Kapitel Eins

Tiger wachte mitten in der Nacht auf und wusste, dass etwas nicht stimmte.

Seine Gefährtin Carly lag zusammengerollt neben ihm, ihr dünnes Nachthemd kitzelte seine Haut. Ihr goldbraunes Haar hatte sich aus dem Pferdeschwanz gelöst, zu dem sie es zusammengebunden hatte, und einige seidige Strähnen fielen ihr ins Gesicht.

Nebenan in seinem winzigen Kinderzimmer schlief ihr Sohn Seth in seinem Bettchen. Tiger hörte jeden seiner Atemzüge. Seth war als Menschenkind auf die Welt gekommen, wie alle Halbshifter, aber sein Haar erinnerte an das gestreifte Fell eines Tigers.

Carly ging es gut. Seth ging es gut. Warum also war Tiger in der Stille der Nacht so abrupt aufgewacht?

Er hatte gelernt, das, was in seinem Gehirn vor sich ging, nicht zu hinterfragen. Tiger war nicht wie die anderen Shifter dieser Shiftertown – er war in einem Labor entstanden, ein Experiment von Gentechnikern, die mit ihrer Zeit wirklich etwas Besseres hätten anstellen sollen.

Zweiundzwanzig ihrer Experimente waren gescheitert. Das hieß, die betreffenden Shifter waren gestorben.

Tiger war Nummer dreiundzwanzig. Die Wissenschaftler hatten ihn bei der Schließung des Labors zurückgelassen, und Tiger hatte dort viele Jahre lang allein gelebt.

Jetzt lebte er hier, rief er sich ins Gedächtnis, während er mit den Fingerspitzen über Carlys zarte Haut strich. Im obersten Stockwerk eines gemütlichen Hauses, in einem großen Zimmer, in dem sie zu Seths Geburt eine Ecke als Kinderzimmer abgeteilt hatten. Tiger hatte eine Gefährtin, die ihn liebte, und ein Junges, zwei Dinge, die er niemals für möglich gehalten hatte. Den Rest des Hauses bewohnte Liam Morrisseys Familie – Liams Gefährtin mit ihrem Jungen und seinem Neffen, die Tiger in ihrem Haus und in ihren Clan aufgenommen hatten.

Das Fenster stand offen, doch es war eine ruhige Nacht – soweit man davon in Austin in der Nähe des alten Mueller-Flughafens sprechen konnte. Tiger hörte Autos auf dem fernen Highway, das rhythmische Geräusch eines Hubschraubers in niedriger Flughöhe und in weiter Entfernung ein Lachen.

Er hörte auch Shifter, die nachtaktiven Feliden, die in der warmen Septembernacht gern durch die Shiftertown streiften. Sie verbrachten Zeit miteinander, rannten unter den Sternen und hatten Sex in den Schatten.

All das hatte ihn allerdings nicht geweckt. Tiger könnte einen Tornado verschlafen, wenn er wollte, sagte Carly immer mit ihrem strahlenden Lächeln. Das wusste sie aus eigener Erfahrung.

Gedanken rasten durch Tigers Kopf, zusammen mit den kurzen, seltsamen Zahlenkolonnen, die manchmal aus der Tiefe seines Gehirns auftauchten. Tiger hatte keine Ahnung, was die Zahlen bedeuteten oder wo sie herkamen. Er wusste bloß, dass sie ihn auf Dinge, die er verstehen musste, oder auf Situationen, die nur er in den Griff bekommen konnte, hinwiesen.

Plötzlich zerrissen gellende Schreie die angespannte Stille. Flehende Hilfeschreie von jemandem, der sich in höchster Gefahr befand. Sie machten sich in Tigers Gehirn breit, blendeten alles andere aus – das Haus, sein Junges, Carly mit ihrer besänftigenden Berührung.

Wortlos. Entsetzt. In schrecklicher Qual.

Tiger schlug die Hände an die Schläfen und drückte zu, um den Schmerz und die Angst loszuwerden, aber sie ließen sich nicht wegdrücken.

Carly und Seth schliefen weiter, bekamen von alldem nichts mit, denn das Geräusch existierte nicht wirklich, ertönte nicht in ihrem Zuhause. Es war allein in Tigers Kopf.

