Es hatte eine halbe Ewigkeit gedauert, bis sie endlich Bondroits Hof erreichten. Auf den Straßen in und um Berlin herrschte aufgrund des Schneefalls Chaos, sodass sie selbst mit aufgesetzten Blaulichtern nur langsam vorankamen. Außerdem waren viele der kleineren Straßen hier draußen inzwischen nur noch schwer passierbar, da der Winterdienst bei diesen Verhältnissen nicht mit dem Räumen hinterherkam.
»Na, endlich!« Bondroits Mann öffnete ihnen mit seinem Sohn auf dem Arm die Tür. »Gibt es Neuigkeiten?«
»Leider nein.«
Nachdem Michael Degenhart so abrupt aufgelegt hatte, hatte Ewald ihn sofort zurückgerufen. Degenhart hatte ihm dann erzählt, dass er seine Frau vermisste. Als er mit seinem Sohn am Nachmittag nach Hause gekommen war, war Bondroit nicht da gewesen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Doch dann, als sie um sechs immer noch nicht aufgetaucht war, begann er sich Sorgen zu machen, schließlich war es schon dunkel. Außerdem entdeckte er ihr Handy in der Küche, was er seltsam fand, da sie es eigentlich immer bei sich trug.
»Und warum meinen Sie, dass die Leute vom Clan Ihre Frau entführt haben?«
»Ich bin raus vors Haus und habe jede Menge Spuren auf der Weide entdeckt, die nicht von Lena stammen können, und dazu noch Spuren eines fremden Wagens. Doch hier steht kein fremdes Auto. Haben Sie eine bessere Erklärung?«
Eine bessere Erklärung hatte Ewald leider in der Tat nicht. Ganz im Gegenteil. So ließ sich auch Galibs Verschwinden erklären. Warum hatte er nicht früher daran gedacht, dass er hinter Lena her sein könnte? Irgendwie musste der Clan Wind davon bekommen haben, dass Bondroit für den Verfassungsschutz gearbeitet hatte. Nach dem, was sie mit Locke gemacht hatten, standen ihre Chancen nicht gut.
Ewald betrachtete Bondroits Sohn, einen wirklich süßen Fratz mit dunklen dichten Haaren, so wie Bondroit.
»Vielleicht könnten wir kurz sprechen, ohne dass Ihr Sohn dabei ist?«, sagte Ewald zu Degenhart.
»Ich könnte ihm etwas vorlesen«, bot sich Sommer an.
Degenhart nickte. Er nahm seinen Sohn vom Arm und erklärte ihm, dass die »nette« Dame von der »Polizei« ihm eine Geschichte vorlesen würde. Zum Glück war der Junge ganz begeistert. Dann führte Degenhart Ewald in die Küche.
»Und dass jemand anderes Ihre Frau besucht hat und sie dann später in den Wald ist und deswegen vielleicht einfach noch nicht zurück, könnte keine Erklärung sein?«, fragte Ewald.
Degenhart saß vor ihm wie eine Häufchen Elend – die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die Hände über den Ohren. »Sie wäre schon lange wieder da. Sie ist im Dunkeln nie im Wald, das ist viel zu gefährlich«, wandte er ein.
»Auch richtig«, murmelte Ewald. Trotzdem würden sie das gesamte Gebiet mit Wärmebildkameras absuchen lassen, sobald das Wetter es zuließ. Zunächst machte es jedoch Sinn, sich auf die Verfolgung des Autos und die Aziz zu konzentrieren.
»Wieso haben Sie meine Frau da reingezogen?« Degenhart funkelte Ewald mit wütenden Augen an.
»Sie wollte es«, sagte Ewald. »Und wir hatten kaum eine andere Chance, die Zeit drängte«, ergänzte er noch, da er ein schlechtes Gewissen bekam, dass er Bondroit allein verantwortlich machen wollte.
»Wenn ihr was passiert«, sagte Degenhart drohend, »dann …« Er richtete sich auf und ballte seine Faust.
»Immer mit der Ruhe!« Ewald rückte ein wenig vom Tisch ab, nur für den Fall der Fälle. »Wir werden alles unternehmen, damit ihr nichts passiert. Wirklich alles. Das können Sie mir glauben. Nachbarn schon informiert?«
»Klar. Habe ich alle abtelefoniert.«
Ewald ging zurück ins Wohnzimmer. Degenhart folgte ihm. Sommer hatte es sich auf der großen Ledercouch mit Bondroits Sohn bequem gemacht.
»Frau Sommer!«
»Bitte?« Sie ließ das Buch in ihren Schoß sinken.
»Sobald das Wetter es zulässt, möchte ich, dass Hubschrauber die Gegend absuchen. Alles im Umkreis von zwanzig Kilometern. Geben Sie den Kollegen von der Polizei durch, dass die Straßenkontrollen noch verstärkt werden sollen. Und ich will in einer Stunde wissen, wo sich sämtliche Angehörige von Galib Aziz rumtreiben, Schwestern, Brüder, Cousins, Eltern …« Er hielt inne. »Was ist eigentlich mit den Eltern, gibt es da was Neues?«
»Die sind auf einer Hochzeit.«
»Weiterlesen!«, beschwerte sich Bondroits Sohn. Degenhart nahm ihn auf den Arm und verschwand mit ihm im Flur. Kurz darauf hörte Ewald das Knarren einer Treppe.
»Hochzeit?«, fragte Ewald. Sommer hatte das so dahingesagt, als ob es das Natürlichste auf der Welt wäre. »Die sind doch nicht einfach nur auf einer Hochzeit!«
»Entschuldigung, Herr Ewald. Ich bin dran, aber leider nicht vor Ort. Ich kann Ihnen nur das weitergeben, was die BND-Kollegen mir berichten.«
»Was mir die BND-Kollegen berichten«, äffte Ewald sie nach. »Hier läuft doch irgendeine Riesenscheiße, merken Sie das denn nicht!«
Sommer starrte ihn kalt an. Dann verschränkte sie die Arme vor der Brust und wandte sich von ihm ab.
»Los, rufen Sie an, wen auch immer Sie anrufen müssen! Ich will wissen, wer da heiratet und mit wem sie auf der Hochzeit sprechen, und zwar sofort!«
Sommer hatte anscheinend auf Durchzug geschaltet.
»Mensch Sommer! Muss ich denn alles selbst machen?«, schrie Ewald. Er entdeckte einen Turm aus Duplo-Legosteinen vor sich auf dem Boden und wollte schon dagegentreten, konnte sich jedoch im letzten Augenblick zusammenreißen. »Ich will wissen, was da in Beirut abgeht. Wer sind die Gäste, wem gehört die Location, wer hat das Fest bezahlt, wann geht wer mit wem auf die Toilette, wer pisst im Stehen und wer im Sitzen? Einfach alles! Machen Sie den Kollegen vom BND Dampf unterm Hintern, und zwar ordentlich! Schluss mit hoch bezahltem Urlaub im Ausland!« Jetzt sah sie ihn wieder an. »Und glotzen Sie mich nicht an wie ein behindertes Pferd!« Den letzten Satz hätte er sich vielleicht sparen können, aber nun war er raus. Und es stimmte doch: diese riesigen Glotzaugen und der dämliche Ponyhaarschnitt.