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Guillaume war schon lange nicht mehr im gerade mal fünf Kilometer entfernten Cogolin gewesen, wo Delphine »in einem kleinen Häuschen mit Gartenanteil« wohnte, wie sie ihnen geschildert hatte. Und er fand, dass er auch nicht wirklich etwas versäumt hatte. Vielleicht lag es daran, dass er auf seinem Platz hinten in der Fahrradrikscha zu viel Zeit hatte, die nichtssagenden Zweckbauten zu betrachten, die die Straße säumten.

»Könntest du nicht ein bisschen schneller treten? Die Aussicht hier ist nicht gerade berauschend«, rief er Karim zu, der vor ihm in die Pedale trat.

»Schneller?«, japste der. »Dir ist schon klar, dass ich das alles mit Muskelkraft mache!«

»Du wolltest damit ja unbedingt dein Geld verdienen. Hättest ja auch für mich oder Paul arbeiten können.«

»Ich bleib lieber im Transportgewerbe. Und sei froh, dass wir überhaupt einen fahrbaren Untersatz haben.«

»Froh? Ich bin erst wieder froh, wenn wir zurück sind. Für einen Bewohner von Port Grimaud gibt es keinen guten Grund, sich in Cogolin aufzuhalten.«

»Du hast immer was zu motzen, was?« Karim hielt an.

»Was ist denn los? Wir sind doch noch gar nicht da.«

»Nein, aber ich finde, es wäre Zeit, dass du auch mal fährst.«

»Ich?«, fragte Lipaire ungläubig.

»Ja. Warum soll ich mich die ganze Zeit abstrampeln? Immerhin hab ich das Fahrzeug besorgt.«

»Rein von der Fitness her wäre das natürlich kein Problem, aber …«

»Na also.« Der junge Mann zeigte auf den Fahrradsattel.

»Gut, aber unter einer Bedingung.«

»Ich hab kein Geld.«

»Für wen hältst du mich eigentlich?« Guillaume stemmte empört die Fäuste in die Hüfte. »Was ich meine, ist: Kurz, bevor wir ankommen, wechseln wir wieder.«

Karim grinste. »Verstehe, du willst nicht, dass die anderen mitbekommen, wie beschwerlich dein Leben geworden ist.«

»Es gilt, den Schein zu wahren, mein Lieber. Eine wichtige Lektion, die du dir merken solltest.«


Etwa zehn Minuten später hatten sie das schmucklose Reihenhäuschen am Ortsrand erreicht. Das Treten hatte Guillaume trotz der Anstrengung sogar Spaß gemacht, auch wenn er Karim das nicht verriet. Wie vereinbart hatten sie vor der letzten Kurve aber wieder gewechselt.

»Kutscher, halt er an, wir sind da«, rief der Deutsche seinem jungen Fahrer lächelnd zu.

»Jawohl, eure Fürstlichkeit.«

»Na, bitte nicht ausfallend werden!«

Als sie abstiegen, knatterte gerade Pauls in Tarnfarben lackiertes Quad um die Ecke. Der bullige Belgier saß geduckt auf dem Fahrersitz, dahinter Madame Lizzy mit einem Helm, der wohl aus Quenots nahezu unerschöpflichem Militärfundus kam, und auf ihrem Schoß der neue Hund mit heraushängender Zunge.

»Bonjour , Madame Lizzy«, tönte Guillaume und bot ihr seine Hand zum Absteigen.

»Ein Deutscher mit Manieren, da schau her«, spottete sie und legte ihre Hand in seine. Als sie ausgestiegen war, hob Guillaume den Pudel heraus. »Sag mal: Siehst du das auch?«, fragte Lizzy. »Er bekommt so komische graue Stellen. Das ist ganz neu.«

Lipaire zog seine Hand schnell zurück. Es waren leichte Farbspuren darauf zu erkennen, wenn man genau hinsah. Offenbar hatte das Färbemittel, das sie besorgt hatten, an Hundehaaren nicht dieselbe Haftkraft wie auf menschlichen Köpfen. »Ach, das hat doch nichts zu bedeuten. Schau mich an, mein graues Haar gibt mir erst das besondere Etwas – sagen die Frauen jedenfalls. Und es kommt ja auch immer aufs Licht an, wie es gerade wirkt. Das ist hier im Hinterland natürlich ganz anders als bei uns an der Küste.« Er bemerkte die skeptischen Blicke, die ihm Karim und Paul zuwarfen, ignorierte sie aber, da Lizzy sich mit der Erklärung zufriedengab.

Sie klingelten an der schlichten Tür, an der ein offensichtlich von den beiden Kindern gebasteltes tönernes Schild mit dem Namen Berté befestigt war.