Aus weiter, weiter Ferne schrie ein Wesen um Hilfe, und Tiger hörte es.

Suchen und retten.

Dafür war Tiger geschaffen – es war sein Daseinszweck. Später hatten die Wissenschaftler ihre Taktik geändert und versucht, ihn in einen Supersoldaten zu verwandeln, eine lebende Kampfmaschine, doch seine idealistischen ursprünglichen Erschaffer hatten mit Tigers Hilfe Menschen finden wollen, die verschollen waren. Er hätte ihre letzte Hoffnung sein sollen.

Im zurückliegenden Jahr hatte die Shifterbehörde mit Tigers Hilfe verirrte Wanderer, entlaufene Junge und gelegentlich einen Verbrecher, der der Menschenpolizei entkommen war, aufgespürt. Tiger hatte seine Fähigkeiten genutzt, um sie ausfindig zu machen, aber so wie jetzt war es nie abgelaufen.

Er hatte nicht diese Qualen empfunden, die in sein Gehirn eindrangen, eine Verzweiflung, die an Tigers Seele zerrte.

Er musste dieses in Not befindliche Wesen finden. Sofort.

Tiger erhob sich schweigend, zog sich an und verließ das Haus.

Carly erwachte, als sich die Schlafzimmertür schloss. Sie setzte sich auf, strich sich das Haar aus den Augen und schaute sich in dem vom Mondlicht erhellten Zimmer um. Tiger war weg.

Seth schlummerte friedlich in seinem Kinderbettchen, wie sie durch die offene Tür zu seinem kleinen Zimmer sehen konnte. Andere Mütter beneideten Carly darum, dass Seth vom ersten Tag an durchgeschlafen hatte und ein fröhliches Baby war. Er schien zu wissen, dass sein Vater, der unverwüstliche Tiger, nicht zulassen würde, dass ihm etwas Böses widerfuhr. Und so war es auch.

Aber manchmal zog Tiger sich ganz in sich zurück, vernahm Stimmen, die Carly nicht hören konnte. Oder er verließ einfach wortlos das Haus, wie heute Nacht. Sie merkte immer, wenn er aufstand, denn ihre Verbindung war so eng, dass sie seine Unruhe spürte.

Carly erhob sich, schlüpfte in ihren Morgenrock und sah nach Seth in seinem Kinderbett. Er lag auf dem Bauch, sein orange-schwarzes Haar stand wild in alle Richtungen ab, und sein Rücken hob und senkte sich in ruhigem Schlaf.

Carly zupfte seine Decke zurecht und verließ auf Zehenspitzen das Kinderzimmer.

Als sie die Treppe erreichte, war Tiger unten angekommen und auf dem Weg zur Haustür. Er war komplett angekleidet, seine festen Muskeln zeichneten sich unter dem schwarzen T-Shirt ab, das er zu seinen Jeans trug.

Carly rannte ihm hinterher. Sie wollte den Rest des Hauses nicht aufwecken, indem sie seinen Namen rief, doch sie wusste, er würde verschwinden, wenn sie ihn nicht aufhielt. Das letzte Mal war er durch ein Tor in einem Haus in New Orleans ins Feenreich gegangen und in schreckliche Gefahr geraten. Als es Carly endlich gelungen war, ihm die Einzelheiten dieser Geschichte aus der Nase zu ziehen, hatte er gewirkt, als verstehe er überhaupt nicht, warum sie sich Sorgen gemacht hatte.

Wo immer er diesmal hin wollte, sie würde ihn begleiten. Gefährten beschützten einander, und sie hatte nicht vor, Tiger an irgendwelche fiesen Feen, Shifter, Menschen oder mit wem auch immer er sich diesmal anlegen würde zu verlieren.

Als Carly aus dem Haus trat, stand Tiger nebenan in der Einfahrt und musterte Dylan Morrisseys kleinen weißen Pick-up, als berge er ein tiefes Geheimnis. Kühle Nachtluft drang durch Carlys dünnen Morgenrock, während sie barfuß über den schmalen Grasstreifen huschte, der die beiden Einfahrten trennte.

Sie erreichte den Pick-up und legte die Hände auf die kühle Motorhaube. „Wo willst du hin, Tiger?“, fragte sie leise.

