener oder vergessener Meisterwerke waren.
Wahrhaftig, mein Freund, Sie besitzen noch so etwas wie ein literarisches Gewissen. Bei den meisten, mit denen ich umgehe, sieht das anders aus …
Es gibt nichts Deutsches mehr in dir und mir. So müßten jetzt, stell ich mir vor, zwei Liebende sagen, nachdem sie sich lange in die Augen sahen. Nun ja, kein Lessing leuchtet nach, kein Stifter und kein Benn. Weder die Droste noch die Kolmar. Keine Prägung findet sich, kein Einfluß vom schöneren Sprechen, das vor wenigen Jahrzehnten noch die Erwartung und Empfindung formte von Heranwachsenden. Zumindest der Begabten unter ihnen. Die von heute kennen nur das Heutzutage.
— Ja und nein. Kürzlich sah ich etwas anderes. Zwei Junge, sie und er, auf einer Bank und murmelten schöne Zeilen aus ihren Lieblingsdichtungen. Sieh nur, dachte ich, die belesenen Kinder! Welche Vision einer verschwundenen Begabung: poetische Altklugheit der Kinder! Jedenfalls waren sie zu den Originalen zurückgekehrt. Saint-John Perse und Ungaretti. Keine Song-Lyrik mehr mit ihrem Alltagsgebarme, ihrem Aufsässigkeitsschwulst. Das große Gedicht singt selber schön genug. Für diese Neuverschworenen ist die Schönheit eines Verses gleichbedeutend mit einer vorbeugenden Schutzmaßnahme, sie bietet Abwehr statt Rebellion.
— Sehr gut. Man bedenke immer: die Fülle, das Fest, der kurvenreiche Leib der Schrift — die Schrift mit ihren weit auslangenden Armen kann ja das Fernste umarmen.
Unzeitgemäß herrisch erzwingt sich Geduld die gedruckte Schrift. Noch das Blödeste steht darin fest, wie es einst in Marmor gemeißelt feststand.
Die Schrift scheint alles begleiten zu wollen, von der Sintflut bis zur Künstlichen Intelligenz. Sie will überall dabeisein, sich rühren und mittun, auch wenn sie zugleich als ein verstaubtes Utensil vergangener Bildungsprozesse gilt.
Die Schrift fördert die Kraft des Gewärtigens — und das ist auf gut Schlegelsch: die Divination.
Es ist unerläßlich für den Leser, ahnen zu können. Die Schrift selber trägt ein Ahnen in ihren Zusammenhang. Zuweilen tritt aus der unbekannten Zukunft des Textverlaufs ein Begriff, eine Wendung lange vor ihrem ersten Erscheinen in den Sinn des Lesers. Ein Text erfüllt erst dann seine Grundbedeutung »Gewebe«, wenn ein Leser in jedem Augenblick mit seinem Ganzen in Verbindung steht. Wenn er Ereignisse oder Gedanken, die demnächst erscheinen werden, im voraus vernimmt, also ahnt. Er brauche, sagte sein alter Lehrer, in verstärktem Maß das Buch, das er entziffern muß. Darin Texte stehen, die er lange anstarren und nur durch Anstarren für sich gewinnen kann. Nur solche sind ihm auf authentische Weise noch Bücher. Ein schnell zu lesendes Schriftwerk in Buch-Gestalt, in dieser ehrwürdigen, jahrhundertealten Hülle, bildet ein Konsumparadox. Für rasches und einmaliges Zurkenntnisnehmen stehen passendere Mittel zur Verfügung.
Leider gibt es kein Genre hermetischer Dichtung mehr, das man deutend zu verstehen sucht. Wer wäre noch bereit zu lesen, was er nicht auf Anhieb versteht?
Lesen bis zur entfesselten Wißbegierde, so daß man bereits das nächste Buch aus dem Bund des gerade gelesenen hervorquellen sieht.