»Hallo, Onkel Guillaume!« Die beiden Töchter von Delphine hatten die Tür geöffnet und hüpften aufgeregt herum. Sofort bekam Lipaire ein schlechtes Gewissen: Er mochte die aufgeweckten Kleinen, und sie mochten ihn, aber er hatte schon viel zu lange nichts mehr mit ihnen unternommen. Dabei hatte er sich nach ihrem Coup vorgenommen, ihnen mit einem Ausflug oder einem Kinobesuch immer mal wieder einen schönen Tag zu bescheren, was ihrem Vater, wie man hörte, im Traum nicht einfiel.

Die beiden rannten den Hausgang entlang und brüllten in die Wohnung: »Maman , l’Allemand ist da. Und die anderen auch.«

L’Allemand  – der Deutsche? So wurde er also im Hause Berté genannt? Er war drauf und dran, seine Vorsätze gleich wieder über Bord zu werfen.

Da die Kinder nicht zurückkamen und sich auch sonst niemand blicken ließ, der sie an der Tür empfangen hätte, zuckte Guillaume die Achseln und trat ein. Die anderen folgten ihm. Sie passierten einen engen Flur und kamen an der Küche vorbei, von der ein so betörender Duft ausging, dass er augenblicklich Hunger bekam. Im nächsten Raum, dem Wohnzimmer, das mit Spielzeug, Schulsachen und zwei kleinen Schreibtischen vollgestopft war, lief ein riesiger Fernseher. Auf dem Sessel davor, mit dem Rücken zu ihnen, saß ein Mann und rauchte eine Zigarette. Sie grüßten freundlich hinein, doch als Reaktion hob der Mann lediglich die Hand und winkte vage. Achselzuckend blickten sie einander an und gingen weiter. Am Ende des Flurs öffnete sich eine Tür in den Garten. Guillaume atmete auf: Von der beklemmenden Atmosphäre der kleinen, dunklen Wohnung war hier draußen nichts mehr zu spüren. Ein paar steinerne Stufen führten hinab in einen hübschen, sonnendurchfluteten Garten, in dem allerlei Grünzeug wucherte. Dennoch sah man, dass er gut gepflegt wurde. Die Kinder spielten auf einem kleinen Rasenstück Federball, in einem Beet rechts davon stand Delphine vornübergebeugt und schnitt ein paar Kräuter. Als sie hörte, dass ihre Gäste eingetroffen waren, erhob sie sich und sagte strahlend: »Willkommen in meinem Lieblingszimmer.«

»Danke, sehr freundlich«, erwiderte Guillaume. »Wir haben gerade schon überaus nett mit deinem Mann geplaudert.«

Sie stieß verächtlich die Luft aus. »Und dabei hat er heute einen guten Tag. Aber setzt euch doch bitte.« Sie zeigte auf zwei Bistrotische, um die sie Klappstühle aus Plastik drapiert hatte. Das alles wirkte sehr idyllisch – idyllischer jedenfalls, als er es sich vorgestellt hatte, musste Lipaire zugeben.

Quenot übergab Delphine einen kleinen Strauß, den sie in Ermangelung einer Vase in eine Wasserkaraffe gleiten ließ.

»Vielen Dank, Paul. Ich weiß gar nicht, wann ich das letzte Mal Blumen bekommen hab«, sagte sie entschuldigend und stellte die improvisierte Vase auf das Tischchen. »Bin gleich wieder da.«

Sie setzten sich und schenkten sich von dem Wein ein, der in einer weiteren Karaffe bereitstand: ein eiskalter Roter. Auch wenn er viel zu stark gekühlt war, schmeckte er ihnen, und sie prosteten sich zu. Kaum hatten sie den ersten Schluck genommen, kam Delphine zurück in den Garten, gefolgt von ihren beiden Töchtern. Wie in einer Prozession trugen sie Platten mit Pasteten, Gemüse und Salat.

»Das wird ja ein Festessen«, sprach Paul Guillaumes Gedanken aus.

Und das war nicht untertrieben. Allein die Ratatouille, gänzlich aus selbst im Garten angebautem Gemüse, wie die Gastgeberin betonte, war eine Offenbarung, die Ofenkartoffeln mit frischem Rosmarin und einem Hauch Fleur de Sel ein Gedicht. Sie aßen mit Genuss, und das Essen schien gar nicht weniger zu werden. Immer wieder brachten die Kinder neue Delikatessen. Delphine war wirklich eine gute Gastgeberin, auch wenn sie wie jeden Tag in T-Shirt und den unvermeidlichen Leggings herumlief, statt sich für ihre Gäste zurechtzumachen.

»Gehört dir das Haus?«, fragte Karim irgendwann mit vollem Mund.

