7

Nach der ausgiebigen Mittagspause war die Arbeitslust der Halbfreiwilligen nicht mehr in Schwung gekommen. Lizzy saß auf einem Klappstuhl und schlief in der Sonne, wobei sie kehlige Schnarchlaute ausstieß. Auf diese folgten immer wieder lange Pausen, was Guillaume angstvoll auf den nächsten beruhigenden Schnarcher warten ließ. Er selbst hatte sich ein paar Meter weiter einen Platz im Schatten gesucht, während Karim unmotiviert mit der Schaufel in der harten Erde herumstocherte. Die Sonne brannte inzwischen erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel. Delphine hatte auf einer ausgedienten Holztruhe Platz genommen und malte mit einem Ast Kreise in den Staub. Nur Paul ackerte weiter wie ein Berserker, ihm schien die Nachmittagssonne nichts anhaben zu können. Irgendwann, Guillaume wusste selbst nicht, warum ihm das auf einmal aufgefallen war, sagte er: »Wo ist eigentlich Louis?«

»Wer?«, fragte Paul.

»Echt jetzt?«, antwortete Karim. »Er meint den Hund.«

»Ach, stimmt. Wo ist der eigentlich?«

Der Deutsche seufzte. Vielleicht hatte die Sonne doch ihre Spuren bei dem Belgier hinterlassen. Er trug nicht einmal einen Strohhut auf dem kahl geschorenen Schädel. »Ich hab ihn schon … ziemlich lange nicht mehr gesehen.«

Sie schauten zu Lizzy, die noch immer mit offenem Mund döste.

»Meint ihr, wir sollten ihn suchen?«, fragte Karim. Er klang, als hoffe er, so die Schaufel endlich aus der Hand legen zu können.

»Ja, lasst uns mal nach ihm sehen«, stimmte Delphine zu. »Aber leise, wenn Lizzy aufwacht, macht sie sich nur unnötig Sorgen.«

Erst blieben sie noch im Schatten der Gewächshäuser, aber als sie den Vierbeiner dort nicht fanden, vergrößerten sie ihren Suchradius. Je weiter sie sich von der schlafenden Lizzy entfernten, desto lauter wurden ihre Rufe. Vom Hund jedoch fehlte jegliche Spur.

»Der kommt wieder, wenn er Hunger hat«, sagte Paul.

»Ach, woher weißt du das?«, konterte Delphine. »Schließt du da etwa von dir auf den Hund?«

Karim und Guillaume nahmen die Aussage des Belgiers aber zum Anlass, die Suche kurzerhand einzustellen. Als Lipaire auf dem Rückweg eines der lädierten Gewächshäuser passierte, blieb er kurz stehen und lugte hinein.

»Ich gucke nur noch hier nach, ob …« Er verstummte mitten im Satz, denn er hatte Louis Quatorze gefunden. Der Hund lag ein paar Meter rechts vom Eingang, aus seiner schwarzen Schnauze troff weißer Schaum. Er rührte sich nicht. Guillaume war kein Experte, was Haustiere anging, aber dieses hier sah ziemlich leblos aus. »Leute?«, rief er.

»Hast du meinen Louis gefunden?«, hörte er Lizzy fragen.

»Merde« , zischte er. Sie konnten der alten Dame ihren Liebling auf gar keinen Fall so präsentieren, sonst würde sie womöglich in kürzester Zeit ebenso daliegen wie der Hund. Fieberhaft schaute er sich um, da bog glücklicherweise Delphine um die Ecke des Gewächshauses.

»Was ist los?« Sie sah ihm offenbar an, dass etwas nicht stimmte. Wie empathisch sie doch war.

»Wir haben ihn«, zischte Guillaume und zeigte ins Gewächshaus.

Sie schaute hinein und hielt sich erschrocken eine Hand vor den Mund. »Das darf sie fürs Erste nicht erfahren. Ich lass mir was einfallen.«

Er nickte nur, und sie gingen zusammen zurück.

»Habt ihr ihn?«, fragte Lizzy sofort.