Nun gut. Rettbar ist alles: im Archiv. Wordsworth wie Schleiermacher, Kawabata wie Mörike. Rettbar sind die Originale in den Händen des Sammlers. Allgemeingut aber wird’s erst wieder in der künftigen idealen Gedächtnis-Republik.
Dahin gehört auch die Kluge Schule, wie sie mir vorschwebt. Nach so vielen Jahren des gewöhnlichen Unterrichts, zu dem ich verpflichtet war! Sollte es je zu solch einer Erhöhung der Schule kommen — sie könnte sich anlehnen bei der »Pädagogischen Provinz« in den ›Wanderjahren‹ Ein Ort, der Eingeweihte braucht und keine Debatten. In der die Lehren von Pythagoras bis Mandelbrot, die Legenden und Weistümer der Völker aufbereitet werden und strikt vermieden: ›Gesellschaftskritik‹. Die Kluge Schule wäre ein Ort, an dem die arcana mundi aus allen Zeiten gepflegt und nutzbringend gehütet werden. Sogar die neuen Tresore der KI könnten hier hilfreich sein.
Weisheitslehren von den Präkolumbianern bis zur Physik der Spätmoderne, damit ließe sich sowohl für Toleranz wie für eine überzeitliche Bildung werben. Wenn es pädagogisch irgendetwas wiedergutzumachen gibt, dann heißt das: den Tag entmachten, ihn in seine Schranken weisen, zumindest ihn durchlässig machen.
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In einem Satz von Heinrich Hertz, dem Physiker, über die Maxwellsche Theorie des elektromagnetischen Felds verbergen sich zwei meiner Lieblingszitate. Zunächst ein Wort im Sinne des liberalen Marktkonzepts, also die Formel von Hayek: die Strukturen sind klüger als wir, und dann das Valéry'sche Diktum: Jedes Kunstwerk gibt seinem Schöpfer mehr zurück, als es ihn gekostet hat.
So Hertz anläßlich Maxwell: »Man kann diese wunderbare Theorie nicht studieren, ohne bisweilen die Empfindung zu haben, als wohne den mathematischen Formeln selbständiges Leben und eigener Verstand inne, als seien dieselben klüger als wir, klüger als der Erfinder, als gäben sie mehr heraus, als seinerzeit hineingelegt wurde.« (Zit. nach Hugo Kükelhaus, Urzahl und Gebärde, S. 147)
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Wir sind die Frommen des Verstehens. Wir lösen die alten, ärgsten Unverträglichkeiten in einer Schale mit feinsten Differenziermitteln.
Still liegt der Stift neben der Fliege, die sich putzt, die Beine über den Kopf hebt, die Flügel senkt, so feinfühlig, so zart und adrett — die etwa töten? Über den Rand des Stehpults lugt sie, als suche sie Augenkontakt mit dem Schreiber. Aber wer ist der schon in ihrem Facettenblick, dessen zeitliche Auflösung etwa 300 Bilder pro Sekunde beträgt, das Fünffache des menschlichen Linsenauges, so daß sie eine Hand, die sie erschlagen will, in Zeitlupe auf sich zukommen sieht und rechtzeitig fliehen kann.
Die Fliege weht die Asche aus der Schale.
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Man fragt jemanden etwas, mit dem man sich in gutem Einvernehmen wähnt, fragt es ganz beiläufig und wird unversehens von ihm angeherrscht, entlarvt, beschimpft und gleich darauf belobigt und ermutigt. Man hat ja nur gefragt: Ist heute abend der Kurs? Die Leute beherrschen ihre Affekte nicht, es überlappt sich ihnen das Widersprüchlichste. Die Zartheit überlappt den Zorn, der Unwille überlappt die Demut.
