»Jetzt entspann dich doch mal, Junge!« Guillaume Lipaire nippte an seinem Pastis und blickte demonstrativ aufs Wasser, wo gerade ein wunderschönes Holzboot mit zwei gebräunten Bikini-Schönheiten an Bord vorbeiglitt. »Man muss auch mal die Seele baumeln lassen können. Bewusstes Nichtstun kann wie ein Jungbrunnen wirken.«
»Du klingst wie eine dieser bescheuerten Achtsamkeits-Apps!«, schnaubte Karim und trank seine Cola aus. Schon die ganze Stunde, während der er sie hier im Café Fringale auf halbem Weg zwischen Marktplatz und Kirche saßen und auf den Kanal sahen, hibbelte er auf seinem Stuhl herum. Seit er seinen Job als Wassertaxifahrer verloren hatte, war er ein regelrechtes Nervenbündel.
Lipaire zuckte die Achseln. »Das Prinzip der Achtsamkeit kann einem gerade in schwierigen Lebensphasen eine große Hilfe sein.«
»Hör auf mit deinen Weisheiten! Ich bin Mitte zwanzig und arbeitslos, muss meine Mutter unterstützen und hab als Wassertaxifahrer nicht gerade einen Beruf, mit dem man überall unterkommt. Du hast leicht reden als Rentner. Ich mach mir aber echt Sorgen um meine Zukunft, putain !«
Beschwichtigend hob Guillaume die Hand. Er konnte nachvollziehen, wie es seinem jungen Freund ging, auch wenn er selbst es durchaus zu schätzen wusste, dass der jetzt mehr Zeit hatte und ihm deshalb beim aufwendigeren Vermietgeschäft helfen konnte. Seinen Ärger über den Begriff Rentner schluckte er deswegen hinunter. Es würde sich bestimmt bald eine Gelegenheit für eine verbale Retourkutsche bieten.
»Nicht schon wieder fluchen. Vielleicht ist Pauls Angebot mit der Gärtnerei ja doch keine so schlechte Idee.«
Karim riss die Augen auf. »Geht’s noch? Ich hab Muskelkater, dass ich kaum laufen kann, und Blasen an den Händen. Für Paul mach ich nicht den Sklaven. Darauf hast du doch selber keine Lust.«
»Auch wieder wahr. Aber du wirst sehen: Die von der Verwaltung machen das bald rückgängig und stellen dich wieder ein. Du fährst dein Coche d’Eau schließlich wie kein Zweiter!«
»Ach, hör doch auf.« Karim sah sich hastig um, wie um sich zu versichern, dass niemand sie belauschte, dann zischte er: »Das Ding ist so lahm und simpel, das könnte jeder Idiot fahren. Sogar du!«
»Sag mal …«
»Pardon. Du weißt schon, was ich meine. Vorwärts, rückwärts, links und rechts. Das war’s.«
»Aber den Leuten gefällt es, wenn du fährst. Weil du nett bist. Und die Touristen werden für unser Städtchen auch weiterhin wichtig sein. Das wird man bald verstehen, wirst schon sehen. Sonst machen irgendwann alle Läden dicht, und niemand kommt mehr her.«
»Apropos Läden, kommst du mal kurz mit zu Delphine? Meine Handyhülle hat den Geist aufgegeben. Vielleicht hat sie ja was Billiges im Angebot, ich muss jetzt sparen.«
Sie schlenderten über den Marktplatz, auf dem ein paar Handwerker, die sie noch nie gesehen hatten, an der Stelle des früheren Bouleplatzes eine metallisch glänzende Bar aufbauten, vorbei am Tabak- und Andenkenladen zur großen Brücke. »Rialto« nannten sie alle, was neben ihrer Form auch mit dem gleichnamigen Restaurant zu tun hatte, in dem man ordentliche Pizza bekam, die man direkt am Kanal, ohne Geländer, an kleinen Tischchen aß. Der eine oder andere Gast des italienischen Lokals, der zu tief ins Chianti- oder Lambruscoglas geschaut hatte, war bereits ins Wasser gekippt und dann unter großem Hallo von einem der Kellner mittels Rettungsring und Bootshaken wieder auf den Kai gehievt worden.
