»Guten Morgen, messieurs . Was kann ich für Sie tun?«
Die Sekretärin sah Lipaire und Karim fragend an, als sie ihr Reich, das Vorzimmer des Gemeindechefs von Grimaud Village , betraten. Sie saß hinter einem riesigen Schreibtisch und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen. Irgendetwas an ihr wirkte bedrohlich, fand Lipaire.
»Wir … ich … also«, begann Karim, doch die Frau, eine Mittvierzigerin mit streng wirkender Kurzhaarfrisur, fuhr ihm sofort in die Parade: »Falls Sie eine Aufenthaltsgenehmigung brauchen: Das Einwohneramt befindet sich im Erdgeschoss.«
»Das wissen wir natürlich, sehr verehrte Mademoiselle … Wie war doch gleich Ihr wundervoller Name?«, versuchte es Lipaire auf die gute alte Schmeicheltour. Die würde auch bei der eisernen Lady vor ihnen verfangen.
»Mein Name ist Collard, der ist nicht besonders wundervoll, stammt nämlich noch von meinem Ex-Mann. Die Zeiten von Mademoiselle sind also längst vorbei«, erklärte die Sekretärin wenig beeindruckt von Lipaires Charmeoffensive. »Noch was?« Sie hatte sich bereits wieder ihrem Computerbildschirm zugewandt.
»Ja, wir würden gern ein paar Worte mit unserem verehrten Bürgermeister wechseln, wenn das möglich wäre.«
Madame Collard lachte ungläubig auf. »Dazu brauchen Sie schon einen Termin. Meinen Sie etwa, hier kann jeder reinspazieren und mit Monsieur le Maire reden, wie es ihm gerade gefällt?«
»Eigentlich schon, ja«, antwortete Karim frei heraus. »Drum sind wir ja hier.«
Jetzt schüttelte die Frau den Kopf. »Wenn Sie um einen Termin nachsuchen möchten, können Sie draußen ein Formular mit Ihren Kontaktdaten ausfüllen und in den Briefkasten werfen. Dann wird Ihnen, nach Prüfung Ihres Anliegens, möglicherweise ein Datum zugeteilt. So läuft das hier.«
»Das ist ja ein ganz wunderbar ausgeklügeltes Verfahren«, fuhr Lipaire in seiner Schmeichelstimme fort. »Aber vielleicht hat unser viel beschäftigter Maire zufälligerweise eine Lücke im Kalender, jetzt, wo wir schon mal vor Ort wären?«
Ohne nachzusehen, schnarrte die Sekretärin: »Sie wären gut! Heute gibt es da bestimmt keine Lücke. Wie die nächste Zeit auch. Tagesaktuelle Terminanfragen sind bei uns nicht vorgesehen. Ich habe Ihnen doch gerade erklärt, wie das hier funktioniert. Haben Sie das womöglich nicht verstanden? Sie sind kein Franzose, oder?«
Lipaire stieß die Luft aus. Es war ihm ein Rätsel, wie sie das trotz seiner akzentfreien Aussprache und des durch und durch mediterranen Erscheinungsbilds erkannt hatte. »Wir dachten eben, wenn Monsieur schon im Haus wäre …«
»Ist er aber nicht. Im Moment müssen Sie sich auf Wartezeiten von ungefähr einem Monat einstellen. Und jetzt au revoir et bonne journée . Ich habe zu arbeiten.«
Karim riss die Augen auf. »Einen Monat? Das ist viel zu spät!«
Guillaume startete einen letzten Versuch. »Vielleicht könnten wir da eine klitzekleine Ausnahme machen, Mademoiselle Collard?«
Die Augen der Dame verengten sich zu Schlitzen. »Madame!« , zischte sie.