»Nur daß es Gut und Böse gibt und ich das weiß und unversöhnlich unterscheide.«
»Gleichwohl geht eines so gewiß ins andere über wie der Tag in die Nacht.«
Das Empfinden für Gut und Böse, relativierenden Algorithmen überlassen, wird die schärfsten Gegensätze ununterscheidbar machen.
Shakespeare, Heinrich IV, II. Teil, 4, 1:
»Man wird uns worfeln mit so rauhem Wind, / Daß unser Korn so leicht wie Spreu erscheint, / Und Gut und Böses keine Scheidung findet.«
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Zenon befragte das Orakel, was er tun müsse, um sein Leben am besten zu führen. Da habe ihm der Gott geantwortet, »die Farbe der Toten annehmen«. Das habe er dahin verstanden, daß er die Schriften der Alten lesen solle.
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»Die Griechen oder Könige haben neue Formen der Sprache entwickelt, um Beweise hervorzubringen, aber ihre Philosophie besteht aus lärmenden Worten. Wir hingegen verwenden nicht Wörter, sondern die große Stimme der Dinge.« So sagen die arabischen Alchemisten (vgl. Evola, Die hermetische Tradition, 125: Zitat aus dem Corpus Hermeticum XVI,2).
Sunt voces rerum … Auch die Dinge haben ihre Stimme. Und wir saßen mit ihnen im selben Parlament. Wer hätte geglaubt, daß wir zuerst von den Dingen verlassen werden, daß sie sich gänzlich auflösen in Gegenstandslosigkeit, keinen anfaßbaren Rand mehr haben und nurmehr Schatten unter Schatten sind?
Ist das noch eine Welt, vor der man die Augen verschließen kann? Oder ist es, längst unter die Lider geschlüpft, immersive Fälschung, der man selber beigemischt ist, indem das Subjekt des Betrachters sich zur obersten Täuschungsinstanz entwickelte. Täuschung ist zugleich, nun erst recht unter dem Einfluß der KI, die höchstentwickelte ästhetische Hervorbringung der Gegenwart. Fälschung die einflußreiche Erfahrung dessen, der mit offenen Augen durch die Welt geht. Die universale Flunkerei hat keinen Ausgang und hält uns gefangen in der unentrinnbaren Platon-Höhle.
Im Ausgeding der Dinge. Da nun die greifbaren den leiblosen weichen, empfindet man auf einmal auch die eigene Leiblichkeit als plump und zurückgeblieben.
Die Sphäre der Neuen Koexistenz — hier die Dinge unter sich, dort die menschenähnlichen Menschen — erfordert auch neue Hieroglyphen, eine neue nächtliche Bilderschrift.
Nicht daß eines der Rätsel des Menschen gelöst wäre, bevor er sich nun den Menschen-Ähnlichen zugesellt und jeden Sinn verliert für das Unergründliche.
Man studierte die Rede vom Ewigen Leben in der Heiligen Schrift und hielt sie für eine Machbarkeitsprognose.
Man suchte überall in den sakralen Phantasien nach versteckten Produktionsanweisungen. Man übersetzte aus dem Nicht-Möglichen ins Noch-Nicht-Mögliche. Nichts wurde um des reinen Träumens willen geträumt, nichts ausschließlich zum Trost erdacht. Alles frei Erfundene war ein Vorgebilde auf dem Weg zur Realität.
Gleichzeitig gingen nun die meisten Menschen auf eine etwas schablonenhafte Weise freundlich miteinander um. Man lächelte ununterbrochen, aber es war ein stereotypes Lächeln, das oft gefärbte Zähne zeigte. Denn alle, ausnahmslos alle waren nun bei künstlicher Gesundheit, künstlichem Verstand und künstlichem Selbstgefühl. Es war an Schelten, Übertölpeln, Hintergehen nicht mehr zu denken. Die Europäer waren kleine, zarte, auf ein dumpfes Gemeinschaftsgefühl beschränkte Gemüter. Begegnungssüchtig, unfähig, einen Abend allein zu verbringen, beinah außerstande, sich morgens anzukleiden ohne Zuspruch aus öffentlichen Medien. Inzwischen konnten sie sich ohne pharmakologische Unterstützung weder wiedererkennen noch fortpflanzen oder an der Wahlurne eine Entscheidung treffen. Auch verfügten sie über keinerlei Illusionen oder Utopien. Sie waren die fleischgewordene Vision der schwachen Überlebenden. Was aber hatten sie überlebt? Sie hatten den Exodus des menschlichen Intellekts und seine Übertragung auf die Spezies der Artefakte überlebt.