Die Eisdiele im Durchgang hinter der Rialto-Brücke, in der früher ihre Freundin Jacqueline Venturino aushilfsweise gearbeitet und unterm Ladentisch Gras vertickt hatte, ließen sie links liegen und bogen auf den Place des Artisans ab. Hier lag neben einigen Schuh- und Kleidergeschäften und der Bäckerei, der kleine, bis oben hin mit Zubehör vollgestopfte Handyladen von Delphine Berté. Auf dem Plätzchen war wenig los, nur ein paar Touristen hatten im Schatten der Bäume Platz genommen und schleckten Eis.
»Das wird Ihnen noch leidtun!«, hörten sie auf einmal eine Männerstimme rufen, dann rannte direkt vor ihnen ein Mann in blauem Anzug aus Delphines Laden, als sei der Teufel hinter ihm her. Unter seinem Arm klemmte eine lederne Aktentasche. Als ihn ein altes Tastenhandy am Rücken traf, zog er den Kopf ein. Vor Schreck ließ er seine Tasche fallen, aus der sich mehrere Blätter über den Asphalt verteilten. Hastig raffte der Mann alles wieder zusammen.
Verwundert schaute Karim zu Guillaume. »Meinst du, Delphine braucht Hilfe?«
»Sieht eher so aus, als müsse man dem Mann beistehen!«
Noch bevor Lipaire weiterreden konnte, erschien Delphine im Türrahmen. Ihre blonden, schulterlangen Haare standen in alle Richtungen, an ihrem hochroten Kopf sah man, wie aufgeregt sie war. Ihr Körper bebte unter den Leggings und dem mintgrünen T-Shirt, das deutliche Schweißflecken zeigte. Sie hielt mehrere Handys in der Hand, die sie jetzt in schneller Folge auf den am Boden kauernden Mann feuerte.
»Au, hören Sie auf, Madame Berté! Ich kann doch nichts dafür … au!«
»Verschwinde, du elender bâtard ! Lass dich ja nie wieder in meinem Laden blicken, sonst kannst du was erleben, kapiert?«
Erneut traf den Mann ein Telefon, diesmal anscheinend ziemlich schmerzhaft im Nacken.
»Au! Lassen Sie das doch, Sie machen sich ja unglücklich. Auf Dauer wird es Ihnen nichts nützen, dass Sie sich den Tatsachen nicht stellen. Und Gewalt ist schon gar keine Lösung!«
»Noch einen Ton, und ich raste aus!«
Erschrocken sah sich der Anzugträger noch einmal um, rappelte sich dann auf und suchte schnell das Weite. In seinen Augen konnte man die nackte Panik erkennen.
Guillaume und Karim blickten sich schulterzuckend an und gingen auf Delphine zu.
»Putain! Dieser connard soll sich ja nicht noch mal hier blicken lassen. Was wollt ihr?«, blaffte sie die beiden an.
»Wunderschönen guten Morgen, liebe Delphine! Was werden wir in deinem herrlichen und gut sortierten Lädchen wohl wollen, hm?« Kaum einer wusste besser als Lipaire, wie man die schlechte Laune verärgerter Frauen elegant und effizient konterte.
»Wahrscheinlich Wein«, brummte sie mit einem tiefen Schnaufer und betrat nach ihnen das Geschäft, wobei sie die Tür offen stehen ließ, wahrscheinlich wegen ihres erhöhten Sauerstoffbedarfs.
Guillaume runzelte die Stirn. »Wein? Wie kommst du denn darauf, meine Liebe? Erweiterst du das Geschäft um eine cave à vin ?«
»Ich und Weinhandlung? So weit kommt’s noch.«
»Wäre aber vielleicht gar keine so schlechte Idee. Ich könnte dir ab und zu eine gute Flasche aus einem der Vorräte meiner Kunden zuschanzen, und wir machen halbe-halbe.«
Delphine winkte ab und stapfte hinter ihren Verkaufstresen. »Wisst ihr, was? Lasst mich einfach zufrieden mit euren bescheuerten Ideen!«
»Besonders zufrieden wirkst du nicht, meine Liebe.«
»Wollt ihr was kaufen? Ansonsten hab ich zu arbeiten.«
»Ich bräuchte ein neues Cover.« Karim legte sein Mobiltelefon auf den Tresen.
»Na, wenn’s weiter nix ist«, brummte sie. »Davon hab ich so viele, dass ich sie sogar verkaufe.« Sie deutete auf die Wände, an denen Hunderte von Handyhüllen in allen Farben und Ausführungen hingen. Der junge Mann betrachtete die Auswahl.
»Magst du uns nicht sagen, was passiert ist?«, fragte Guillaume ruhig.
