Kapitel Sechs

„Helfen Sie mir jetzt oder nicht?“, wollte Carly wissen.

Sie unterdrückte ein leichtes Zittern, als die beiden Polizisten die Stirn runzelten. Wie es aussah, waren sie sich ziemlich sicher, dass es sich bei Carly lediglich um eine harmlose Texanerin handelte, die in diese ganze Sache unabsichtlich hineingeschlittert war. Aber sie blieben trotzdem misstrauisch.

Einer der Polizisten hieß Kirk, der andere Tyson oder kurz Ty. Das hatte Carly bereits in Erfahrung gebracht.

Die beiden wussten alles über sie, denn sie hatten ihren Führerschein konfisziert und am Computer überprüft. Sie kannten Carlys zweiten Vornamen, ihr Geburtsdatum, ihre Adresse und die Nummer ihres Führerscheins und wussten, dass das Foto darauf unmittelbar nach einer staubigen Heimfahrt aus New Orleans entstanden war, wo sie Verwandte besucht hatte, weswegen ihre Frisur furchtbar war. Letzteres hatte sie ihnen ungefragt erzählt.

Nein, der Pick-up gehörte nicht ihr, gestand Carly. Sie hatte ihn sich von ihrem Nachbarn geliehen, was der Wahrheit entsprach.

Sie hatte keine Ahnung, ob Dylan ihre Geschichte bestätigen würde, doch er würde niemals zulassen, dass man Tigers Gefährtin ins Gefängnis warf, oder? Tiger hätte vehement protestiert – er war einer der wenigen Shifter, die keine Angst vor Dylan hatten, und der wusste das.

„Ich mache mir wirklich Sorgen um Connor“, vertraute Carly Kirk und Ty an. „Er ist noch ganz jung. Bitte lassen Sie nicht zu, dass man ihm wehtut. Er wird niemanden angreifen, wenn man ihn nicht provoziert.“ Im Geiste drückte sich Carly bei diesen Worten selbst die Daumen. Sie hatte keine Ahnung, was Connor tun würde, wenn er durchdrehte.

Kirk hatte den beiden anderen Streifenpolizisten bereits per Funk durchgegeben, sie sollten nicht auf den Löwen schießen – er sei ein Haustier. Er hatte außerdem weitere Ranger alarmiert, die mit Betäubungsgewehren auf dem Weg zu ihnen waren. Sie kannten sich mit wilden Tieren aus.

„Exotische Tiere zu halten ist illegal, Ma’am“, informierte sie Ty freundlich, aber bestimmt. Die beiden Beamten hatten nicht begriffen, dass Connor ein Shifter war – sie hielten ihn für einen normalen Löwen. Tatsächlich wussten sie auch nicht so genau, warum sie den Auftrag bekommen hatten, den Männern in dem schwarzen SUV zu helfen. Sie hatten ihn eben bekommen und ausgeführt.

Carly riss die Augen auf. „Connor ist nicht exotisch. Er gehört praktisch zur Familie.“ Was durchaus zutraf.

Verdammt, Tiger, wo bist du, und geht es dir gut?

Kirks Funkgerät gab Geräusche von sich. Carly hörte die Stimme, die daraus ertönte: „Er ist unterwegs zum alten Farmhaus am Ende des Panoramawegs. Wir bleiben dran.

Sie wusste, dass Connor weggelaufen war, um die Cops von Tiger und Carly abzulenken, die gegnerischen Streitkräfte zu zerstreuen und so zu schwächen. Doch nun musste Connor selbst einer Gefangennahme entgehen.

„Sie sagten, hier draußen gebe es eine Ranch?“, fragte Carly in ihrer besten Dieses-süße-kleine-Mädchen-aus-Texas-braucht-dringend-Männer-die-ihm-die-Welt-erklären-Stimme.

„Oben auf dem Hügel.“ Ty deutete in die Richtung, in die Tiger gerannt war.

Carly sah nur Bäume, Felsen und blauen Himmel. Es war wunderschön hier. Am Fuß des Hügels lagen Felspfeiler, und scheinbar endlose Berggipfel erstreckten sich bis zum Horizont. Vielleicht konnte sie eines Tages mit Tiger als ganz normale Touristen hierher zurückkommen.

Sie seufzte. Pläne zu schmieden, selbst vage, half ihr zu glauben, dass sie das hier alle überstehen und sicher wieder nach Hause kommen würden.

„Führt die Straße da hoch?“ Carly schirmte ihre Augen gegen die Nachmittagssonne ab und spähte besorgt zwischen den Bäumen nach oben.

„Ja, aber Sie bleiben hier, Ma’am“, antwortete Tyson. Er war der Freundlichere der beiden und lächelte jetzt, wodurch in seinen Augenwinkeln Lachfältchen erschienen.