Die Künstlichen. Sie schmeißen uns raus, sie wollen uns noch einmal vertreiben, nicht aus dem Staat, nicht aus dem Paradies, aber aus der Heimat des Subjekts, dem Menschsein als Problem.
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Das ewig Gestrige jeden Tags erinnert daran, daß die Weltgeschichte einst Folge einer Götterherrschaft war. Es ist ein Urvermissen in allem Zeitgemäßen angelegt. Auch wenn jemand noch so begierig sein Hier und Heute betreibt, er bleibt doch immer von einem Gestern aufgezäumt. Sein gesamtes Ordnen und Begreifen schöpfen ja aus Beständen des bestandenen Lebens.
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Eines Tages wußte er, dieser Mann ist dein Freund seit eh und je. Alt ist er geworden mit seiner Freundschaft zu dir, von der du nichts wußtest. Über so viele Jahre hin! Und nur der Zufall wollte es, daß du ihm spät noch begegnet bist und es von ihm selbst erfuhrst. Verständigt in einer Stunde, denn insgeheim waren wir über Jahrzehnte eines Sinns gewesen. Abschließende Verständigung bei erster Begegnung.
Keine Hand konnte ich rühren, stand erstarrt in Zugewandtheit, heterotrop bis in die Fingerspitzen und an jeder Stelle meines Gewissens. Ihmwärts zu, nur zu ihm hin wollt ich eine Schlagseite haben. Nur noch Ohr und Aug zu ihm hin und flitzende Webschiffchen im Hirnstuhl, daß mir nichts entgehe; ohne Urteil sich etwas merken, immerzu aufmerken, empfangen mit hoher Präzision. Verarbeitung später.
In diesem mißtrauischsten aller Regime mußte man umfangreiche Behördenfomulare ausfüllen, um einen Antrag auf Freundschaft zu stellen. Man konnte sich keinen Freund frei wählen und sich ihm verbinden, ohne daß ein Amt, also der Staat, es zuvor genehmigt hatte.
Auslassungen, Retizenzen, Verhehlungen — das Verschwiegene selbst regierte die Rede der lizenzierten Freundschaft. Und das Gesagte suchte in jedem Satz einen sicheren Schlupfwinkel, wo es wie nicht gesagt überleben konnte.
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Große Geister besitzen keine Hintergedanken. Der Großmütige sieht nicht hinter ein Geschenk, eine Floskel, einen Abend mit Gästen. Er erfaßt, was ihm des Erfassens wert erscheint, alles übrige bleibt unbemerkt. Und die Rumpelkammer des Bedeutungslosen beunruhigt ihn nicht wie den Kleinlichen, den Reizbaren, den ehrgeizigen Experten des Argwohns, der jeder Äußerung einen Hintersinn unterstellt. Dem im übrigen jede Richtung die seine werden könnte, sobald jemand sie nur energisch genug vertritt. Der Boulevard wie die Klause, die Sentimentalität wie der Sarkasmus, das Machtwort wie das Schlagwort, alles käme auch für ihn, den Kleinlichen, in Frage. Einen Menschen, der täglich eine Kompanie von Identitäten auf seinem inneren Paradeplatz exerzieren läßt.