»Nein, mag ich eigentlich nicht. Weil ich mich dann gleich wieder aufregen muss. Aber hilft ja nix, ihr gebt eh keine Ruhe!« Noch einmal wurde das Rot ihrer Backen kräftiger. »Eine noble Weinbar wollen sie machen, hier drin. Mit edlen Tropfen, hat er gesagt, dieser crétin . Edle Tropfen, wenn ich das schon höre!« Sie schnaubte. »Man hat mir den Mietvertrag gekündigt. Ein Laden wie meiner passt nämlich nicht mehr ins neue Marketingkonzept der Stadt.«
»Das hat man dir gesagt?«, fragte Karim von der Wand aus verwundert.
»Das hat man mir gesagt, exactement . Aber das ist noch nicht alles. Wird jetzt nämlich einigen so gehen. Die Verwaltung wünscht Boutiquen mit exklusivem, hochwertigem Sortiment und höherer Kundenbindung, hat er gemeint. Etwas, das zum gediegenen Ambiente passt. Kein schnelles Tagesgeschäft, dafür mehr Wertschöpfung. So ein Blödsinn! Merde , was für Idioten!« Sie kam so in Fahrt, dass Lipaire angesichts ihrer feuchten Aussprache instinktiv einen Schritt zurückwich.
»Wer war denn der Typ eben?«
»Der? Das war ein Erfüllungsgehilfe meiner neuen Eigentümer. Die Vicomtes haben nämlich das Haus hier gekauft und damit auch meinen Mietvertrag übernommen.«
Karim kam zurück zum Tresen. »Aber die können doch nicht so einfach kündigen, es gibt doch da Bestimmungen und Kündigungsfristen, die …«
»Bestimmungen! Ich hab damals einen Laden gebraucht, also hab ich unterschrieben, was man mir hingelegt hat. Die können machen, was sie wollen.«
»Merde!«
»Ganz genau, Kleiner. Merde. Aber letztlich hat das Arschloch schon recht: Das Publikum hier hat sich verändert, das merke ich jeden Tag in meiner Kasse.« Sie zog die Schublade auf, in der sie die Einnahmen des Tages aufbewahrte. »Da herrscht schon seit Monaten Ebbe!«
»Aber warum?«
»Weil die Reichen ihre Hüllen bei Hermès und Chanel drüben in Saint-Tropez kaufen, nicht hier bei Berté. Versteht ihr?«
Die beiden nickten.
Delphine setzte sich auf den Barhocker hinter dem Tresen. »Was soll ich denn bloß machen, wenn sie mir das alles wegnehmen?«, wimmerte sie plötzlich, packte Lipaires Arm, zog ihn zu sich und vergrub ihr Gesicht darin.
Guillaume warf einen hilflosen Blick zu Karim, während Delphine von einem Weinkrampf geschüttelt wurde, untermalt von einem herzzerreißenden Schluchzen. Er wusste nicht recht, was er machen sollte. Zwar hatten schon mehrere Frauen in seinem Beisein Zusammenbrüche erlitten, aber das hatte meist mit dem Ende ihrer Liebesbeziehung zu tun gehabt.
Mit einem auffordernden Nicken gab Karim ihm zu verstehen, dass er etwas tun müsse, um Delphine zu trösten. Lipaire schaute auf die zitternde Frau: Wo sollte er sie anfassen, was sollte er sagen? Er bemerkte, dass ihr Körper schweißnass war, was seine Bereitschaft, sie in den Arm zu nehmen, nicht gerade erhöhte. Doch Karims Gesten wurden energischer, und so musste er wohl tun, was ein Mann in einer solchen Situation tun musste. Er nahm all seine Willenskraft zusammen, ging um den Tresen herum und umfasste sie, heldenhaft die Rinnsale aus Schweiß und Tränen ignorierend, die an ihr hinunterliefen. Es war keine Überraschung für ihn, dass sich ihr Zustand sofort besserte. Außerdem fiel ihm auf, dass sie trotz ihres desolaten Zustandes sehr gut roch – ihr Duft erinnerte ihn entfernt an Mandarinen mit einem Hauch Vanille.
»Meine Liebe, du bist nicht allein, hörst du? Du hast uns, deine Freunde. Wir alle helfen dir. Die Unverbesserlichen halten zusammen, das haben wir uns schließlich geschworen.«
Ein erneutes, etwas leiseres Schluchzen, dann ein Kopfnicken. »Danke, Guillaume«, flüsterte sie.
