Kapitel Acht

Plötzlich war Tiger alles sehr klar.

Er sah Carly mit ausgestreckten Armen, wie sie sich vor seinen blutigen Körper warf. Dann hörte er Connor schreien und die Männer abdrücken.

Der Klagelaut des Tigermädchens übertönte den Lärm und brachte Tigers Blut zum Kochen.

Rette sie …

Ihm blieb keine andere Wahl.

Er riss Carly hoch, unmittelbar bevor die Schüsse sich lösten. Sie stieß ein „Iip!“ aus, wie immer, wenn er etwas Unerwartetes tat, dann war sie aus der Schussbahn.

Tiger ließ sie los, setzte seine Drehung fort und fegte mit einem schwungvollen Tritt die Feinde, die sich zu nah an ihn herangewagt hatten, von den Beinen. Er bewegte sich so schnell, dass er längst ausgewichen war, als die Schüsse sich lösten. Männer duckten sich, fluchten und richteten ruckartig ihre Waffen nach oben oder unten, um nicht ihre Kameraden zu treffen.

Sobald sie sich wieder orientiert hatten, würden sie erneut auf ihn zielen, dreißig Mann, die entschlossen waren, Tiger umzulegen.

Egal. Tiger vertraute darauf, dass Carly und Connor das Tigermädchen in Sicherheit bringen würden, während er hier aufräumte.

Er warf sich auf seine Feinde, und jetzt kannte er keine Zurückhaltung mehr. Er spürte die Kugeln kaum, die seinen Körper trafen, und eine weitere Dosis Betäubungsmittel geriet in seinen Blutkreislauf.

Carlys Berührung hatte den ersten Schmerz gelindert und die Drogen neutralisiert, die versuchten, seine Adern zu fluten. Es hatte ihn stärker gemacht, und so konnte er dem Sperrfeuer widerstehen, das ihn jetzt traf.

Tigers grundlegendster Instinkt war, nicht zu töten. Er war geschaffen worden, um zu helfen, nicht um zu verletzen.

Aber manchmal …

Carly brüllte. Connor nahm den Schrei auf, und er klang wie „Hier!“

Der Raum war jetzt noch voller. Auch die Neuankömmlinge trugen Schwarz, allerdings nicht dieselben Uniformen. Der Befehlshaber der Neuankömmlinge hatte sehr kurzes, weißblondes Haar, hellblaue Augen und ein hartes Gesicht. Hinter ihm kamen drei Shifter, alle schwarzhaarig, blauäugig und stinksauer.

„Tiger!“ Walker Danielsons Stimme drang durch den Nebel. „Beruhige dich. Wir haben die Sache im Griff.“

Der Befehlshaber der gegnerischen Soldaten knurrte: „Wer zur Hölle sind Sie?“

„Major Danielson, Sergeant. Ich übernehme hier jetzt.“

Tiger war nicht sicher, woher Walker wusste, dass der Mann Sergeant war, aber er nahm zackig, wenn auch wütend Haltung an und salutierte.

„Jawohl, Sir.“ So etwas nannte man wohl widerstrebenden Gehorsam.

„Tiger, mein Junge …“

Liam Morrissey watete durch das Meer der Feinde, gefolgt von seinem Vater und seinem Bruder, der das riesige Wächterschwert in einer Scheide auf dem Rücken trug.

Das Schwert wirst du heute nicht brauchen, dachte Tiger, der noch immer leicht benommen war.

Alle drei Morrisseys gingen auf Tiger zu, doch der kehrte ihnen den Rücken und schritt zum Käfig, wobei er sich zurückverwandelte.

Am Käfig wurde Connor wieder zum Menschen und erbleichte, als er seine Onkel und seinen Großvater entdeckte. „O Scheiße.“

Hinter ihm umklammerte die junge Frau die Gitterstäbe, und ihre Schreie steigerten sich zu wildem Kreischen, als sie versuchte, sie zu zerbrechen. Ihre Verzweiflung beutelte Tiger, das Bedürfnis, ihr zu helfen, überwog alles andere.

Er erreichte den Käfig. Carly sah in uneingeschränktem Verständnis zu ihm auf. Die Tatsache, dass sie genau wusste, was hier vor sich ging, ohne dass Tiger auch nur ein Wort sagen musste, linderte den Schmerz seiner Verletzungen. Sie war eben wirklich seine Herzensgefährtin.