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Er lief durch ein Lagerhaus voll halbverschütteter Lebensräume, in denen sich eben noch etwas regte. Von einer Plane bedeckt Schachspieler, vor einem Gasboiler ein fluchender Installateur. So stieß er eine Tür nach der anderen auf und jeweils rief der Raum: »Liebe?« Er: »Nein, nicht mehr.« Oder ein anderer Raum: »Reichtum?« »Nein. Nichts für mich.« So rannte er von Tür zu Tür. Wieder rief ein Raum: »Heimat?« »Nein, muß nicht sein.« »Weltzorn?« »Nein, sagt mir nichts.«
Er befragte eine Regung nach der anderen, die sich anbot, die seine zu werden, ob sie sich etwa für ihn eigne.
Manchmal wiederholte er die Angebotsfragen, bis sie zu spitzen Selbstbefragungen wurden. Einmal fragte ihn ein Lebensraum etwas ungeschickt: »Harmonie?« Zum ersten Mal lehnte er nicht ab. Kurz darauf öffnete sich ihm der Zugang in eine Welt des Wohlgefallens — Heraklits εὐαρέστησις!… Ein Raum, in dem Wunsch, Wille und Begierde noch nicht ausgebildet waren, ein Eden des Genügens, in dem es keine Versuchung gab, nicht einmal ein Paar. Dort gab es nur Alleinsein in paradiesischer Vollendung.
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Die Eroberung einer Hochkultur durch Barbarentum, wie sie das klassische China im 17. Jahrhundert erlebte, nämlich im Übergang der Ming-Dynastie (der »Hellen«) zur mandschurischen Ch’ing-Dynastie (der »Klaren«), haben wir ohne Fremdherrschaft aus uns selbst hervorgebracht.
Allerdings verfiel die Ming-Dynastie schon vor ihrer Eroberung durch Korruption und unfähige Administration. Aber oft waren die Beamten unfähig aufgrund ihrer konfuzianischen Introvertiertheit, ihrer träumerischen Realitätsferne. Anders als beim Einfall der Mongolen und der Liquidierung der Sung- Dynastie im 13.Jahrhundert, war diese neue Eroberung im wesentlichen in der Schwäche der herrschenden Dynastie begründet. Symbolisch dafür: als der Bauernführer, der sich »Hervorstürzender König« nannte, am 24. April 1644 Peking eroberte, erhängte sich der letzte Kaiser der Ming, der letzte Kaiser Chinas überhaupt, am nächsten Morgen. Dergleichen und mehr liest man bei Wolfgang Bauer, ›Das Antlitz Chinas‹, 1990.
Die Mandschu verordneten den Chinesen die Steppentracht und den langen Zopf.
Chang Tai verlor in den Wirren des Dynastie-Wechsels seinen gesamten Besitz, 30.000 Bände Bibliothek. Er zog sich in die Berge zurück, trug keinen Zopf, lebte nur noch seinen historischen Studien, in denen er sich mit der untergegangenen Dynastie beschäftigte. Eine Schrift heißt: »Träume und Erinnerungen aus der ›Klause der Zufriedenheit‹«.
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Auf der Flucht vor der kotenden Harpyie, dem Wappentier der Sozialen Medien, war ihm nur das Versteck unter einem schwerbeladenen Schrank geblieben, dessen Boden sich bog und bald zu brechen drohte. Dort wurde die Bedrückung durch das splitternde Holz sein Schicksal: Es hieß, sich niemals mehr aufrichten, unablässig den sinkenden Schrankboden mit der Brust aufhalten.
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Es langweile ihn, in einem Gebilde, das es nicht mehr gibt, Gesellschaft, etwas anderes wahrzunehmen als die nervöse Unordnung von Ordnungsfragmenten. »Die Gesellschaft« war ein Lustspiel aus dem 20. Jahrhundert. »Das Netz« rückt an seine Stelle, scheitert aber bereits aufgrund der Fülle von dramatischen Schablonen. Hier mangelt es an Fallhöhen menschlicher Schicksale. Man weiß wenig von Dramaturgie, wenn man nur in den Sozialen Medien verkehrt.