„Ich könnte Connor möglicherweise beruhigen. Er kennt mich. Wenn er all diese Ranger und Polizisten bemerkt, wird er in Panik verfallen. Wenn ich dabei bin, ist es für Sie alle sicherer.“

Kirk schüttelte den Kopf. „Wir bringen keine Zivilisten in Gefahr.“

Carly ließ ihre Unterlippe beben, was ihr in ihrer Aufgeregtheit nicht schwerfiel. „Wir lieben Connor. Wenn ihm etwas zustößt, überleb ich das nicht. Er ist meistens ein richtiger Schatz. Isst gerne Burger und schaut mit uns fern.“ Wieder entsprach jedes Wort der Wahrheit.

Tyson sah sie voller Mitgefühl an. Vielleicht mochte er Tiere. „Wenn sie helfen kann, ihn einzufangen …“, meinte er zu seinen Kollegen.

„Keine gute Idee“, blaffte Kirk. Carly konnte ihn definitiv nicht leiden.

Tyson dachte nach. „Wenn es darüber entscheidet, ob uns der Löwe anfällt oder wir einen sauberen Schuss mit einem Betäubungsgewehr abgeben können, gehe ich das Risiko ein. Sie fahren mit mir, Miss Randal.“

„Gerne.“ Carly schnappte sich ihre Handtasche und eilte hinter Tyson her, der zu seinem Streifenwagen ging.

Sie schwang sich auf den Beifahrersitz, während er sich hinters Lenkrad schob. „Wir werden den Löwen ins Tierheim bringen müssen“, meinte er entschuldigend. „Aber keine Sorge. Wenn er gesund und zahm ist, gibt es hier Institutionen, die Raubkatzen adoptieren. Wahrscheinlich dürfen Sie ihn sogar besuchen.“

Was für ein netter Kerl, dachte Carly mit einem Anflug von Bedauern und versuchte, betrübt zu wirken. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihn anschwindelte, allerdings nicht schuldig genug, um Connor und Tiger in Gefahr zu bringen.

Tyson lenkte den Wagen souverän wieder auf die Straße, der Motor schnurrte ebenso gleichmäßig wie der von Dylans Pick-up. Doch dieses Auto klapperte und ächzte nicht, als Tyson direkt anschließend im Bereich neben dem Asphalt wendete und dann wieder auf die schmale Straße fuhr.

Der Weg führte steil nach oben, rechts ging es furchterregend dicht an Carlys Tür senkrecht nach unten. Weit unter ihr, am Fuß der Klippe, sah sie am Grund der Schlucht einen Fluss schillern.

Wenn Connor sich hier irgendwo verkroch, würde er schwer zu finden sein, und dasselbe galt in noch höherem Maße für Tiger.

„Schön, nicht wahr?“, fragte Tyson begeistert. „Eine tolle Gegend zum Zelten und Wandern. Auch zum Vögel beobachten, wenn man das mag.“

Der arme Tyson. Gleich würde er sie fragen, ob sie Lust hätte, mal mit ihm zelten zu gehen. Carly hätte sein Interesse amüsant gefunden, wenn sie sich nicht solche Sorgen um Tiger und Connor gemacht hätte.

„Ja, sehr hübsch.“ Sie versuchte, unverbindlich zu klingen, während sie die Wälder aufmerksam nach Hinweisen auf Shifter absuchte.

Tyson bog in eine schmalere Straße ein, die zwischen den Bäumen hindurchführte, und sie ließen die Steilhänge hinter sich. Nach etwa anderthalb Kilometern lenkte er den Wagen auf ein Freigelände und stellte den Motor aus.

„Das Ranchhaus ist gleich da oben. Vielleicht sollten Sie hierbleiben.“ Tyson öffnete die Tür und stieg aus. Den Schlüssel nahm er vorsichtshalber mit.

Carly würde auf keinen Fall hier herumsitzen, während Bewaffnete nach ihrem Gefährten und Connor suchten. Sobald Tyson zwischen den Bäumen verschwunden war, schwang sie sich aus dem Wagen und eilte ihm leise nach, wobei sie ihre Handtasche an sich drückte, um Geräusche zu vermeiden.

Der Weg war überwuchert, aber erkennbar. Vor sich sah sie Tyson, dessen dunkelblaue Uniform sich deutlich von den grünen Tannennadeln und den knorrigen, grauweißen kahlen Ästen abhob.