»Wir … glauben, dass wir ihn dahinten gesehen haben«, fabulierte Delphine und wies genau in die entgegengesetzte Richtung des Gewächshauses. Guillaume ließ sie machen, sie schien schließlich einen Plan zu haben. »Aber das ist sehr unwegsames Gelände. Ich würde vorschlagen, dass ich dich jetzt erst mal heimfahre, hier in der Hitze wird es dir doch sicher allmählich zu viel. Wir bringen dir den Hund dann später, ja?«

Lizzy blickte sie erst zweifelnd an, willigte dann aber schulterzuckend ein.

»Komm aber bitte gleich zurück, Delphine, ja?«, rief Lipaire den beiden Frauen noch hinterher. »Folgt mir«, zischte er Paul und Karim zu, als die beiden Frauen ins Auto gestiegen waren, dann lief er zurück zum Gewächshaus. Dort angekommen sahen ihn seine Freunde fragend an. Lipaire zeigte mit dem Daumen hinein.

Quenot ging die paar Schritte zum Eingang, dann entfuhr ihm ein: »Nein.«

»Doch.«

»Oh!«

»Herrje, was machen wir denn jetzt?« Die Stimme des Belgiers klang noch höher als sonst.

Karim sagte nichts, starrte nur wie die beiden anderen auf den leblosen Hundekörper.

»Ist er sicher tot?«, fragte der Belgier.

»Die Situation kommt mir irgendwie bekannt vor«, erklärte Karim.

Tatsächlich erinnerte das Ganze an damals, als sie einen Toten im Haus der Vicomtes gefunden hatten, was ihr Abenteuer überhaupt erst in Gang gebracht hatte. Auch damals waren sie sich zunächst nicht sicher gewesen, ob der Mann noch am Leben war oder nicht.

»Vielleicht müsste er in eine Tierklinik.« Paul war kreidebleich geworden.

Wie hatte sich dieser Mann, den schon ein Hundekadaver aus dem Gleichgewicht brachte, als Soldat behaupten können? »Müsste schon die Lazarus-Klinik sein«, antwortete Guillaume deshalb, auch wenn er sich ziemlich sicher war, dass sein Freund die biblische Anspielung nicht verstehen würde.

»Aber warum ist er denn auf einmal …?« Karim hielt inne. »Das Wasser, das du ihm hingestellt hast, war schon frisch, oder?«

Paul riss entsetzt die Augen auf. »Klar, also, das war … aus der Leitung eben. Bin ich jetzt schuld, oder was?«

»Vielleicht hat er auch irgendein Gift erwischt, das in einem der Gewächshäuser noch rumliegt? Pflanzenschutz oder so«, mutmaßte Guillaume.

»Dann wäre ja wieder ich der Verursacher!«

Karim hob die Hände. »Lasst uns nicht streiten, wo der arme Louis tot vor uns liegt!« Er schnalzte mit der Zunge. »Das wird Lizzy nicht verschmerzen.«

Wieder blickten sie eine Weile das Tier an. »Aber er war ja wirklich nicht mehr der Jüngste. Und vielleicht ist sie ganz froh, dass sie nicht mehr ständig Gassi gehen muss«, mutmaßte Paul, klang aber selbst nicht recht überzeugt.

»Was machen wir jetzt mit ihm?«, fragte Karim. »In der Bucht versenken?«

»Das hat ja schon einmal so toll funktioniert«, konterte Lipaire. »Nein, wir begraben ihn einfach hier auf dem Gelände. Dann dient er wenigstens noch als Dünger.«

»Aber wir müssen was tun«, beharrte der junge Mann. »Wenn Louis nicht bald zurückkommt, wird Madame Lizzy misstrauisch.«

Paul nickte. »Ja. Ist leider nicht so wie bei Pflanzen. Da könnte man einfach eine neue einsetzen. Auch wenn es immer schrecklich ist, wenn eine aus dieser Welt scheiden muss.«

»Sicher. Ganz schrecklich«, ätzte Guillaume. »Aber das hilft uns … Moment!« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Rudi!«

Sie sahen ihn an, als habe er den Verstand verloren.