»Du könntest ja meine Wohnungen und Häuser putzen und Endreinigung machen«, bot er an. »Und wer weiß, vielleicht suchen die einen oder anderen Vermieter auch mal eine Köchin, die ihnen …«
Delphine löste sich energisch aus seiner Umklammerung und versetzte ihm einen Stoß gegen die Brust. »Geht’s noch, oder wie? Ich soll deine Putze und Köchin machen, während du dir die Sonne auf den Pelz brennen lässt? Bloß, weil ich eine Frau in einer Notlage bin? Das kenn ich schon von euch Kerlen!«
Guillaume fand es interessant, wie schnell sich ihre Gemütslage änderte.
»Ich glaub, er hat’s nicht böse gemeint«, gab Karim in ruhigem Ton zu bedenken.
»Ach, ihr Typen seid doch alle gleich!«
»Nein, das stimmt nicht. Wir werden eine Lösung finden, bestimmt.« Lipaire hob feierlich die Hände, als könne er so dem Gesagten mehr Nachdruck verleihen.
»Ach ja? Habt ihr denn schon eine Idee?« Sie sah herausfordernd zwischen den beiden hin und her.
»Das nicht. Noch nicht. Dafür müssen wir erst mal die Lage analysieren und mögliche Alternativen zur jetzigen Situation in Erwägung ziehen.«
»Du klingst wie ein windiger Unternehmensberater.«
»Das mag sein, aber es passt in dem Fall doch ganz gut zur Lage. Also, wann musst du raus? Vielleicht ist noch genügend Zeit, alles abzuverkaufen und dann mit einer neuen Geschäftsidee …«
»Ende des Monats.« Delphine wirkte jetzt wieder gefasster.
»Verstehe. Das wären also immerhin noch …« Lipaire begann zu rechnen.
»Putain , nur noch vierzehn Tage!«, entfuhr es Karim.
Guillaume ließ den Blick über die vollgestopften Regale schweifen. »Hm, der Plan mit dem Abverkauf könnte schwierig werden, bei dem breiten Angebot, das du hier hast.«
»Hilft mir doch nix! Selbst, wenn ich alles auf die Schnelle verkaufe, geht es danach trotzdem nicht weiter für mich. Ich muss auf Dauer Geld verdienen, verdammt!«
»Ich sagte ja: alternative Geschäftsideen.«
»Wer soll denn die haben?«
»Na wir, wer sonst?«, gab sich Karim zuversichtlich. »Wir müssen uns treffen und uns zusammen was überlegen. Das hat doch bisher immer was gebracht!«
»Die einen sagen so, die anderen so«, brummte Delphine, nach wie vor skeptisch.
Lipaire legte den Arm um ihre Schultern. »Der Junge hat recht: Probieren sollten wir’s. Vielleicht fällt uns eine Lösung ein. Das hier ist unsere Stadt!«
Sie zuckte unentschieden die Achseln.
»Wirst sehen, wenn wir alle erst mal die Köpfe zusammenstecken, fällt uns was ein.« Lipaire nickte ihr zu.
»Alle, von wegen! Wenn Jacky nicht dabei ist, fehlt doch unser brain «, entgegnete Karim.
»Also, ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Meistens kamen die entscheidenden Impulse ja von mir.« Guillaume zog ein Stofftuch aus der Tasche seiner Shorts und hielt es Delphine hin. »Hier, jetzt trockne dir mal die Tränchen ab, und dann werden wir schon sehen, wie es weitergeht.«
Sie sah das Taschentuch prüfend an.
»Ist so gut wie frisch.«
Sie nickte, griff danach und schnäuzte heftig und lange hinein. Dann knüllte sie es zusammen und wollte es Guillaume zurückgeben. Der sah es mit großen Augen an, überlegte kurz, ob er es ihr einfach großzügig überlassen sollte, nahm es dann aber wieder und ließ es mit spitzen Fingern in seine Tasche gleiten.
»Wo wollen wir denn unsere Vollversammlung abhalten?«, fragte er, nachdem er sich die Hände notdürftig an der Hose abgewischt hatte.
»Bei mir. Ich koch uns was«, bot Delphine an. »Essen tröstet am besten.«
»Du willst kochen, hier im Laden?«, fragte Karim verwundert.
»Im Laden? Unsinn! Bei mir zu Hause. Ich erwarte euch zum Abendessen in Cogolin. Und seid pünktlich, nicht dass mein Alter euch alles wegfrisst!«