Van Dahlen hatte damals ein Bild an die Wand geworfen, das eine Kirchengemeinde beim Beten zeigte.
»Fällt Ihnen etwas auf?«, hatte er die Studenten gefragt.
Auf dem Foto hielten die Gemeindemitglieder die Hände fast ausnahmslos gefaltet. Ein ganz normales Bild einer betenden Gemeinde, dachte Lena. Auffälligkeiten konnte sie nicht erkennen.
»Sehen Sie genau hin!«, forderte van Dahlen die Studenten auf. »Sie dürfen sich beim Beobachten von Tieren wie auch von Menschen nicht von dem oberflächlichen Eindruck täuschen lassen. Versuchen Sie sich in die Menschen hineinzuversetzen, die Sie hier sehen, und zunächst nichts in das Verhalten hineinzuinterpretieren. Bleiben Sie so lange wie möglich objektiv. Vielleicht passiert hier etwas ganz anderes.«
Endlich meldete sich eine Studentin. »Die meisten beten gar nicht?« Ihre Feststellung klang eher wie eine Frage als eine Antwort.
»Sehr gut!« Van Dahlen klatschte in die Hände. »Sie falten ihre Hände. Aber mit dem, was Beten eigentlich ausmacht, hat das, was viele auf diesem Foto hier gerade machen, wenig zu tun.« Er zeigte auf einen Mann, der eine Frau eine Reihe vor sich zu beobachten schien. Überhaupt hatten auffällig viele Gemeindemitglieder ihre Augen geöffnet. »Beten. Das ist der Versuch der Kontaktaufnahme mit einem wie auch immer gearteten transzendentalen Wesen, bei uns zumeist Gott. Es ist eine Art Meditation, ein Vorgang, der uns in einen Zustand versetzen soll, in dem wir mehr zu uns und zu Gott finden. Liebe Zuhörer, sind wir mal ganz ehrlich, ist es wirklich das, was wir hier beobachten können?« Er zeigte wieder auf den Mann, der offensichtlich die Kommunikation zu jemand ganz anderem suchte als zu Gott. »Dieser Mann versucht erst gar nicht zu beten. Er hat seine Hände gefaltet, aber mit seinen Gedanken ist er doch hier.« Er zeigte auf die Frau, die der Mann betrachtete. Dann zeigte er auf die Frau, die neben dem Mann stand und die keinen besonders glücklichen Eindruck machte. »Und diese Frau? Auch ihr sieht man an, dass sie sich mit ganz anderen Dingen beschäftigt als mit Gott oder der Meditation. Vielleicht ärgert sie sich gerade über ihren Mann.« Van Dahlen zeigte jetzt auf eine ältere Dame in der letzten Reihe, die sich eine Fluse von ihrem Pullover zupfte. »Und diese Frau hier. Wir wissen nicht, an was sie gerade denkt, aber bei Gott scheint sie mir ebenfalls nicht zu sein.«
Van Dahlen drückte auf die Fernbedienung in seiner Hand und ein Chart mit einem Kreis tauchte auf. In dem Kreis stand »Rituale«. Neben dem Kreis stand »leere Rituale«.
»Ein Ritual ist, wie wir schon gelernt haben, ein mächtiges Kommunikationsmittel. Es kann Botschaften vermitteln wie Gemeinschaft, Anerkennung, Liebe. Es kann aber auch dazu dienen, uns selbst näherzukommen, wie das Gebet oder die Meditation. Solche Rituale haben die Aufgabe, unsere Bedürfnisse nach Transzendenz, Flow-Zuständen und Ausgeglichenheit zu bedienen. Aber was ist, wenn solche Rituale diese Bedürfnisse nicht mehr befriedigen?« Er zeigte auf das Chart. »In diesen Fällen sprechen wir von ›leeren Ritualen‹. Das Gebet ist inzwischen für sehr viele Menschen ein leeres Ritual geworden. Sie sprechen zu einem Gott, an den sie gar nicht glauben. Und mit ihren Gedanken sind sie ganz woanders. Ihre spirituellen und meditativen Bedürfnisse befriedigen sie schon lange nicht mehr im Gottesdienst, sondern vielleicht in einem Yogakurs oder beim Achtsamkeitstraining.«
An mehreren Stellen im Hörsaal wurde getuschelt. Ein Student meldete sich.
»Ja, bitte?«
»Ist das schlimm?«
Van Dahlen schmunzelte. »Schlimm? Nein, schlimm ist das nicht. Aber ein leeres Ritual ist sinnlos. Und was sinnlos ist, hat auf Dauer keinen Bestand. Was meinen Sie, warum immer weniger Menschen in die Kirche gehen? Viele der Rituale, die in früheren Zeiten gewirkt haben mögen, sind für uns heute leer geworden. Und man hat vergessen, sie durch neue zu ersetzen. Doch der Mensch hat weiter seine Bedürfnisse. Er holt sich das, was er nicht erfüllt bekommt, woanders, in unserem Fall etwa bei anderen Religionen oder – wie schon gesagt – in Kursen, die mit Meditation und Transzendenz zu tun haben, im schlimmsten Fall bei selbst ernannten Gurus oder Sekten.«
»Und dann?«, fragte der Student.
»Wenn das neue Ritual das Bedürfnis befriedigen kann, wird es ins Sortiment der eigenen Rituale aufgenommen.«
»Und wenn es das doch nicht leisten kann und sich ebenfalls als leer herausstellt?« Dieses Mal kam die Frage von Lena.
Van Dahlen ging ein paar Schritte auf sie zu. Sie saß in der ersten Reihe, und er blieb genau vor ihr stehen. »Eine gute Frage. Gerade im Bereich der spirituellen Bedürfnisse ist das sicherlich nicht selten. Viele Menschen sind hier dauerhaft auf der Suche, ohne ihr Bedürfnis befriedigt zu bekommen. Ein großes Problem heutzutage, wie ich finde. Bei anderen wird die Suche selbst zum Ritual.«