Endlich drehte sich Tiger zu ihr um, und Carly wich erschrocken einen Schritt zurück.

Seine goldenen Augen waren vor Schmerz und Entsetzen geweitet, sein schwarz-oranges Haar stand ihm wirr um den Kopf, als hätte er es sich gerauft.

Carlys Herz raste. „Tiger?“

Ihr Gefährte ballte die riesigen Fäuste. „Ich muss weg.“ Seine Stimme klang belegt, als habe er Staub geschluckt.

„Wohin? Wieder in die Feenwelt?“

Tiger blickte sie erstaunt an. „Nein. Irgendwohin in die Menschenwelt.“

„Süßer, könntest du dich ein klitzekleines bisschen genauer ausdrücken?“ Carly machte mit Daumen und Zeigefinger die entsprechende Geste.

Tiger schaute sich auf der dunklen Straße um, wo alte Bäume die Bungalows aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert in tiefe Schatten hüllten. „Nein“, antwortete er.

„Wie genau sieht denn dein Plan aus? Willst du Dylans Pick-up kurzschließen und einfach so in die Menschenwelt rasen? Im Übrigen kann ich nicht glauben, dass ich hier stehe und über Welten rede, als gäbe es wirklich mehr als eine.“

„Es gibt unendlich viele“, erklärte Tiger, aber Carly war klar, dass er gerade nicht daran interessiert war, über Quantenphysik zu diskutieren.

„Kannst du Dylan nicht einfach um den Schlüssel bitten? Oder mich fragen, ob ich dich fahre? Oder Connor? Du weißt, er hat immer Lust auf ein Abenteuer, am Tag und in der Nacht.“

Tiger musterte weiter den Pick-up, fuhr sich mehrfach mit der Hand durchs Haar und zerzauste es damit noch weiter. Carly merkte, dass er ihr gar nicht zuhörte, sondern auf etwas lauschte, das nur er vernehmen konnte. Manchmal tat er das.

Sie stützte eine Hand in die Hüfte. „Weißt du, andere Frauen könnten auf falsche Gedanken kommen, wenn sich ihr Mann mitten in der Nacht davonschleicht.“

Tiger warf ihr einen Blick zu. „Warum?“

„Weil sie denken würden, dass er sie betrügt, du Dummerchen.“

Damit hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Tiger starrte Carly erstaunt an. „Du bist meine Gefährtin.“ Als sagte das alles.

„Na, da bin ich ja erleichtert. Dann ziehe ich mich mal an und fahre dich. Frage: Ist es sicherer, Seth mit einem Babysitter daheim zu lassen oder ihn mitzunehmen?“

Tiger sah sie finster an, etwas von seinem gewohnten Ich schimmerte durch seine Geistesabwesenheit. „Seth wird zu Hause bleiben. Du auch.“

„Kommt nicht infrage, Süßer.“ Carly deutete auf ihn. „Warte mal kurz, okay?“

Sie wandte sich ab, eilte zurück ins Haus und die Treppe ins Schlafzimmer hoch. Sie riss sich den Morgenmantel und das niedliche Nachthemd, das Kim ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, vom Leib, schnappte sich die nächstbesten Klamotten und streifte sie sich über. Am Ende hatte sie eines von Tigers riesigen T-Shirts an, Jeansshorts und Sandalen. Sie band sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schnappte sich ihren Sohn, der schläfrig ein Auge öffnete und sich an sie schmiegte.

Plötzlich verspürte Carly einen Stich im Herzen. Sie hatte Tiger und Seth, war glücklich wie nie zuvor.

In dieser Nacht folgte sie Tiger, um dafür zu sorgen, dass sie auch eine glückliche Familie blieben. Tiger machte ständig irgendwelchen gefährlichen Mist – in erster Linie, weil andere Shifter zu weit gingen und er ihnen den Hintern retten musste.

Carly hatte das satt. Seine Rettungsmissionen, bei denen er Leuten half, waren eine Sache. Dass andere Shifter ihn in gefährliche Kämpfe verwickelten, vor allem gegen diese unheimlichen Feen, war eine ganz andere.

Sie legte Seth in seine Tragetasche, schlich mit ihm die Treppe hinunter und betrat fast lautlos das Schlafzimmer, das sich Kim mit ihrem Gefährten Liam und ihrer kleinen Tochter teilte.

