Kapitel Drei

Der Pick-up protestierte lautstark, als Connor auf hundertfünfzig Stundenkilometer beschleunigte, denn für solche Geschwindigkeiten war das alte Fahrzeug nicht ausgelegt.

Der Motor brummte entspannt vor sich hin – Shifterautos waren immer in einem Topzustand. Das Chassis jedoch klapperte, ächzte und drohte, jeden Augenblick auseinanderzufallen. Carly hatte weniger Angst davor, ohne Wasser mitten im westlichen Texas zu stranden, als davor, Dylan erklären zu müssen, dass sie seinen Pick-up kaputt gemacht hatten.

Tiger hatte sich in die Ecke der Sitzbank geklemmt und die Augen geschlossen, als vertraute er völlig darauf, dass Connor schon keinen Blödsinn anstellen würde. Carly wünschte, sie könnte so unbeschwert sein.

Sie blickte sich ängstlich um und atmete etwas leichter, als sie bemerkte, dass der schwarze SUV zurückfiel.

Connor hielt das Tempo, überholte einen Sattelzug und winkte dem Fahrer fröhlich zu, als sie vorbeizogen. Der Fahrer antwortete mit einem freundlichen Hupen. Es musste nett sein, am frühen Morgen schon so hellwach zu sein.

Sie hatten zwar jetzt einen deutlichen Vorsprung vor ihren Verfolgern, doch Carly entspannte sich noch immer nicht ganz. Hier gab es nur wenige Ausfahrten, und die, an denen sie vorbeikamen, etwa die Straße nach Marfa, waren eng und wenig befahren. Wer sie in böser Absicht verfolgte, hatte auf einer kleineren Straße eine bessere Chance, sie zu stellen und ohne Auto zurückzulassen oder Schlimmeres.

Ihre beste Chance war, es bis El Paso zu schaffen, wo sie ihre Verfolger im dichten Verkehr abhängen oder sich auf einem vollen Parkplatz verstecken konnten. Wenn nötig, hätten sie dann auch die Möglichkeit, das Fahrzeug zu wechseln, selbst wenn Carly davor zurückschreckte, das Dylan erklären zu müssen.

Nun, vermutlich konnten sie ihm die Schlüssel mit der Post schicken, begleitet von einem Brief. Da mussten sie bloß noch ihren Namen ändern und aus dem Land verschwinden.

Connor fuhr weiter den Highway entlang, der Tacho zeigte stabil hundertfünfzig Stundenkilometer. Carlys aktuelle Sorge war, dass ein Polizist am Straßenrand lauern und sie anhalten könnte. Es gab keine Bäume, hinter denen sich ein Streifenwagen hätte verstecken können, aber es gab genug Mulden und Senken, und ein ortsansässiger Beamter wusste bestimmt, welche sich besonders gut zur Tarnung eigneten.

„Du kannst wahrscheinlich wieder ein wenig langsamer fahren, Connor“, sagte sie ängstlich. „Wenn die Polizei uns anhält und herausfindet, dass ihr beide Shifter seid …“

„Hier ist weit und breit keine Polizei.“ Tigers Stimme war tief und dröhnend.

Connor warf Tiger einen schnellen Blick zu, widersprach aber nicht. Auch Carly zweifelte nicht an seinen Worten. Obwohl sie jetzt schon ein Jahr mit Tiger zusammenlebte, war sie nicht sicher, woher seine Informationen stammten. Doch er wusste Dinge und irrte sich nie.

Die Gebirge am Horizont kamen näher und entpuppten sich als hohe Gipfel, die sich Google Maps zufolge bis zu den Canyons rings um den Rio Grande erstreckten. Der Highway reichte bis zur Westspitze von Texas, die Grenze zu Mexiko lag jetzt nur noch ein paar Kilometer südlich.

Als der Tag heller und heißer wurde, wurde der Verkehr dichter, und vor ihnen tauchte schillernd eine Stadt auf. Endlich musste Connor das Tempo reduzieren, und sie wurden Teil einer Autoschlange, die sich nach El Paso hineinwälzte.

Die I-10 führte durch die Außenbezirke in die Innenstadt, auf der anderen Seite des Flusses lag Juarez. Carly rechnete damit, dass Tiger sich aufsetzen und ihnen den Weg weisen oder zumindest die Augen öffnen würde, aber er blieb weiter an die Tür gelehnt, genauso still wie auf ihrer Fahrt durch das weite Land.