»Natürlich, verzeihen Sie. Aber wenn man Sie so sieht …«
Jetzt blickte sie immerhin von ihrem Monitor auf. Anscheinend begann sie nun doch noch, Feuer zu fangen. »Worum geht’s denn?«
Na also. Wäre auch die erste Frau seit Langem gewesen, die sich dauerhaft resistent gegenüber seinen Komplimenten gezeigt hätte. Guillaume schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. »Um die Wassertaxis von Port Grimaud.«
»Nicht unsere Zuständigkeit. Wenn Sie überhaupt eine Audienz bekommen, können Sie da noch mal drei Wochen Wartezeit obendrauf rechnen. Au revoir, messieurs. «
Sie wandte sich ab und machte damit unmissverständlich klar, dass die Sache für sie erledigt war.
Ratlos standen Karim und Lipaire wieder draußen vor der Mairie . Es war inzwischen kurz nach zehn, und obwohl die Sonne von einem wolkenlosen Himmel schien, ließ die südliche Wärme heute auf sich warten. Der Mistral, der berüchtigte Wind aus dem Rhonetal, hatte die Gegend noch immer in seinem eisigen Griff. Die beiden lehnten sich an die steinerne Brüstung, die den kleinen Vorplatz begrenzte. Das Städtchen Grimaud mit seinen mittelalterlichen Gassen lag einem hier oben zu Füßen, dahinter hatte man einen Panoramablick über Port Grimaud und auf den gesamten Golf bis ins mondäne Saint-Tropez.
»Merde« , brummte Lipaire.
»Wenn nicht mal du mit deiner angestaubten Kavaliersmasche mehr durchkommst, ist da wohl nix zu machen.«
»Ich geb dir gleich angestaubt !« Guillaume drehte sich um und sah hinauf zum Fenster des Bürgermeisterbüros. Es lag direkt über dem Eingangsportal mit der Aufschrift Hôtel de Ville , eine Bezeichnung, die für ein Örtchen dieser Größe in seinen Augen ein wenig überzogen war. Neben den Fensterflügeln wehte die Trikolore, rechts eine Fahne mit dem Stadtwappen von Grimaud, das die stilisierte Burg zeigte. Der Blick von dort oben gehörte mit Sicherheit zu den schönsten weit und breit. Ein solcher Arbeitsplatz hätte auch Lipaire gefallen.
Das typische Klacken von Boulekugeln lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den Platz. Im Vorbeigehen hatte er ein paar Spieler unter den Platanen gesehen, aber nicht wirklich auf sie geachtet. Jetzt erst erkannte er zwei der älteren Herren und hob eine Hand zum Gruß. Die Rentner waren früher, vor der unglückseligen Ausrufung des Fürstentums, auf dem Marktplatz von Port Grimaud regelmäßig ihrem Hobby nachgegangen, bezahlt und engagiert vom Verwaltungsrat, um für mehr Provence-Atmosphäre zu sorgen. In letzter Zeit hatte Lipaire sie allerdings nicht mehr in der Lagunenstadt gesehen.
»Na, Männer, ihr lasst euch ja gar nicht mehr bei uns blicken!«, rief er in die Runde.
Mathieu, ein dicker Mann mit Schiebermütze, Schnurrbart und selbst gedrehter Zigarette im Mundwinkel, kam auf ihn und Karim zu. In der Hand hielt er Maßband und Senklot, offenbar hatte er in der aktuellen Runde die Rolle des Schiedsrichters inne.
»Stimmt, aber wir sind da unten ja nicht mehr erwünscht. Statt dem Bouleplatz gibt es jetzt die neue Champagnerbar. Und bezahlen will uns schon lange niemand mehr. Wir sind ein Schandfleck, haben sie gesagt. Müssen wir eben mehr Taschengeld von unseren Frauen erbetteln, damit wir uns die paar Pastis pro Tag noch leisten können.« Mathieu lachte kehlig auf. »Und was verschlägt euch zwei Wasserratten zu uns in die Berge? Ist es euch zu bunt geworden in eurem Disneyland da unten?«
Lipaire zuckte die Schultern. »Wir müssen zum Bürgermeister, aber der scheint ja rund um die Uhr eingespannt zu sein. Es braucht Wochen, bis man bei ihm einen Termin bekommt.«
Der andere schüttelte energisch den Kopf. »Ich sag euch: Wenn hier einer nicht eingespannt ist, dann ist es Venturino. Der kommt jeden Vormittag erst um halb elf in die Mairie. Zehn Minuten später geht oben das Fenster auf, und er trinkt erst mal in aller Ruhe seinen Café Noir . Um spätestens halb eins geht er nach Hause zum Mittagessen und zur ausgiebigen sieste , wie man hört.«
»Interessant«, murmelte Lipaire. »Und er kommt immer durch den Haupteingang?«
»Exactement.«
»Merci , Mathieu, du hast uns sehr geholfen.«
»Na, ihr könnt euch für diese Information ja mit einer kleinen Spende in unsere Vereinskasse erkenntlich zeigen. Das wäre Jean-Jacques’ alte Zigarrenkiste, vorn auf der Bank.«
»Schon mal einem Nackten in die Tasche gelangt?«
Sein Gegenüber sah ihn stirnrunzelnd an.