Carly versuchte, sich so leise wie möglich zu bewegen, aber sie wusste, dass kein Shifter sie überhören würde. Dann sah sie, dass sie sich in dieser Nacht gar keine solche Mühe hätte geben müssen. Liam war nicht im Bett. Kim lag allein darin und schlief tief, einen Arm auf Liams Kissen gelegt.

Ihre zweijährige Tochter Katriona hatte sich in ihrem Bettchen mit dem gepolsterten Rand zusammengerollt. Carly stellte den schlummernden Seth in seiner Tragetasche auf die breite, niedrige Wickelkommode neben dem Bett, wo Kim ihn gleich entdecken würde, wenn sie aufwachte.

Sie wollte Seth nicht zurücklassen – alles in ihr sträubte sich dagegen –, doch sie wusste, hier bei Kim und Liam war er in Sicherheit. Wenn Tiger in die Welt hinausraste, würde er das nicht sein.

Sie küsste Seth auf die Stirn und eilte aus dem Zimmer.

Sobald sie mit ihrer großen Handtasche über der Schulter nach draußen trat, sah sie, warum Liam nicht in seinem Bett war. Er schaute Tiger über die Motorhaube des Pick-ups seines Vaters hinweg an, und Tiger erwiderte seinen Blick finster.

„Ich soll mich um dich kümmern, Mann“, hörte Carly Liam sagen.

Liam Morrissey, das Oberhaupt dieser Shiftertown, ein dunkelhaariger, blauäugiger Mann, der sich, wenn er wollte, in einen Löwen mit schwarzer Mähne verwandeln konnte, versuchte, Tiger niederzustarren. Er führte die Shiftertown jetzt seit etwa drei Jahren, üblicherweise auf eine sehr zurückhaltende Weise, aber wenn er seine Autorität unter Beweis stellen musste, bekam das jeder mit.

Tiger antwortete nicht, was ein schlechtes Zeichen war. Er konnte manchmal geradezu komatös entspannt sein – dann störte es ihn nicht einmal, wenn Junge auf ihm herumkrabbelten oder andere Shifter seine gewaltige Kraft für alles Mögliche nutzten, vom Öffnen von Konservengläsern bis hin zum Kampf gegen wahnsinnige Feenkrieger.

Üblicherweise zuckte er nur die Achseln, öffnete das Glas, vernichtete die Krieger und hing dann wieder mit Carly auf der Veranda ab, Seth in den Armen.

In dieser Nacht fauchte Tiger, als Liam einen Schritt auf ihn zu machte. Liam hob beschwichtigend die Hände, aber Tigers warnendes Knurren wurde noch lauter.

„Schon gut“, rief Carly Liam rasch zu. „Ich begleite ihn, wo immer er auch hinwill.“

Tiger drehte sich zu ihr um, und seine Augen glühten gelb. „Nein, das tust du nicht.“

Carly verschränkte die Arme, wobei ihre Handtasche gegen ihre Hüfte schlug. „O doch. Du bist nicht in der Verfassung, dieses Ding zu fahren. Außerdem wirst du mich bei unserer Rückkehr vor Dylan beschützen können, wenn er sich aufregt, weil ich seinen Pick-up geklaut habe.“

Als sie geendet hatte, ging sie um Tiger herum, ehe dieser sich so weit gefangen hatte, dass er sie hätte aufhalten können, und glitt auf den Fahrersitz. Als sie hinter dem Lenkrad saß, bemerkte sie, dass sie den Pick-up nicht würden kurzschließen müssen. Dylan hatte den Schlüssel stecken lassen.

Carly schloss die Tür, lehnte sich aus dem Fenster und fragte Tiger: „Kommst du?“

Tiger starrte einen Augenblick auf sie hinab, dann erwachte er ruckartig zum Leben, umrundete schnell und lautlos den Pick-up, öffnete die Beifahrertür und schwang sich hinein. Carly lächelte Liam an, der sie beide anfunkelte.