„Tiger?“ Besorgt bemerkte Carly, dass er die Augen halb geöffnet hatte und seine goldenen Iriden glasig waren. „Tiger!“

Tiger blinzelte träge, als kehre er langsam aus weiter Ferne zurück. Sein Gesichtsausdruck wurde sanfter. „Carly.“

„Alles in Ordnung bei dir?“ Carly nahm seine Hand und streichelte seine Fingerrücken. „Sind wir in der richtigen Richtung unterwegs?“

Tiger starrte aus dem Fenster. „Ja“, bestätigte er nach einem kurzen Moment.

Connor umklammerte das Lenkrad und konzentrierte sich auf die zahllosen Limousinen, SUVs, LKWs und Motorräder ringsum. „Wir brauchen Benzin.“

„Da ist eine Tankstelle.“ Carly deutete zu einer Ausfahrt, die einen Hügel hoch führte.

Connor nahm sie und folgte einer Autoschlange Hügel aufwärts zu einer Kreuzung, an der er in die Tankstelle abbog. Schließlich hielt er vor einer Zapfsäule an. Er wollte aussteigen, doch Carly hielt ihn zurück.

„Lass mich“, sagte sie. „Ihr beiden dürft nicht auffallen.“

Soweit das in Begleitung von zwei muskulösen Männern, von denen sich der eine in einem Hoodie verkroch und der andere schwarz und orange gesträhntes Haar hatte, möglich war.

Carly musste über Tiger hinwegklettern und presste ihm die Hand auf die Brust, um ihn daran zu hindern, mit auszusteigen. Auf dem Weg zur Tür setzte sie sich kurz auf seinen Schoß und senkte den Kopf, um ihn zu küssen.

Tigers Augen flackerten auf, der Schmerz in seinem Blick ließ ein wenig nach. Carly berührte sein Gesicht.

„Wir werden die Person finden, die du suchst“, flüsterte sie. „Versprochen.“

Tiger legte ihr eine starke Hand in den Nacken und zog sie zu einem stürmischeren Kuss an sich.

Tigers Herz raste, sie konnte es unter seinem T-Shirt schlagen spüren, und seine Haut war heiß. Dennoch öffnete Carly unter Tigers Kuss die Lippen, schmeckte ihn und genoss es, ihn zu spüren. In der vergangenen Nacht hatten sie sich geliebt, bevor sie eingeschlafen waren, und die Hitze ihrer Leidenschaft erfüllte Carly aufs Neue.

Connor räusperte sich. „Wenn ihr so weitermacht, dann finden wir sie nicht so bald“, stellte er genervt fest. „Könnt ihr weiterkuscheln, wenn wir wieder unterwegs sind?“

Tiger hob Carly sanft von seinem Schoß, öffnete die Tür und setzte sie draußen ab. Er warf ihr einen bedauernden Blick zu. Der Geruch heißen Teers und warmer Benzindämpfe hing in der Luft.

Es war September, aber sie befanden sich jetzt offiziell im Südwesten, wo auch im Spätherbst die Temperaturen noch sehr hoch sein konnten. Die Wärme des Bodens drang durch die Sohlen von Carlys Sandalen, und sie krümmte die Zehen.

Carly zückte ihre Kreditkarte, um sie ins Lesegerät der Zapfsäule zu schieben, überlegte es sich dann aber noch einmal anders. Wenn Tiger bereits auf der Fahndungsliste stand, konnte die Shifterbehörde ihn möglicherweise über ihre Einkäufe aufspüren. Die Beamten würden vermuten oder herausfinden, dass Carly bei ihm war.

Sie steckte die Karte wieder weg und eilte in den Tankstellenshop, wo sie das Benzin bar im Voraus bezahlte und den Kassierer anstrahlte.

Ihr Portemonnaie war deprimierend leer. Sie würden bald irgendwo Geld herkriegen müssen. Schließlich hatten sie keine Ahnung, wie lange ihr kleiner Ausflug dauern würde. Aber Verfolger konnten sie auch über Abhebungen an Geldautomaten aufspüren. Die moderne Technik hatte die Welt gläsern gemacht.