»Nur so eine Redensart. Aber wir sind im Moment gerade selber ein wenig klamm.«
»Aber für den Porsche hat’s gereicht …«
»Der kleine goldene Wagen ist leider Geschichte«, erwiderte Guillaume Lipaire mit einem Seufzen.
»He, Mathieu! Halt keine Volksreden, wir brauchen dich zum Nachmessen!«
Der Mann zuckte die Achseln und kehrte zu seinen Mitspielern zurück, die ihn bereits wild gestikulierend erwarteten.
Nachdem Guillaume und Karim eine angenehm ruhige halbe Stunde auf einer windgeschützten Parkbank mit Blick auf den Bouleplatz verbracht hatten, bog, wie vom alten Mathieu vorausgesagt, Bürgermeister Pierre Venturino um die Ecke und überquerte den Platz. Er trug einen blaugrauen Anzug, die Füße steckten in edlen Ledertretern, auf der Nase hatte er eine randlose Sonnenbrille. Sein neuerdings exakt geschnittener Bart und das obligatorische Smartphone am Ohr vervollständigten das Bild. Karim und Lipaire sprangen auf. Das war ihre Chance. Zielstrebig näherten sie sich dem Gemeindechef. Der sprach derart laut in sein Handy, dass Lipaire gut verstehen konnte, was er sagte: »Madame Collard, wenn Sie mir bitte schon mal einen café machen würden, ich bin gleich oben. Irgendwelche Termine heute? Nein? Umso besser. Bis gleich.«
Lipaire zwinkerte Karim zu. Der nickte grinsend.
»Lieber, sehr geehrter Monsieur le Maire «, trällerte Lipaire, als sie Venturino erreichten.
Der Mann sah ihn irritiert an und steckte sein Handy ein. »Enchanté, messieurs. Ich wünsche Ihnen beiden einen angenehmen Tag in meiner wundervollen Gemeinde!«, sagte er, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.
»Wenn Sie vielleicht nur ein paar Minuten Ihrer kostbaren Zeit opfern könnten, um mit zwei Bürgern über ein Anliegen zu reden …«
Venturino hob eine Hand und wedelte damit herum, als wolle er eine lästige Fliege vertreiben. »Lassen Sie sich gerne einen Termin geben, aber mein Kalender ist zum Bersten voll, wie Sie sich denken können.«
»Hat Madame Collard da am Telefon nicht gerade etwas anderes gesagt?«, insistierte Lipaire.
Venturino lief einfach weiter.
»Schöne Grüße von Ihrer Tochter übrigens. Na ja, Sie werden sich bestimmt nicht für Neuigkeiten von ihr interessieren!«, rief Karim auf einmal.
Wie aufs Stichwort blieb Venturino stehen, machte kehrt, kam auf sie zu und schob sich die Sonnenbrille in die gerunzelte Stirn. »Sie stehen in Kontakt mit meiner Tochter?«
Karim lächelte ihn an. »Das kann man so sagen, ja.«
»Wie geht es ihr denn?«
Lipaire grinste in sich hinein. Venturino hatte Feuer gefangen.