»Erinnert ihr euch nicht? Ich hab doch mal die Geschichte erzählt, wie ich einem meiner Mieter einen neuen Papagei besorgt habe, weil ich den alten … na, das tut ja jetzt nichts zur Sache.«

Quenot kratzte sich am Kopf. »Aber vielleicht mag Madame Lizzy gar keine Papageien. Lieber eine Schildkröte?«

»Danke für diesen wertvollen Beitrag. Natürlich müssen wir ihr einen neuen Hund bringen.«

Karim schien nicht überzeugt. »Ich wäre da vorsichtig. Bestimmt braucht sie eine Weile, um sich vom Verlust ihres geliebten Louis zu erholen.«

»Sie soll das ja gar nicht merken.«

Jetzt verstanden sie endlich. »Aber … ein Hund, das ist ja kein Papagei. Ich meine, die sind doch nicht so leicht austauschbar«, wandte Karim ein.

»Papperlapapp. Das ist viel einfacher, weil Hunde nicht reden können«, wischte Guillaume den Einwand beiseite. »Vorschläge, wo wir einen herkriegen?«

»Tierheim?«, mutmaßte Paul.

»Gute Idee«, lobte der Deutsche. »Endlich fängst du an mitzudenken.«

Doch ein Blick auf die Homepage des örtlichen Tierheims enttäuschte ihre frisch aufgekeimte Hoffnung gleich wieder: Es gab zwar einige kleinere Hunde, aber keinen Pudel, und das war doch so etwas wie die Minimalanforderung. »Merde. Sieht nicht gut aus.« Guillaume fuhr sich durch die grauen Haare. »Wir brauchen mehr Zeit.«

»Bringen wir ihr einfach ein paar von den Schnapspralinen, die sie so gern mag«, schlug Paul vor.

»Ach, meinst du nicht, dass sie den Unterschied bemerken wird?«

Paul ignorierte Guillaumes Einwand. »Wir sagen ihr, es geht Louis gut, aber er muss … auf Kur oder so, und wir bringen ihn bald.«

»Finde ich gar nicht schlecht«, erklärte Karim. »Und inzwischen sehen wir uns anderweitig um.«

Lipaire zuckte die Achseln. »Na, dann los.«


Nach Delphines Rückkehr zwängten sie sich in ihren Twingo und fuhren zusammen zum großen Supermarkt am Kreisverkehr nach Saint-Tropez. Sie hofften, dass Lizzy beim Anblick ihrer Schweizer Lieblingspralinen die Welt um sich herum vergessen würde. Als sie auf den Parkplatz einbogen, stieß Paul einen schrillen Schrei aus: »Dahinten!«

Delphine trat reflexartig auf die Bremse, und sie wurden alle unsanft in die Gurte gedrückt.

»Himmel, was ist denn los?«, schimpfte Guillaume und rieb sich die vom Gurt schmerzende Brust.

»Der Pudel!« Paul zeigte auf den Eingang des Geschäfts.

Wie bestellt stand dort, mit der Leine an einem Haken festgemacht, ein Hund. Er sah dem von Madame Lizzy sogar ziemlich ähnlich, fand Guillaume. Wenn man den Blick fürs Wesentliche besaß jedenfalls.

»Der hat doch keinerlei Ähnlichkeit mit Louis Quatorze, Gott hab ihn selig«, kommentierte Delphine.

»Auf den ersten Blick vielleicht nicht«, räumte Guillaume ein. Im Gegensatz zum durchgängig schwarzen Fell von Louis war dieser hier schwarz-weiß gescheckt. Aber der Rest stimmte: Größe, Haarschnitt. »Meine Liebe«, säuselte er, »wenn man dich zur Blondine machen kann, dann kann man auch einen bunten Hund in einen schwarzen verwandeln.«

Alle lachten, und Delphine erwiderte: »Du bist einfach …«

»… unverbesserlich, ich weiß.«


»Da hast du noch was«, zischte Karim und zeigte auf Guillaumes Hand, auf der ein schwarzer Fleck von der Farbe prangte, mit der sie den Hund vom Supermarkt behandelt hatten.

