Ewald saß mit einer Tasse Kaffee an seinem Schreibtisch und starrte Löcher in die Luft. Er hatte nicht sonderlich gut geschlafen – doch wann tat er das überhaupt noch? Die Geschichte mit diesem verdammten Anschlag kostete ihn den letzten Nerv. Sommer, die sich einfach nicht an seine Vorgaben hielt. Der ständige Verdacht, einen Maulwurf in den eigenen Reihen zu haben. Der verlorene V-Mann, Florian, der immer noch im Krankenhaus lag. Und es ging einfach nicht vorwärts. Es war, als drückte er das Gaspedal, ohne zu wissen, dass er auf der Hebebühne stand.
Vielleicht machte er es sich aber auch zu einfach, seine Schlafprobleme auf den Fall zu schieben. Seine Rastlosigkeit, gekoppelt mit einer immer stärker werdenden Müdigkeit, dazu das Gefühl, den Instinkt und die Lust verloren zu haben – Ewald hatte die Befürchtung, dass dies Symptome eines grundsätzlicheren Problems sein könnten. Aber damit konnte er sich jetzt nicht beschäftigen.
Er nahm einen Schluck Kaffee und versuchte sich zu konzentrieren. Hatte er etwas übersehen?
Abgesehen von dem Gewehr, das sich die Aziz vor ein paar Tagen besorgt hatten, verhielt sich der Clan weiterhin ruhig. Auffällig ruhig. Ein Anschlag, egal ob mit Gewehr oder Bombe, musste gut vorbereitet werden. Eine Fitch & Sohns .338 ließ sich nicht auseinanderbauen und einfach verstecken und transportieren. Es war eine auffällige Langwaffe, die am besten schon Tage vor dem Anschlag an dem Ort platziert wurde, wo sie genutzt werden sollte. Dann musste die Flucht geplant werden. Den Schützen zu opfern mochte zu manch einer Mafiaorganisation passen, doch nicht zu den Aziz. Sie hatten bisher für jedes Mitglied gekämpft, als wäre es ihr eigenes Kind. Und einen Auftragskiller anzuheuern widersprach der Ehre des Clans und dessen grundsätzlichem Misstrauen jedem gegenüber, der nicht zur »Familie« gehörte.
Es klopfte.
»Bitte!«
Sommer betrat den Raum. »Guten Morgen, Herr Ewald. Hätten Sie fünf Minuten?«
Sie wirkte ebenfalls übermüdet. Ihre Glupschaugen fielen fast aus den Höhlen.
»Geht es um den Fall ›Gobi‹?«
»Ja.«
»Reinkommen, setzen.«
Sommer nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz. »Wir haben Neuigkeiten bezüglich des Geldes. Sie wissen schon, die drei Millionen aus den Immobilienverkäufen.«
»Und?«, fragte Ewald.
»Wie Sie wissen, befand es sich lange Zeit auf einem Konto in Luxemburg. Leider erfuhren wir erst mit einigen Tagen Verspätung, dass es dort inzwischen nicht mehr liegt. Aber keine Sorge. Ich habe es wiedergefunden.« Sommer legte ihm sichtlich stolz einen DIN-A3-Ausdruck mit einer Art Flussdiagramm auf den Schreibtisch. »Die Jungs sind gut. Ich habe für die Aufarbeitung fast die ganze Nacht gebraucht.« Sie fuhr mit dem Finger über einzelne Punkte des Diagramms. »Interessieren Sie die Details oder nur das Ergebnis?«
»Das Ergebnis.« Ewald fand die Geldgeschäfte der Aziz zwar nicht uninteressant, doch selbst wenn sie sich hier etwas zuschulden kommen hatten lassen, würde eine Aufklärung an dieser Stelle nicht den Anschlag verhindern.
»Das Geld ist jetzt auf einem Konto auf den Cayman Islands. Dort wurde es in unterschiedliche Hebelprodukte investiert.«
»Sie versuchen also an der Börse reich zu werden?«
»Sieht ganz danach aus.«
»Und? Gibt es einen Zusammenhang zum Anschlag?«
Sommer ließ die Schultern hängen. »Genau darüber zerbreche ich mir schon die ganze Zeit den Kopf. Ich hatte die Hoffnung, dass Sie vielleicht einen Einfall hätten.«
Ewald blickte auf das Diagramm, das ihm Sommer vorgelegt hatte. Dass der Clan gerade jetzt seine Geldbestände investierte, war in der Tat seltsam. Nach dem Anschlag wäre Cash von Vorteil. Leute mussten verschwinden, Anwälte bezahlt werden. Vielleicht wollten sie das Geld einfach nur vor einer drohenden Vermögensabschöpfung sichern. Vielleicht aber auch nicht. Etwas anderes bereitete ihm bei der Betrachtung der Skizze viel mehr Sorgen. Die Verschiebungen, die Sommer aufgezeichnet hatte, waren höchst komplex. Wenn sie daher behauptete, sie hätte für die Nachverfolgung eine ganze Nacht gebraucht, dann war das eine Lüge. Für eine solche Analyse brauchte man mindestens ein paar Tage. Mehrere Tage, die sie jetzt dringend für die Verhinderung des Anschlags benötigten.
»Frau Sommer?«
»Ja?«
Ganz langsam zerriss er vor ihren Augen das Blatt. »Warum konzentrieren Sie sich eigentlich nicht auf den Anschlag? Warum dieser Nebenkriegsschauplatz? Ist das Strategie? Wollen Sie, dass wir scheitern?«
»Aber …«
»Nichts aber! RAUS!«