Das regelmäßige Rattern eines Hubschraubers weckte Lena aus dem Schlaf. Sie öffnete die Augen. Ihr Kopf lag auf Galibs Brust, ihr linkes Bein hatte sie in seines verschränkt. Trotz der Decken und der Jacken, mit denen sie sich zugedeckt hatten, fror sie, und das vor allem an den Stellen, an denen ihr Körper nicht Galibs berührte.
»Ein Hubschrauber«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Sie haben uns gefunden.« Sicherlich suchte die Polizei mit Wärmebildkameras, die die Restwärme der Hütte erfasst hatten. Keine achthundert Meter entfernt gab es eine größere Lichtung, auf der ein Hubschrauber gut landen konnte.
Auch Galib öffnete die Augen und lauschte. Lena befreite sich aus der Umklammerung. Auf Knien begann sie ihre Kleidungsstücke zusammenzusuchen.
»Und jetzt?«, fragte sie. »Ein Hubschrauber bedeutet, dass Michael die Polizei verständigt hat.
Auch er stand auf und suchte seine Sachen zusammen, die wild verteilt auf dem Boden lagen. Sie merkte, wie er sie beim Anziehen beobachtete. Normalerweise hasste sie das, doch die Art, wie Galib sie ansah, gefiel ihr.
»Na, und? Du wolltest mir Wölfe zeigen. Das ist nicht verboten. Wenn die Beweise hätten, um mich einzubuchten, dann hätten sie das längst getan. Ob es denen passt oder nicht, meine Weste ist sauber. Und das mit dem Anschlag hat sich jetzt hoffentlich auch erledigt.« Er sah sie länger an. »Oder willst du denen etwas anderes erzählen?«
Das hatte sie nicht vor, erst recht nicht nach dieser Nacht. Zudem glaubte sie ihm, dass er sie vor seinem Bruder hatte schützen wollen.
»Aber was ist mit der anderen Sache, die, von der du mir nicht erzählen wolltest?«, fragte sie ihn.
Galib überlegte. Dann schüttelte er den Kopf. »Da kommen die nicht drauf. Die sind viel zu sehr auf unsere Drogengeschäfte konzentriert. Aber die …«, er zeigte auf das Gewehr, das neben der Tür lehnte, »… würde ich gerne behalten.« Er zog sich seine Jacke über und hängte sich das Gewehr über die Schultern. »Ich sollte daher vielleicht lieber doch verschwinden.« Er ging auf Lena zu und drückte sie an sich. »War schön mit dir.« Dann küsste er sie. Sie erwiderte seinen Kuss, allerdings nur kurz. Es fühlte sich heute nicht mehr richtig an. Er versuchte es erneut, doch sie drehte ihren Kopf weg.
»Was?«, fragte Galib.
»Es war falsch.«
»Warum?«
Lena überlegte. Wie konnte etwas falsch sein, was schön gewesen war?
»Vielleicht ist falsch nicht der richtige Ausdruck. Aber dabei wird es bleiben.«
Sie sah Galib lange in die Augen. Dieses Mal war er es, der den Blick als Erster senkte.
Das Hubschraubergeräusch war plötzlich verstummt, was nur bedeuten konnte, dass er gelandet war. Lena zog sich die Schuhe an, den rechten sehr vorsichtig, da der Fuß immer noch stark geschwollen war und schmerzte. Dann humpelte sie zur Tür, was entgegen ihrer Erwartung recht gut funktionierte.
»Hinter der Hütte gibt es einen Weg. Man wird ihn wegen des Schnees nicht richtig erkennen können, aber er geht einfach immer geradeaus. Nach ein paar Kilometern triffst du auf einen schmalen Pfad, der durch einen dichten Tannenwald führt. Nach circa drei Kilometern kommst du auf ein Feld. Dort geht eine Straße vorbei. Ab da müsste dein Handy wieder funktionieren. Wenn nicht, biegst du auf der Straße links ab. Da kommt nach ungefähr fünf Kilometern eine kleine Ortschaft. Ich werde ihnen jetzt entgegengehen.«
Galib ging auf sie zu. Sie drückten sich erneut, und diesmal konnte sie seinem Versuch, sie zu küssen, doch nicht widerstehen.
»Verzeihst du mir?« Er sah ihr tief in die Augen.