Ein Stück weiter den Hügel hinauf teilten sich die Bäume. Dort stand inmitten einer kleinen Lichtung ein Haus. Es war unverkennbar früher einmal hübsch gestrichen und gepflegt gewesen, doch jetzt blätterte die Farbe ab, das Holz war verwittert, und die Schnitzereien an der Veranda morsch. Der Vorgarten war überwuchert, und nur hier und da hatten sich ein paar bewusst gepflanzte Blumen behauptet.

All das bemerkte Carly bloß am Rande, denn was an dem Haus am meisten auffiel, war die Eingangstür. Jemand hatte sie einfach aus der Wand gerissen, und sie lag jetzt im Gras, inmitten der Wildblumen.

Durch die Türöffnung hörte Carly Gebrüll, in dem die Schreie von Männern beinahe untergingen. Tyson wurde langsamer, näherte sich dem Haus aber weiter mit gezogener Pistole.

Carly rannte an ihm vorbei die Treppe hoch, über die knarrende Veranda und ins Haus. Tyson rief ihr nach, doch Carly blieb nicht stehen.

„Tiger?“

Sie hörte das unverkennbare Knurren ihres Gefährten, das tiefe, grollende Fauchen einer erzürnten Großkatze.

Das Innere des Hauses war insgesamt nicht besonders geräumig – es erinnerte sie an das Farmhaus aus der alten Verfilmung von „Der Zauberer von Oz“. Carly sah sich in den drei Zimmern im Erdgeschoss um und stellte fest, dass sie alle leer, voller Staub und verlassen waren.

Die Treppe ins Obergeschoss wirkte instabil, aber von dort oben kamen die Geräusche auch nicht. Sie drangen aus der offenen Tür unter der Treppe, hinter der Betonstufen nach unten führte. Carly zögerte nicht. Nichts wie hinunter.

Der Keller war sehr viel größer als die Räumlichkeiten oben. Die Wände auf der Hügelseite bestanden aus unbehauenem Stein, dicke Holzbalken stützten die Decke. Das Ganze erinnerte Carly an die geheimen Schatzkammern, die Shifter unter ihren Häusern errichteten, um ihr Vermögen oder andere Wertgegenstände einzulagern, die sie im Laufe ihres langen Lebens angesammelt hatten. Sie verwandelten diese Räume in Zufluchtsorte, an denen sie zusammen mit ihren Familien sie selbst sein konnten, ohne dass Menschen sie dabei beobachteten.

Die Treppe endete in einem großen leeren Raum, der von einer Neonröhre an der Decke erleuchtet wurde. Auf der anderen Seite gab es einen Durchgang in ein weiteres Zimmer, dessen Tür ebenfalls aus den Angeln gerissen und achtlos beiseite geworfen worden war. Tiger war definitiv hier gewesen.

Tyson tauchte atemlos und mit gezogener Waffe am Fuß der Treppe auf.

„Sie müssen hinter mir bleiben“, fuhr er Carly an.

Nicht, solange Tiger in Gefahr ist. Carly ging weiter, spähte in den nächsten Raum und stellte fest, dass sich auch dahinter ein weiterer befand, dessen Tür auf dem Boden lag.

Sie trat ein und ging zur nächsten Kammer, die ebenfalls leer und von einer Neonröhre erleuchtet war. Sie bewegte sich vorsichtig, aber schnell, musste dringend zu Tiger.

„Carly“, versuchte es Tyson erneut.

Sind wir jetzt schon per du?, dachte Carly, ohne langsamer zu werden.

Tyson stieß einen unterdrückten Schrei aus, und Carly hörte ein Knurren hinter sich. Sie drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie ein Löwe an Tyson und ihr vorbeistürmte und tiefer in den Keller eindrang.

„Connor!“ Er eilte Tiger zu Hilfe, dieser Schatz. Nur dass er auf dem besten Weg war, in seinen eigenen Tod zu rennen.

Carly hastete ihm nach, folgte Connor nacheinander durch mehrere Räume. Sie alle hatten einst eine dicke Tür gehabt, die mit einem elektronischen Schloss verriegelt gewesen war. Sämtliche Türen lagen jetzt zerschmettert neben ihren Öffnungen.

Endlich erreichten sie den letzten Raum, der mindestens dreißig Meter lang war. Im flackernden Neonlicht sah Carly dicke Eisenstangen, die das gegenüberliegende Ende abtrennten, und dahinter eine massive Wand. Keine weiteren Türen.

Tiger ragte in seiner furchterregenden Halbgestalt auf. Ihm gegenüber standen mindestens ein Dutzend Männer. Carly erkannte die schwarzen Overalls der Typen aus dem SUV. Sie hatten Verstärkung bekommen, obgleich niemand die Straße hochgefahren war. Das bedeutete, die anderen Soldaten waren bereits hier gewesen.