Carly kaufte Wasser und preiswerte Snacks und brachte alles zum Auto zurück. Sie reichte Tiger durch das offene Fenster die Tüte mit ihren Einkäufen, dann nahm sie die Zapfpistole aus der Säule und schob sie in die Tanköffnung des Pick-ups.

Ein Mann auf der anderen Seite schaute herüber und beobachtete missbilligend, wie Carly tankte, während zwei Männer sich im Pick-up faul den Hintern breit saßen. Ihn strahlte Carly ebenfalls an.

„Ich bestehe darauf“, erwiderte sie.

Der Mann antwortete mit einem angedeuteten Nicken, das laut und deutlich „Von mir aus“ sagte. Er stieg ein, ließ den Wagen an und fuhr davon.

Während Carly zusah, wie sich die Zahlen im Anzeigefenster der Zapfsäule quälend langsam bewegten, öffnete Connor die Fahrertür und glitt aus dem Wagen.

„Wo willst du hin?“, wollte Carly wissen.

„Ich muss pinkeln.“ Connor schloss das Hoodie noch höher, damit man auf keinen Fall sein Halsband bemerkte, und schlurfte in den Tankstellenshop.

Carly war auf dem Rastplatz auf der Toilette gewesen, doch das war eine gute Stunde her, und ihre Nervosität machte es nicht besser. WC klang wie eine gute Idee. Sie hängte die Zapfpistole wieder ein, schloss den Tank und ging um den Pick-up herum zu Tiger. „Bleib im Wagen“, verlangte sie.

Er öffnete die Augen, und da war wieder der Blick, der seine Entschlossenheit verriet, sie zu beschützen. Carly legte ihm die Hand auf den Arm.

„Wirklich“, setzte sie rasch hinzu. „Ich will nur schnell aufs Klo, und Connor ist schon vorgegangen. Es ist besser für uns alle, wenn du keine Aufmerksamkeit erregst.“

Carly nahm zur Kenntnis, dass Tiger das einsah, es ihm aber nicht gefiel. Sie tätschelte ihm den Handrücken. „Wenn du das nächste Mal aus der Stadt fliehst, klau ein großes Wohnmobil mit funktionierendem Klo.“

Tiger nickte todernst. „Wird gemacht.“

Carly eilte in den Tankshop, wobei sie auf dem gesamten Weg Tigers brennenden Blick im Nacken spürte. Wieder lächelte sie den Kassierer an und folgte den Schildern mit der Aufschrift „WC“ nach hinten. Sie hörte in der Herrentoilette Wasser laufen und hoffte, Connor würde gleich wieder im Pick-up sein, um Tiger im Auge zu behalten.

Sie huschte in die leere Damentoilette und fand zu ihrer großen Erleichterung eine einigermaßen saubere Kabine. Einige Minuten später stand sie am Waschbecken, wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht.

Der in manchen Bereichen blinde Spiegel zeigte ihr, dass sie schrecklich aussah. Honigblonde Strähnen umrahmten ihr Gesicht, ihr Haargummi hing noch an einer davon. Sie war blass und hatte tiefe, dunkle Augenringe.

Carly zog das Gummi raus, strich sich das Haar glatt und versuchte, es wieder ordentlich zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Dann schnappte sie sich ein paar Papierhandtücher, trocknete sich Hände und Gesicht ab und eilte nach draußen, wobei sie die zusammengeknüllten Papierhandtücher mit einem gezielten Wurf in den Abfalleimer beförderte.

Sie erreichte die Eingangstür des kleinen Ladens genau rechtzeitig, um Connor rufen zu hören. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, als sie einen schwarzen SUV mit getönten Scheiben, der das helle Sonnenlicht reflektierte, hinter dem Pick-up anhalten und vier Männer in schwarzen Overalls herausspringen sah.

Connor war offenbar im Tankstellenshop gewesen, um sich ein paar Schokoriegel zu kaufen. Jetzt hielt er vor der Tür an, öffnete den Mund zu einem Warnruf.

Tiger saß auf dem Fahrersitz des Pick-ups. Er hatte den Motor angelassen, und vor Carlys Augen machte der kleine Pick-up einen Satz nach vorn und raste mit quietschenden Reifen davon.