»Verzeihen?« In diesem Moment kam es ihr seltsam vor, dass sie jemals wütend auf ihn gewesen war. »Sagen wir mal so, du hast da wieder was gutgemacht.«
Galib grinste zufrieden. »Kann ich mit leben.«
Sie strich ihm über die Wange. Dann stieg sie vorsichtig von dem Absatz vor der Hütte in den Schnee hinab.
»Sehen wir uns wieder?«, fragte er.
Am liebsten hätte sie Ja gesagt. Bei ihr hatte Sex schon immer eine Tür geöffnet, die sich nicht so einfach wieder schließen ließ. Es gab jetzt dieses unsichtbare Band zwischen ihnen. Doch so unschuldig er auch behauptete zu sein, er gehörte einer Welt an, mit der sie nichts zu tun haben wollte. Und sie vermisste Jean und Michael. Sie wollte so schnell wie möglich zurück zu ihnen.
»Ich weiß es nicht.« Sie drehte sich ein letztes Mal zu ihm um und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es wirklich nicht.«
Dann humpelte sie los.
Keine halbe Stunde später landete der Hubschrauber auf dem Feld neben ihrem Hof. Vor der Scheune hatten sich einige Menschen versammelt. Sie erkannte Ewald und Sommer und vor allem Michael und Jean, die sofort auf den Hubschrauber zuliefen. Beide kniffen die Augen zusammen, um sie vor dem aufgewirbelten Schnee zu schützen. Sie spürte, wie ihr vor Rührung, sie wiederzusehen, Tränen über die Wange flossen.
Kaum waren die Rotoren zum Stillstand gekommen, half ein Beamter Lena beim Aussteigen. Jean juchzte vor Glück. Sie hob ihn auf den Arm und drückte ihn fest an sich.
»Mami, ich hab dich sooo vermisst.«
»Ich dich auch«, sagte Lena, die aufpassen musste, nicht wieder loszuweinen.
Michael umarmte sie und Jean gleichzeitig. Noch nie hatte sie sich so gefreut, ihre beiden Jungs wiederzusehen.
»Wo waren Sie? Wir haben uns mächtig Sorgen gemacht?« Ewald war neben ihr aufgetaucht. Er bemühte sich, besonders streng zu schauen, aber in seinen Augen konnte sie Erleichterung erkennen.
Nur widerwillig erlaubte er ihr, sich zunächst zu duschen und umzuziehen, bevor sie ihm Rede und Antwort stehen sollte. Nachdem sie zumindest für den Augenblick die Erinnerung an letzte Nacht mit viel heißem Wasser weggespült hatte, erzählte sie ihm und Michael, dass sie während des Vorhabens, Kameras für die Beobachtung der Wölfe anzubringen, von einem Baum gestürzt war. Da sie dann von dem Schneesturm überrascht wurde, hatte sie sich in die ihr gut bekannte Hütte zurückgezogen.
»Du hast ganz schön Glück gehabt, dass du so früh in den Wald bist«, sagte Michael.
»Warum?«
»Wahrscheinlich haben ein paar Leute vom Aziz-Clan hier nach dir gesucht.«
»Bitte?« Lena spielte die Überraschte. »Wie kommst du denn da drauf?«
»Es gab massenhaft Spuren im Schnee. Auch von einem Auto«, erklärte Ewald. »Aber die könnten natürlich auch von jemand anderem stammen.«
»Warum hast du diesem Galib deine Nummer gegeben?« Michaels Freude, sie wiederzusehen, wich einem vorwurfsvollen Tonfall. Er musste die Nachrichten auf ihrem Handy gelesen haben. Eigentlich war ihr Telefon für ihn tabu. Allerdings verstand Lena, dass er es durchsucht hatte, nachdem sie gestern nicht mehr aufgetaucht war. Sie hätte es im umgekehrten Fall nicht anders gemacht.