»Jacky? Ach, wo soll ich da anfangen? Und da Sie ja keine Zeit haben …«
Man sah Pierre Venturino an, wie er innerlich mit sich rang. Doch die Neugier, vielleicht auch die Sorge um seine Tochter im fernen Amerika, gewann schließlich gegen die Fassade des vielbeschäftigten Politikers die Oberhand. »Nun, für einen kleinen Kaffee könnte es gerade so reichen.«
»Chef, ich habe den beiden schon mehrmals gesagt, dass Sie keinen Termin frei haben. Tut mir leid, dass sie Sie jetzt auch noch persönlich behelligen. Soll ich die Polizei rufen?« Madame Collard war sofort von ihrem Tisch aufgesprungen, als sie zu dritt ihr Vorzimmer betreten hatten.
»Nicht nötig, die beiden Herren sind meine Gäste. Kaffee?«
Karim nickte, und Guillaume erklärte: »Da sagen wir nicht Nein, Monsieur . Zwei kleine Tässchen mit etwas Zucker wären wunderbar.«
Madame Collard stand mit offenem Mund da. »Aber … so geht das nicht. Sie müssen sich schon auch an unsere Vereinbarungen halten, Chef.«
»Sicher. Für mich einen grand noir , wie immer. Und dreimal Wasser, danke.« Er bedeutete den beiden, ihm in seinen Amtsraum zu folgen.
»Aber Monsieur , ich …«, begann die Sekretärin, bevor Lipaire sie unterbrach: »Und bitte schnell, wir haben heute noch schrecklich viele Termine!«
Das Interieur des Bürgermeisterbüros hielt, was es von außen versprach: Der große Raum, in dessen Zentrum ein mächtiger, antiker Schreibtisch samt Stuhl stand, der eher wie ein barocker Thron aussah, verdiente das Prädikat repräsentativ . Das alte Parkett mit opulentem Muster war auf Hochglanz poliert, die Stuckdecke erstrahlte in Weiß und Gold. Neben einer bequem aussehenden, edlen Ledersitzgruppe befand sich ein kleiner Besprechungstisch mit massiver Holzplatte und gedrechseltem Fuß.
Pierre Venturino öffnete die Fenster. Von unten drangen das Klacken der Boulekugeln und die Gespräche der Männer herauf, und eine angenehm frische Brise wehte ins Zimmer. Für eine Weile verharrte der Bürgermeister dort, was Lipaire nutzte, um sich weiter im Raum umzusehen. An den Wänden hingen statt alter Gobelins zeitgenössische Fotos im Großformat: Sie zeigten fast ausnahmslos Pierre Venturino, meist bei repräsentativen Aufgaben im Ort, oft neben Marie Vicomte oder weiteren Mitgliedern ihrer Familie. Daneben Wimpel und Schärpen mit dem grün-weißen Rautenmuster. Im Vergleich dazu nahmen sich die Trikolore hinter dem Schreibtisch und das Porträt des französischen Staatspräsidenten eher klein aus.
Als Venturino sich umdrehte, traf sein Blick den von Guillaume Lipaire. »Interessant, nicht wahr?«, sagte er und deutete auf das gerahmte Dokument, das Guillaume eben studierte. Es wies Venturino als Repräsentanten der République Française im Fürstentum Port Grimaud aus und war vom greisen Familienoberhaupt, Chevalier Vicomte, unterzeichnet. »Was diese wieder aufgetauchte Urkunde der Familie Vicomte doch für Umwälzungen in unserer Gegend mit sich gebracht hat.«
Lipaire runzelte die Stirn. Wusste der Bürgermeister etwa, dass sie am Auffinden des besagten Dokuments schuld waren? Das konnte eigentlich nicht sein.