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Es fängt mit harmloser Aufklärung an und endet mit professionellen Betreuern. Jeder Rundum-Befreite braucht irgendwann einen Coach, um noch einen Fuß vor den anderen setzen zu können.
Das Gefild der Euhemeristen — also jener, die mit rationalen Mitteln Mythen zu erklären suchten und beispielsweise die Ansicht verbreiteten, die Götter seien nur Projektionen, die aus der Verehrung weltlicher Herrscher aufgestiegen seien.
Das Rückzugsgebiet der Euhemeristen war am Ende eine Badewiese am sonnigen See, überfüllt zur Mehrheit mit Frauen und Mädchen, die auf ihren Badetüchern saßen mit angezogenen Knien oder sich im Gras ausstreckten mit hinterm Kopf gefalteten Händen. Allein diese Vorhut des weiblichen Geschlechts hatte das Erbe der Euhemeristen übernommen; zwar nicht mit der Entzauberung des Himmels, sondern mit der Entzauberung ihrer selbst. Davon sich zu erholen, lagen sie nun in dichter Gemeinschaft auf der Wiese. Unwillkürlich gewannen sie dort in der Darbietung ihrer Erschöpfung etwas vom Zauber zurück.
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Den höchsten Gipfel der Rationalität umgibt weißer Rauch. Ist die Weltformel, theory of eyerything, einmal gefunden, versetzt sie den Physiker in Trance. Die endgültige Erkenntnis tilgt in einem Akt der räuberischen Benommenheit die Geschichte ihres Erwerbs. Es beginnt die Rückverzauberung der Welt.
Auf einmal ist es, als ob sicheres Wissen an sich verschwunden wäre und es eröffnet sich wieder ein Kosmos der schönen Vermutungen.
Selbst das seltene deutsche Wort gissen käme dann wieder zu Ehren: den Standort (eines Schiffs, eines Flugzeugs, eines Philosophen) schätzen, ungefähr bestimmen, vermuten. Auch die Position des allzeit Unzeitgemäßen kann man nur gissen.
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Woher des Alten Lächeln und worüber? Man muß wissen, daß sich der allzeit Unzeitgemäße zuweilen der »Advokat« nannte und auch von Verwandten und Freunden Advokat gerufen wurde anstelle des Vornamens, obgleich er seit Jahren nichts mehr mit dem Kunsthandel zu tun hatte. Jedoch in einigen Zweifelsfällen war er nach wie vor der ›Herbeigerufene‹, advocatus, oder der zur Berufung Bestellte. Advokat am »Appellationsgericht« für unhaltbare Kunsturteile.
Gern übte er sich dabei in schneidigen Sentenzen:
»Wenn ein Künstler einmal zeitgemäß war, erholt er sich sein Lebtag nicht davon.«
»Man hat sich der Trivialität prostituiert, mit allen Kräften hat man versucht, das Dumme einmal mit anderen Augen anzusehen. Dem Gehabten einen Weg in die Zukunft zu bahnen, das Abgetane durch brennende Liebe neu zu beseelen.«
»Zu allem der leichte Zugang. Immerzu nur auffliegende Türen — doch wo die eine verbotene Pforte?«
»Jawohl, wir benötigen neue Mauern: antimedienimperialistische Schutzwälle.«
»Statt Nietzsches Hammer, der Götzen zertrümmerte, braucht es heute ein Laserskalpell, um die Tumore der Gesinnung aus der Hirnrinde zu entfernen.«
Später verlor sich das Apodiktische, dafür pflegte er so etwas wie eine Ästhetik der Hemmung und des Entschlüpfens, wenn er seine Urteile von sich gab. Diesen stillen und mitleidlosen Mann beschlichen auf einmal die furchtbarsten Verluste: »Mir, mir entziehen sich die großen Werke«, klagte er, »mir verschwimmt ihre Bedeutung, mir, ihrem Inständigsten, als wär ich gewandelt in hartschuppigen Barbar … Als wär ich ein aus tausend Letzten sich auftürmend Allerletzter!«
Das politisch Unaussprechliche, das ihn voranstieß, hemmte ihn nun, und von all dem Finalen, das er sich ausmalte, blieb nur ein geringes Lippenbeben, nur eben das Wörtchen »Schrecklich … schrecklich« kam dann heraus. Das geschah bald nicht nur beim Blick auf angeblich verwerfliche Werke, sondern schließlich bei allem, was sich ihm sonst von der Welt mitteilte, entschlüpfte ihm ein leises, fast unhörbares »Schrecklich … schrecklich«.