»Er wollte im Beirut Palace unbedingt meine Nummer. Es erschien mir zu auffällig, sie ihm nicht zu geben. Ich wollte einfach nur raus da.«
»Und dieser Vorschlag, sich noch mal mit dir zu treffen? Warum hast du das nicht direkt abgelehnt?«
Lena zuckte mit den Schultern. »Ich wollte ihn nicht verärgern.«
Michael sah sie durchdringend an. »Du hattest enormes Glück, dass du schon im Wald warst«, stellte er fest. »Sonst hätte er dich genauso zugerichtet wie diesen Mitarbeiter vom Verfassungsschutz.« Er sah zu Ewald. »Stimmt’s?«
»Na ja.« Ewald zuckte mit den Schultern. »Falls er es überhaupt war. Dafür gibt es noch keine Beweise. Und falls er durchschaut hat, dass Ihre Frau uns beraten hat.« Er sah zu Lena. »Wollen Sie Personenschutz?«
Lena sah zu Michael. »Was meinst du?«
Michael überlegte kurz. »Lass uns das später entscheiden.«
Sommer betrat den Raum. Der Pony ihres Pagenschnitts hing ihr platt auf der Stirn. Sie sah, wie alle Anwesenden – mit Ausnahme von Jean, der draußen mit drei Beamten vom Verfassungsschutz einen Schneemann baute –, ziemlich müde und fertig aus.
»Und?«, fragte Ewald.
»Die Jungs von der BaFin sind jetzt weiter.«
»Sie haben mit diesen Hampelmännern von der Banken- und Finanzaufsicht telefoniert? Ich sagte doch, Sie sollen sich die Chefs der Banken vorknöpfen!«
»Aber …«
»Nichts aber!«
Sommer sah zu Lena, ihr Blick sagte alles. Lena fand es bemerkenswert, wie sie die Ruhe behielt. Sie war nicht darum zu beneiden, für Ewald zu arbeiten. Er konnte ein wirklich unerträglicher Giftzwerg sein. Sommer musste ihren Beruf schon sehr lieben. Oder sie bekam genügend Schmerzensgeld.
»Ist ja gut«, sagte Ewald, der bemerkt hatte, wie ruhig es geworden war. »Was haben die herausgefunden?«
Sommer atmete tief durch. »Es steht wohl fest, dass die Saudis damit angefangen haben, im großen Umfang Aktien abzustoßen. Dann zogen viele nach. Es wird wohl Wochen dauern, bis man aus dem schnell entstandenen Chaos genauere Schlüsse ziehen kann.« Sommer legte ein Blatt Papier vor Ewald auf den Esstisch. »Schauen Sie.« Da standen einige Namen, und es gab etliche Pfeile, die wohl die Bezüge darstellen sollten. »Issam bin Hisham Al-Tayer, der arabische Finanzberater, hatte, wie wir wissen, sehr gute Kontakte zum saudischen Königshaus. Aufgrund dieser Verbindung und dem abgehörten Telefonat können wir wohl mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er auf jeden Fall von den geplanten Massenverkäufen wusste. Doch die Leute von der BaFin meinten auch, dass die Saudis so etwas kaum allein hätten durchziehen können. Ich habe Ihnen daher mal aufgezeichnet, zu welchen Leuten und Institutionen die Saudis und der Finanzberater sonst noch ausgeprägte Geschäftskontakte pflegten.«
»Jemand aus Deutschland dabei, gegen den man einen Durchsuchungsbeschluss erwirken könnte?«
Sommer zog ein weiteres Blatt Papier hervor. Man sah ihr an, dass sie stolz darauf war, Ewalds nächste Frage vorausgeahnt zu haben. »Sebastian Saum. Einer der international erfolgreichsten Hedgefonds-Manager und wohl der erfolgreichste Deutschlands. Er pflegt schon seit vielen Jahren gute Beziehungen zur saudischen Krone und zur Fliege. Ich habe Ihnen ein paar Informationen über ihn auf diesem Blatt zusammengestellt.«
Ewald las interessiert, was ihm Sommer vorgelegt hatte. »Geht doch, Frau Sommer. Wenn Sie wollen …« Er wirkte, als wollte er noch etwas sagen, doch dann schien er plötzlich durch etwas abgelenkt. Er ergriff die Fernbedienung des im Hintergrund laufenden Fernsehers und stellte diesen lauter. Eben noch war von zwei Selbstmorden in Tokio die Rede gewesen, nachdem dort die Börse komplett zusammengebrochen war. Jetzt wurde die Stellungnahme zu den neuesten Entwicklungen des Kanzlerkandidaten der »Neuen bürgerlichen Mitte«, Jan Berger, angekündigt.