Mit einem Schlag war Guillaume Lipaire am nächsten Morgen wach. Er wurde so gut wie nie vom Klingeln seines Handys geweckt, was schlicht daran lag, dass er es normalerweise weder in Bettnähe aufbewahrte noch nachts angeschaltet ließ. Doch gestern Abend war er nach etwas zu viel Wein und Kir aus dem hervorragend sortierten Vorrat der Winklers in der Rue des Voiliers in voller Montur aufs Bett gefallen und offenbar sofort eingenickt. Ein fahler Geschmack im Mund verriet ihm, dass er vor dem Schlafengehen noch nicht einmal Zähne geputzt hatte. Das musste er schleunigst nachholen. Zunächst aber warf er seufzend einen Blick auf das Display seines Smartphones. Was gab es denn schon so Wichtiges in aller Früh? Die Küchenuhr zeigte gerade mal halb zehn. Er rieb sich die verquollenen Augen, hielt das Telefon so weit es ging von seinem Gesicht weg, dann gelang es ihm, die eingegangene Nachricht zu lesen:
Nicht verzagen, ihr befindet euch auf der richtigen Spur, aber ihr müsst selbst den Weg finden, der euch weiterbringt. Bonne chance. Ein Freund.
Lipaire rieb sich den Kopf, der ordentlich brummte, und stand ächzend auf. Wenn die Antwort auf ihre Nachricht auf seinem Telefon angekommen war, dann auch bei allen anderen. Und die würden, so wie er sie kannte, früher oder später bei ihm aufkreuzen. Schließlich war er so was wie der Kopf ihrer Truppe, das Zentrum, in dem die Fäden zusammenliefen. Also musste er sich schnellstens in einen einigermaßen zivilisierten Zustand bringen, um dieser Rolle gerecht zu werden. Und seine Wohnung lüften – er hatte das Gefühl, dass sich in der stickigen Restluft mehr Alkohol und kalter Zigarilloqualm befanden als Sauerstoff. Also öffnete er das Fensterchen sowie seine Wohnungstür und betrat sein winziges Bad. Immerhin, seinem Spiegelbild sah man die letzte Nacht nicht an. Die solide Sonnenbräune, deren Erhalt er einen guten Teil seiner Zeit widmete, sorgte stets für eine adrette Erscheinung. Er zupfte den Kragen seines Poloshirts zurecht, spritzte sich ein bisschen Wasser ins Gesicht und putzte sich die Zähne. Gerade als er die Bürste in den Becher zurückstellte, ging die Türglocke. Guillaume streckte den Kopf aus der schmalen Badtür und sah in Karim Petitbons Augen.
»Mann, du siehst aber ganz schön zerknautscht aus!«, grüßte der junge Mann.
»Danke fürs Kompliment. Ich finde auch, dass du deine besten Tage hinter dir hast. Als Kind warst du wirklich mal ein Süßer.«
»Ich mein ja nur, die Augenringe …«
»… vergehen im Lauf des Tages wieder.«
»Wie auch immer: Ich hab gerade ’ne Message gekriegt, mach mal dein Handy an, das musst du dir durchlesen.«
»Schon passiert, ich bin bestens informiert.«
Karim zog die Stirn kraus. »Echt? Du hast um die Zeit schon dein Telefon an?«
Guillaume nickte souverän, verließ das Bad und ging zur schmalen Küchenzeile, um sich einen Kaffee zu machen. »Rund um die Uhr erreichbar, wenn was Wichtiges ist. Auch eine Tasse?«
»Okay. Aber mit viel Milch, bitte, ja?«
Lipaire wusste, dass Karim seinen deutschen Kaffeegewohnheiten nichts abgewinnen konnte. Für ihn hingegen war eine Tasse aus der guten alten Filtermaschine zum gelungenen Start in den Tag einfach unerlässlich.