»Sicher keine einfache Aufgabe, Diener zweier Herrn zu sein – des Fürstentums einerseits und der ganz normalen Bevölkerung des Dorfes andererseits.«
»Ich sehe es als Chance«, gab sich Venturino staatsmännisch. »Es geht ja vor allem um den touristischen Nutzen dieser ganzen Sache. Nach wie vor fühle ich mich natürlich dem französischen Volk als Souverän verpflichtet und trage meine blau-weiß-rote Amtsschärpe, die mir die Republik verliehen hat, mit Stolz. Dennoch schadet es nicht, beim Fürstentum einen Fuß in der Tür zu haben. Deshalb habe ich beispielsweise schon seit zwanzig Jahren ein kleines Zimmer unten im Tour des Célibataires in Port Grimaud. Zwölf Quadratmeter, die mir die Tür zu allen Versammlungen der Eigentümergemeinschaft öffnen, zu der ich als Bürgermeister sonst keinen Zutritt hätte.«
Lipaire nickte. »Falls Sie jemanden brauchen, der hin und wieder danach sieht, sagen Sie Bescheid. Ich würde mich freuen, Ihnen für einen Wartungsvertrag ein Angebot zu machen, das Sie nicht ablehnen können.«
Venturino winkte gönnerhaft ab. »Ich habe meine Leute, danke. Und nun nehmen Sie doch bitte Platz. Lassen Sie uns zum Thema Ihres Hierseins kommen.« Er deutete auf die beiden Besucherstühle gegenüber seinem Schreibtischthron. Die beiden setzten sich.
Guillaume warf einen schnellen Blick auf die Akte, die aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag. Es handelte sich offenbar um den Entwurf einer Neuregelung der Hafenrechte in Port Grimaud. Er wunderte sich. Gehörten die Anlegestege nicht automatisch zu den Grundstücken? Falls sich diesbezüglich etwas verändern sollte, würde das mit Sicherheit für einen Aufschrei der Anwohner sorgen. War das das Nächste, was die Vicomtes sich unter den Nagel reißen wollten? Als Pierre Venturino die Neugier seines Besuchers bemerkte, klappte er den Aktendeckel hastig zu und schob ihn unter seine Schreibtischunterlage.
»Also gut«, begann Karim nach einem prüfenden Seitenblick zu Guillaume aufgeregt, »ich bin jetzt schon seit über vier Jahren Wassertaxifahrer und hab mir nie was zuschulden kommen lassen.«
Guillaume zwickte die Augen zusammen, als könne er so die Lüge ungeschehen machen, die der Junge da eben von sich gegeben hatte.
»Das ist ja ganz wunderbar.«
»Nein, das ist es eben nicht, weil …«
»Doch, doch. Ehre, wem Ehre gebührt.« Venturino sah den Jungen forschend an. »Bist du nicht der Sohn unseres treuen Gemeindearbeiters Antoine? Tragisch, dass er uns so früh verlassen hat.«
Karim schluckte.
Lipaire wusste, dass dieses Thema dem Jungen regelmäßig die Tränen in die Augen trieb, auch jetzt noch, nach all den Jahren, die seit dem tragischen Tod seines Vaters vergangen waren. Daher redete er an Karims Stelle weiter. »Wir haben gestern erfahren, dass …«
»Sind wir endlich beim Thema? Was gibt es Neues von meiner Tochter?«
»Ihre Tochter? Also, die … ist ja in Amerika. In Chicago. Stimmt’s, Karim?«
Der Junge schüttelte den Kopf und murmelte: »New York.« Noch immer waren seine Augen feucht.
»Das weiß ich doch. Aber sonst?«, gab sich Venturino ungeduldig.
»Sonst … war sie anscheinend neulich mal so richtig …« Guillaume überlegte. Er hatte keinen blassen Schimmer, womit er fortfahren sollte.
»Ja?« Venturino hing an seinen Lippen.
»Richtig … gut essen war sie.«
Man konnte die Enttäuschung im Gesicht des Bürgermeisters sehen.
»Jedenfalls geht es Karim heute drum, dass die Wassertaxis abgeschafft und alle Fahrer entlassen werden sollen.«
»Was hat denn das mit meiner Jacqueline zu tun?«
Guillaume und Karim sahen sich an.
»Das … also, na ja … sie fährt ja auch immer so gern mit den Coches d’Eau «, stammelte Petitbon.