Connor tauchte an Tigers Seite auf, der die Männer, die sie langsam einkreisten, warnend anfauchte. Ein Soldat hob ein Betäubungsgewehr und schoss auf Connor, aber der war bereits nicht mehr da, wo er noch eine Sekunde zuvor gestanden hatte. Er sprang aus dem Stand ab und drehte sich in der Luft, sodass er vor einem anderen erschrockenen Soldaten landete.

Der Betäubungspfeil flog an Connor vorbei auf Carly zu. Sie konnte sich nicht mehr ducken, doch das Geschoss segelte knapp drei Zentimeter an ihr vorbei und bohrte sich in Tysons Schulter.

Die Betäubungsmittel für Shifter waren stark. Tyson machte einen Schritt nach vorn, dann knickten ihm die Beine weg, er verdrehte die Augen und ging zu Boden.

Es knisterte in seinem Funkgerät, und eine Stimme verlangte zu wissen, wo Tyson war und was eigentlich los sei. Carly ignorierte es, nahm Tyson die Pistole aus der erschlafften Hand und verstaute sie wieder in seinem Holster.

Der Mann mit dem Betäubungsgewehr versuchte panisch nachzuladen. Tiger schlug ihm die Waffe aus der Hand und dann den Mann zu Boden.

Ein weiterer Soldat hob ein Betäubungsgewehr und jagte Tiger den Pfeil mit triumphierendem Gesichtsausdruck genau in den Bauch.

Tiger packte den Pfeil, pflückte ihn sich aus dem Fell und schleuderte ihn beiseite. Der Schütze riss die Augen auf, dann nahm ihm Tiger die Waffe aus den Händen und brach sie entzwei.

Betäubungsmittel wirkten bei Tiger nicht immer. Man musste ihn mehrfach treffen, um ihn auch nur zu verlangsamen. Connor nannte ihn einen Supershifter und hatte Tiger geraten, ein Cape zu tragen. Tiger hatte das stets unkommentiert gelassen, aber zu Halloween hatte er letztes Jahr mit einem roten Laken als Umhang einige Junge auf ihrem Weg von Tür zu Tür zum Süßigkeitensammeln durch die Shiftertown begleitet.

Von dem gelassenen Tiger, der Junge so liebte, war hier wenig zu spüren. Die Männer hatten Todesangst vor ihm, doch sie hielten ihn in Schach, verhinderten, dass er den Käfig am anderen Ende des Raumes erreichte.

Warum?

Carly, die bisher nur Augen für Tiger gehabt hatte, huschte um sie alle herum in Richtung der gegenüberliegenden Wand.

Das Erste, was Carly auffiel, als sie sich dem Käfig näherte, war der Geruch. Der Gestank nach Exkrementen und ungewaschenen Körpern traf sie wie eine Ohrfeige.

Das zweite war das Geräusch. Tigers und Connors Knurren hatte das des anderen Tiers übertönt.

Dieses Knurren wurde zu einer Art spitzem Kreischen, als Carly näherkam. Der Käfig lag tief in den Schatten, und Carly näherte sich ihm vorsichtig und wünschte, sie hätte eine Taschenlampe dabei.

Hinter den Gitterstäben bewegte sich etwas, ein Wesen, das rastlos auf und ab ging, ein gefangenes wildes Tier. Gelegentlich warf es sich gegen die Gitterstäbe. Sie dröhnten unter dem Aufprall seines Körpers, gaben aber nicht nach.

Die Bestie pirschte weiter auf und ab und stieß verzweifelte und zugleich zornige Geräusche aus. Carly hatte nun, da sie ein Jahr bei den Shiftern gelebt hatte, ein besseres Verständnis für wilde Tiere und begriff, dass unter dem Zorn und der Frustration dieser Kreatur schreckliche Angst und Schmerz brodelten.

Das musste Tiger gespürt haben, diesen Hilferuf, der ihn über mehr als tausend Kilometer Wüste hinweg erreicht hatte.

„Schon gut“, sagte Carly besänftigend, als sie die letzten Schritte Richtung Käfig machte. „Tiger ist gekommen, um dir zu helfen.“

In diesem Moment warf sich die Kreatur nur Zentimeter von Carly entfernt gegen die Gitterstäbe.

In dem schwachen Licht erkannte Carly einen dicht bepelzten Körper, lange, rasiermesserscharfe Krallen und ein rotes Maul mit riesigen blitzenden Zähnen.

Aber das war es nicht, was Carly entsetzt zurückweichen ließ. Ihr Aufkeuchen war der Tatsache geschuldet, dass das Fell gestreift war und dass die Augen, die sie so wild anfunkelten, goldgelb loderten.

Tigeraugen.