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Wer schildert uns die neue ›Welt von gestern‹?
Es gibt sie nicht. Es gibt nichts von einer untergegangenen Epoche zu erzählen. Das urepische Verlangen des Erzählers bleibt unbefriedigt. Da gibt es nur das eine Bewußtsein von Zeit, immer nur: vorwärts, Entwicklung, Erleichterung, Innovation, Fortschritt.
Im Gegensatz zu den Geistesgewaltigen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts sieht heute trotz neuer Kriege und bedrohlicher Konfrontationen niemand mehr einen Epochenbruch voraus. Das Digitalium kennt keine Vision von der Überwindung seinerselbst. Man rechnet fest mit einer weltlichen Fortschreibungsewigkeit.
Die Postkognitiven nannte man uns, da wir nichts Neues wissen, ahnen oder erkennen konnten, stattdessen ab und an unser ehemaliges Bewußtsein besuchten, Bewußtsein all dessen, was wir glücklich zu Gegenwart und Weltbild formten und von dem wir nun, unendlich erleichtert, ausruhen dürfen. Geborgene in der luftigen Hülle des Vollbrachten, des Präteritums.
Das Dritte Zeitalter der tausendjährigen Gegenwart: In Anlehnung an Joachim von Fiore, den kalabrischen Abt aus dem 12. Jahrhundert, sollte eigentlich nun die endlose Ära der reinen Vergeistigung folgen. Für uns wahrscheinlicher wird es ein nicht mehr ablösbares Zeitalter der Artefakte sein ohne jede Metaphysik der Erwartung.
Was also sonst lohnte es vom Menschen zu zeigen als seine schöne Gestalt? Der allzeit Unzeitgemäße, der allen Ernstes glaubte, anderen mit unbequemen Moralitäten auf ihre eingeschlafenen Füße treten zu müssen, hatte durchaus nicht bemerkt, daß diese Füße sich in Wirklichkeit mit äußerst aparten, flinken Tanzschritten bewegten — und ausgerechnet in ihren kunstvollen Ruhestellungen war er draufgetrampelt!
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Es gebe kein richtiges Leben im falschen, war bloß ein Bonmot des Philosophen. Das zerstörte hingegen, das von allen unter Wert gelebte, ist das »Faktum einer unbeschreiblichen Traurigkeit«, wie es in einem Brief Nietzsches an Overbeck heißt. Von all den Entwürfen und Exzessen, von allem Aufbruch, aller Sehnsucht, von Übermut und Könnenslust, von der zeitlichen Allmächtigkeit des Menschen bleibt am Ende dies Faktum einer unbeschreiblichen Traurigkeit, vor dem alle Lehren und Weisheiten verstummen.
Nicht aber Mozart; hört man am Morgen eines seiner preußischen Quartette, so kommt ein Anwehen von Verzeihen aus der Musik. Ein Verzeihen, dem menschlichen Gewese insgesamt gewährt. Gott verzeiht ja nicht, sondern vergibt. Der herrliche Künstler aber, Mozart, kann uns in Tönen etwas von einem finalen Verzeihen ahnen lassen.