„Ich bringe ihn in einem Stück zurück“, erklärte sie und ließ den Wagen an. „Versprochen.“

„Es ist nach der Sperrstunde“, erinnerte Liam sie. „Wenn man ihn erwischt …“

… und zwar mitten in der Nacht außerhalb der Shiftertown, dann würden die Menschen nicht zögern, Tiger festzunehmen, in einen Käfig zu sperren, vor Gericht zu stellen und zu exekutieren oder zumindest wieder in ein Labor zu stecken, wo man ihn möglicherweise bis zum Ende seines Lebens als Versuchskaninchen missbrauchen würde.

Carly streckte die Hand aus und nahm Tiger das Halsband ab. Die Dinger sollten Shiftern heftige Elektroschocks versetzen, wenn sie aggressiv wurden, und es war illegal, sie zu entfernen.

Doch Tiger trug ein falsches Halsband. Als er nach seiner Rettung aus Area 51 in diese Shiftertown gekommen war, hatte man entschieden, er bräuchte eigentlich keines. Das Anlegen der Halsbänder war schmerzhaft, und Tiger war … nun ja, eben Tiger. Nach einem misslungenen Versuch war niemand mutig genug für einen zweiten gewesen.

Sie ließ die schwarz-silberne Kette in Tigers Hand fallen. Tiger sah immer wie ein Shifter aus – groß, stark, wild –, selbst wenn er nur still dasaß. Aber ohne das Halsband würden Menschen vielleicht wenigstens ein paar Minuten brauchen, um zu begreifen, was er war, und bis dahin konnte er längst weg sein.

Carly rief Liam durch das offene Fenster zu: „Sag Kim, ich schulde ihr was und dass wir bald zurück sind. Tschüss.“

Sie winkte ihm fröhlich zu, um ihre Bedenken vor ihm zu verbergen. Ja, Tiger war schon zuvor einfach losgezogen, auch mitten in der Nacht, allerdings niemals so. Nicht so … besessen. Bei den anderen Malen hatte sie sich nicht solche Sorgen um ihn gemacht. Diesmal war es anders.

Carly fuhr rückwärts aus der Einfahrt auf die dunkle Straße. Am Ende des Blocks brannte eine einzelne Straßenlaterne – Shifter liebten die Schatten.

Liam schaute ihnen nach und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. Er rannte ihnen nicht nach, schrie nicht herum und versuchte nicht, seinen Vater davon in Kenntnis zu setzen, dass Carly und Tiger in seinem Pick-up davonfuhren.

Carly fragte sich, warum er sie einfach so gehen ließ. Liam war gerissen und hatte immer etwa siebenundzwanzig Asse im Ärmel. Dass er einfach so nachgab, verhieß nichts Gutes, aber Tiger ließ sich davon nicht einschüchtern.

Es führten nur sehr wenige Straßen aus der Shiftertown heraus. Als Carly auf der Höhe eines unbebauten Grundstücks die Kreuzung mit der Hauptstraße erreichte, fragte sie: „Wohin?“

Tiger deutete nach links. Kein Zögern. Er hatte die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt und würdigte die Straße keines Blickes. Tiger vertraute darauf, dass sie ihn an sein Ziel und dann wieder sicher nach Hause bringen würde.

Carly zögerte unsicher. Konnte sie Tiger beschützen, wenn sie ihn aus der Shiftertown herausschaffte? Zu Hause war er trotz all der Beschränkungen, die man Shiftern auferlegt hatte, umgeben von mächtigen Freunden, die ihm helfen und sich bei der Shifterbehörde für ihn einsetzen konnten. Außerhalb allerdings …

„Er will, dass du links abbiegst“, sagte eine Männerstimme hinter ihr.

Carly kreischte vor Schreck und sprang regelrecht ein Stück in die Höhe.

Ein junger Mann erhob sich auf der Ladefläche des Pick-ups und spähte durch das rückwärtige Fenster in die Fahrerkabine. Er trug einen Kapuzenpullover, dessen Reißverschluss er bis zum Kinn hochgezogen hatte, doch das dunkle Haar seiner Onkel und seines Großvaters hing unter der Kapuze hervor, und blaue Morrissey-Augen sahen sie an.

„Fahr weiter, Carly“, drängte Connor Morrissey mit einer Stimme, die im Laufe des letzten Jahres tiefer geworden war, durch den irischen Akzent aber immer noch sehr sanft wirkte. „Bevor Onkel Liam merkt, dass ich bei euch bin. Na los!“