»Schön wär’s«, antwortete sie. »Ist gemietet. Aber ich liebe es. Vor allem den Garten. Wenn ich allerdings meinen Laden zumachen muss, weiß ich nicht, wie ich das noch bezahlen soll.«

Guillaume sah, wie sich eine tiefe Sorgenfalte auf ihrer Stirn bildete. Er konnte verstehen, dass sie dieses kleine Paradies nicht aufgeben wollte. Und das sollte sie auch nicht. Er würde nicht zulassen, dass die Kinder von hier vertrieben wurden. Lächelnd blickte er auf die beiden Mädchen, die das Essen in der großen Runde ebenfalls zu genießen schienen.

»Hey, Fine«, brüllte da plötzlich eine Stimme von drinnen. Nun wussten sie immerhin, wie der Herr des Hauses klang. »Der Köter nervt. Und er färbt ab!«

Betretenes Schweigen breitete sich am Tisch aus. Alle wechselten nervöse Blicke, darauf bedacht, dass Lizzy nichts merkte. Doch die alte Dame erklärte unbekümmert: »Mit fremden Männern kann er nicht so.«

»Ganz anders als sein Frauchen, oder?«, merkte Delphine an und erntete Gelächter dafür. »Du wirst dir halt die Hände mal wieder nicht gewaschen haben«, rief sie dann zurück nach drinnen.

Sie hielten ein paar Sekunden die Luft an, ob der Mann etwas erwidern würde, doch es blieb still. Erleichtert atmeten sie aus, und Guillaume wechselte schnell das Thema: »Lasst uns mal überlegen, was wir in deiner Angelegenheit tun können, liebe Delphine.«

»Gar nichts können wir tun«, sagte sie bitter. »Ich muss raus, und damit basta.«

»Wo raus, maman ?«, fragte Inès, die jüngere der beiden Töchter mit dem schwarzen Wuschelkopf.

»Ach, nichts, chérie . Geht doch rein zu papa und spielt was.«

Es widerstrebte Guillaume zwar, dass die beiden aus diesem Paradiesgarten vertrieben und in das verrauchte Fernsehzimmer geschickt wurden, aber in diesem Fall war es wohl das Beste. Sie hatten wichtige Dinge zu besprechen, die die Mädchen nicht hören sollten. Er wartete, bis sie weg waren, dann fragte er: »Es gibt ja jetzt in der Stadt einige Leerstände. Vielleicht können wir zusammen etwas aufziehen. Einen Handyladen mit einem kleinen Kaffee oder Bistro zum Beispiel.«

»Genau, und ich mach einen Rikscha-Shuttle zum Parkplatz und bring euch die Gäste«, stimmte Karim ein.

»Die Blumendeko kann ich beisteuern, wenn ihr wollt«, bot Paul an.

Lipaire rieb sich die Hände. »Ich würde die Geschäftsleitung übernehmen und mit den Gästen plaudern. Kundenbindung und so. Also, wer hat das nötige Kapital, damit wir unser Projekt starten können?«

Darauf folgte betretenes Schweigen, was ihn nicht wunderte. Nicht jeder von ihnen hatte gut gehaushaltet. Quenot vielleicht, aber der hatte es für die Gärtnerei ausgegeben. Lizzy hatte noch einmal ihrem Lebensstil von früher gefrönt und alles durchgebracht, soweit er wusste. Und Delphine brauchte das Geld für ihre Familie, so viel stand fest.

»Du kannst doch in meiner Gärtnerei einen Raum haben, Delphine«, schlug Paul vor. »Da könntest du deinen Handyladen wieder aufmachen.«

»Und woher kommt die Laufkundschaft? Dahin verirrt sich doch keiner, der ein Handy braucht.«

»Was meint denn dein Mann dazu? Wenn er wieder anfängt zu arbeiten?«, fragte Lizzy, und wie aufs Stichwort hörte man von drinnen ein lautes Rülpsen.

»Muss ich mehr sagen?«, raunte Delphine.

Wieder schwiegen sie betreten. Die ausgelassene Stimmung von vorhin war verflogen, nun verfinsterten dunkle Wolken ihre Gedanken.

Die Gastgeberin seufzte schwer. »Vielleicht ist es das Beste, sich damit abzufinden und nach vorn zu schauen. Dann ziehen wir eben weg von hier. Ich habe eine Cousine in Lyon, die arbeitet bei der Stadtverwaltung. Vielleicht kann die uns was besorgen. Sozialwohnung oder so.«

Guillaume kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn plötzlich plingten gleichzeitig all ihre Handys. Das war bisher nur ein einziges Mal passiert. Damals waren sie zusammen auf einem Schiff gewesen und hatten eine Nachricht bekommen vom …

»Vom Phantom«, hauchte Karim.

Konnte das wirklich sein? Nach so langer Zeit?

Sie zogen ihre Telefone heraus und blickten auf die Displays. Guillaume las die Nachricht laut vor, die dort stand: »Es gibt Neuigkeiten. Interesse? Melde mich morgen um 14 h. Ein Freund.«