Tiger packte die Gitterstäbe und zog.

„Das habe ich schon versucht“, erklärte Connor. „Wir konnten sie nicht mal zu zweit verbiegen. Das ist irgendein spezielles Anti-Shifter-Metall oder so.“

Tiger antwortete nicht. Er ließ den Stab los, schloss die Augen, legte dann beide Hände um einen anderen Stab, drehte sich seitwärts und drückte.

Das Tigermädchen im Käfig zögerte nicht. Sie packte den Gitterstab und drückte ebenfalls, ihre wortlosen Schreie waren voller Entschlossenheit.

Hinter ihm brüllte Walker Befehle. Einer davon lautete: „Öffnen Sie diesen Käfig!“

„Er ist versiegelt“, antwortete der Sergeant triumphierend. „Da kommt keiner rein oder raus.“

Tiger spürte, wie sich die Menge vor Dylan Morrissey teilte. Dylan hatte diese Wirkung auf Menschen. Der ältere Shifter, der schon alles gesehen und so viel durchgemacht hatte, trat schweigend zu ihnen, legte die Hände um die Tigers und setzte ebenfalls seine gesamte Kraft ein.

„Na dann komm, Sean“, forderte Liam seinen Bruder auf. „Wir wollen uns doch nicht vor Dad blamieren.“

Vier weitere Hände umschlossen den Gitterstab, gefolgt von denen Connors. Wieder erklang Liams Stimme. „Wir beide unterhalten uns später“, warnte er seinen Neffen.

Connor stöhnte. „O Mann, ich bin so was von geliefert.“

Sein Ärger brachte das Tigermädchen auf, das Liam anknurrte. Der lachte keuchend. „Bring mich später um, Süße“, sagte er. „Erst mal holen wir dich da raus.“

Carly kam ihnen zu Hilfe und packte die Gitterstäbe unterhalb von Tiger. Sie konnte überhaupt nichts ausrichten, das war allen klar, sie war allerdings nicht bereit, einfach abzuwarten und nichts zu tun. Auch das liebte Tiger an ihr.

Das Metall knirschte, bog sich und brach schließlich. Ein Knall wie ein Donnerschlag dröhnte durch den Raum, und von der Betondecke regneten Staub und Steinchen herab.

Tiger riss die Reste des Gitterstabs weg und wandte sich dem nächsten zu.

Mithilfe der Morrisseys und des Tigermädchens brach der zweite Stab schneller, und das wüstentrockene Gestein der Decke rieselte weiß herab.

Tiger griff hinein und riss die junge Frau aus dem Käfig. Sie kreischte und wehrte sich in erneutem Entsetzen. Ja, sie wollte hinaus, aber sie kannte all diese Männer nicht – Männer, die sie in einen Käfig gesteckt hatten, genau wie früher einmal Tiger.

Tiger zog das Mädchen an sich. Sie wehrte sich und schlug nach ihm, und wenn sie seinen verwundeten Körper traf, tat es weh, doch Tiger stand einfach nur da und ließ sie toben.

Er nahm ihr Gesicht in die Hände und legte ihren Kopf in den Nacken, sodass sie ihm in die Augen sehen musste. Er musterte ihre gelbe Iriden mit den tief goldenen Flecken, die Augen eines Tigers.

Schließlich beruhigte sich die junge Frau und starrte ihn ungläubig an. Dann stieß sie einen weiteren Schrei aus, einen Schrei des Erwachens, des Erkennens und der Hoffnung.

Sie schlang die Arme um Tiger, und er zog sie eng an sich. Ihr verfilztes, strähniges Haar an seiner Wange fühlte sich rau an, und sie zitterte am ganzen Leib, aber er hielt sie fest, und ein Schmerz, den er fast dreißig Jahre lang in sich getragen hatte, löste sich und verflog.

Liam atmete geräuschvoll ein. „O Göttin, was zum Teufel tut er da?“

Dann ertönte Carlys schönes Lachen. „Er tut nur, was ihm die Natur befiehlt, Liam Morrissey. Kapierst du’s nicht? Sie ist sein Junges.“