Der Bürgermeister blickte skeptisch. »Ach ja, ist das so?«
»Natürlich«, bekräftigte Lipaire. »Und stellen Sie sich vor, Ihre Jacky kommt aus Amerika zurück und kann nicht mehr auf den Kanälen fahren. Diese Enttäuschung!«
Venturino zuckte die Achseln. »Geht es ihr denn ansonsten gut?«
Karim nickte eifrig. »Richtig super. Sie … macht den ganzen Tag echt interessante Sachen.«
»Hm. Mich würde ja interessieren, ob sie an dieser Filmakademie auch wirklich vorankommt.«
»Ja, sie ist viel mit so Filmsachen beschäftigt, geht ins Kino und so.«
»Ins Kino?«
»Ja, ganz oft. Um filmmäßig … voranzukommen.«
Lipaire beschloss, nun endlich wieder zu ihrer eigentlichen Agenda zurückzukehren. »Also, können Sie denn nun etwas unternehmen, wegen der Wassertaxis? Von dieser Institution profitiert ja letztlich die Attraktivität des gesamten Ortes. Die Feriengäste, an die ich vermiete, schätzen den kostenlosen Service zum Strand. Wenn das wegfällt, hätte es sicher negative Auswirkungen, und das, wo mein Wohnungsportfolio sowieso schon geschrumpft ist.«
»Ach, Sie vermieten? Ich dachte immer, Sie wären Hausmeister.«
Lipaire stockte. Er hatte sich im Eifer des Gefechts verplappert.
»Monsieur Lipaire ist sich nicht zu schade, auch mal unterzuvermieten. Im Auftrag der Hauseigentümer, versteht sich.«
»Versteht sich«, wiederholte Lipaire murmelnd.
»Nun, mir sind da die Hände gebunden. Bekanntlich ist Port Grimaud selbstverwaltet, mein Einflussbereich endet also de facto am Stadttor. Aber heute Abend gibt es eine große Eigentümerversammlung, zu der ich im Übrigen geladen bin, um ein paar Sätze zu sprechen. Vielleicht können Sie da Ihr Anliegen vorbringen. Da ich mir keine weiteren bahnbrechenden Neuigkeiten über meine Tochter erwarte, bedanke ich mich für den Besuch und wünsche noch einen angenehmen Tag.«
In diesem Moment ging die Tür auf. Madame Collard stand mit bitterbösem Gesicht und einem Tablett voller Tassen und Gläser da. Pierre Venturino jedoch winkte von seinem Thron aus ab. »Die beiden Herren wollten gerade gehen.«
»Also, wir hätten schon noch Zeit«, sagte Lipaire achselzuckend.
»Ich nicht. Die Amtsgeschäfte rufen. Aber Sie können Ihren Kaffee gern noch im Vorzimmer trinken.«
Die Sekretärin schüttelte erschrocken den Kopf, doch Lipaire sagte mit gewinnendem Lächeln: »Es wäre uns eine ganz besondere Ehre, Ihnen noch ein wenig Gesellschaft zu leisten, Mademoiselle .«
Der erneut auffrischende Mistral vor dem Rathaus war nichts gegen die Eiseskälte, die Karim und Guillaume im Vorzimmer des Bürgermeisters entgegengeweht war.
»Das war ein Griff ins Klo.«
Lipaire hob mahnend den Zeigefinger. »Nicht immer so negativ, Karim!«
»Hat uns doch überhaupt nix gebracht, außer dem Kaffee bei seinem Bürodrachen.«
»So würde ich das nicht sehen: Erstens wissen wir, dass Jacqueline nicht nur deine, sondern auch Venturinos Achillesferse ist.«
»Was für ’ne Ferse?«
»Junge, Junge, deine Bildung … Zweitens haben wir erfahren, dass wir heute Abend zur Versammlung in Port Grimaud müssen.«
»Ob wir da weiterkommen?«
»Kopf hoch, das wird schon. Hast du übrigens gesehen, was er da so schnell auf seinem Schreibtisch umgedreht hat?«
Karim schüttelte den Kopf.
»Es ging um die Rechte an den privaten Anlegestellen. Sieht aus, als würde die Gemeinde eine Neuregelung planen. Wer weiß, ob uns dieses Wissen nicht noch mal helfen kann. Und jetzt ab nach Hause, ich habe heute einen Mieterwechsel, davor möchte ich mich wenigstens noch ein, zwei Stündchen aufs Ohr legen.«