Ihn einzufärben war einfacher gewesen als gedacht. Der Hund hatte es brav über sich ergehen lassen, als sei er ständig beim Friseur und das Haarefärben für ihn nichts Neues. Anschließend wurde das Ergebnis mit ein paar Handyfotos verglichen, auf denen das Original, meist allerdings nur klein und im Hintergrund, zu sehen war. Zum Glück war dann Delphine noch eingefallen, dass sie auch Louis’ Halsband brauchten, weswegen sie noch einmal zum Gärtnereigelände gefahren waren, um es dem verstorbenen Tier abzunehmen. Quenot war dortgeblieben und hatte versprochen, Louis Quatorze mit allen militärischen Ehren zu bestatten – was immer das auch heißen mochte.

Doch nun galt es, noch eine letzte Hürde zu überwinden. Sie standen vor Madame Lizzys Tür. Wenn die alte Dame öffnete, würde sich schnell zeigen, ob ihr Schwindel aufflog. Aber ihre Sorgen schienen unbegründet: Die Österreicherin riss ihnen den neuen Louis förmlich aus den Armen, küsste ihn überschwänglich auf die Schnauze, was bei Guillaume einen sofortigen Würgereiz auslöste, und setzte den Vierbeiner, der ob der stürmischen Begrüßung etwas verstört wirkte, wieder ab. Als er sich jedoch nicht von der Stelle bewegte, beugte sich Lizzy zu ihm hinunter: »Ja, was hat denn mein kleines Louisilein? Hat er denn keinen Hunger? Fressifressi ist fertig.« Sie zeigte auf einen Napf, in dem Trockenfutter lag, gemischt mit etwas, von dem Lipaire vermutete, dass es die Reste des Abendessens der alten Dame darstellte: ein paar Scheiben Schmelzkäse, etwas Knäckebrot, ein paar Brocken Tarte Tropézienne .

Ratlos blickte Lizzy auf ihren Hund. »Sonst frisst er immer sofort, wenn was im Napf liegt.« Zu Guillaumes Erleichterung schien sie in der Aufregung gar nicht zu bemerken, dass sich ihr Liebling äußerlich … nun ja, ein wenig verändert hatte. Das Schwarz seines Fells war jetzt so tief, dass es einen leichten Stich ins Blaue hatte.

»Er ist vielleicht ein bisschen eingeschüchtert«, versuchte sich Delphine an einer Erklärung. »Da war nämlich so ein großer, böser Schäferhund auf Pauls Gelände, der hat ihm wohl ziemlich Angst gemacht. Vor dem hat er sich auch … versteckt.«

Die anderen nickten, um Delphines Worte zu bestätigen.

Lizzy nahm den Hund erneut auf den Arm und schmuste mit ihm, als seien sie ein altes Liebespaar. Guillaume wollte lieber nicht darauf warten, wie sich der Vierbeiner in der für ihn ungewohnten Umgebung benahm, und verabschiedete sich zusammen mit den anderen.

Als sie unten vor dem Haus standen, sagte Karim: »Wir sind zurück.«

»Wo?«, fragte Delphine.

»Nein, ich meine: die Unverbesserlichen. Wir haben einen coolen neuen Coup gelandet. Wie letztes Mal. Das haben wir super hinbekommen, alles ist gut.«

»Also genau genommen war beim letzten Mal ja gar nicht alles gut«, wandte Delphine ein. »Genauso wenig wie diesmal: Wir haben einen toten Hund, Flecken vom Färbemittel, die nie mehr aus unseren Klamotten rausgehen, Hundebesitzer, die sich wahrscheinlich die Augen nach ihrem kleinen Freund ausweinen, dazu Madame Lizzy, die einen Schock bekommen wird, wenn sie herausfindet …«

»Wir haben verstanden, glaube ich«, bremste Guillaume sie.

»Ihr wisst doch genau, was ich meine«, erklärte Karim, beleidigt darüber, dass er so missverstanden worden war. »Wo die Unverbesserlichen hinlangen, wächst kein Gras mehr. Oder so ähnlich.«

Guillaume schüttelte lachend den Kopf. »Das mit den Redensarten überlässt du besser mir, Kleiner, d’accord