»Ich mach gleich eine ganze Kanne, die anderen kommen ja bestimmt auch noch vorbei.«
Er füllte den Tank der Maschine mit Leitungswasser. Dazu war er vor zwei Wochen übergegangen. Eine Weile hatte er nur stilles Mineralwasser einer teuren Marke verwendet, um den Chlorgeschmack zu vermeiden, den das Wasser in Port Grimaud leider aufwies. Doch angesichts der Ebbe in seinem Portemonnaie hielt er es für vertretbar, darauf vorübergehend zu verzichten. Es würden auch wieder bessere Zeiten kommen.
»Was hältst du von der Nachricht?«, wollte Karim wissen und nahm auf einem Küchenstuhl Platz.
Guillaume zuckte die Achseln. »Schwer einzuschätzen.«
Als die Glaskanne sich, begleitet vom typischen Röcheln der Maschine, mit dem bräunlichen Gebräu gefüllt hatte, trafen Delphine und Quenot ein. Sie hatte den Belgier zufällig in einem Garten werkeln sehen und kurzerhand mitgebracht. Weil er kein Handy besaß, musste man ihn in solchen Fällen immer extra hinzubitten. Die beiden nahmen auf den letzten verbliebenen Klappstühlen Platz, Lipaire versorgte sie mit Kaffee. Quenot ließ sich von Karim die Nachricht des Phantoms vorlesen.
»Sag mal, hättest du nicht für Paul mal ein Handy übrig, das du nicht mehr verkaufen kannst?«, flüsterte Guillaume währenddessen Delphine zu.
Die wollte eben antworten, da drehte Paul sich zu ihnen und erklärte mit funkelnden Augen: »Wenn ich ein Handy brauchen würde, hätte ich mir längst eines besorgt. Aber es würde mich nur bei der Arbeit stören. Und schließlich haben wir uns noch immer problemlos gefunden, oder?«
Guillaume hob beschwichtigend die Hände.
»Guten Morgen, meine Lieben!« Lizzy Schindler trat durch die offen stehende Tür. »Dachte ich mir doch, dass ich euch hier finde.«
Karim stand auf und bot ihr seinen Platz an, die alte Dame setzte sich, und Lipaire schenkte ihr ungefragt eine Tasse Kaffee mit Milch und viel Zucker ein. Lizzy war die Einzige unter all seinen Freunden, die seinen Kaffee schätzte, was er ihr hoch anrechnete.
»Wo ist denn der Hund?«, fragte Delphine stirnrunzelnd.
»Ach, den hab ich heut mal daheim gelassen. Er hat die ganze Nacht gebellt, und jetzt ist er müde. Keine Ahnung, was der gerade für eine Phase durchmacht. Vielleicht sind’s die Wechseljahre …«
»Bei einem Rüden?«, fragte Paul ungläubig.
Lizzy zuckte die Achseln und nippte an ihrem Kaffee. »Bin ja keine Tierärztin.«
»Also, was sagt uns die Botschaft jetzt?« Delphine hielt mit fragendem Blick ihr Telefon hoch.
»Erst mal, dass wir auf der richtigen Spur sind, oder?«, vermeldete Paul freudig.
»Schon, aber das ist auch alles«, gab sich Lizzy weniger euphorisch. »Ich verstehe nicht, warum er uns nicht einfach klar und deutlich sagt, was die Vicomtes vorhaben.«
»Vielleicht ist es doch jemand von uns«, überlegte Delphine laut.
»Oder er weiß es schlichtweg nicht«, gab Guillaume zu bedenken.
»Nicht immer gleich ablenken, man könnte sonst meinen, dass du es bist.« Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Delphine ihn.
Karim, der mangels weiterer Stühle auf dem Boden saß, winkte ab. »Das wüsste ich aber. Vielleicht braucht das Phantom uns ja, um für sich selber rauszufinden, was die vorhaben.«
»Oder er spielt Katz und Maus mit uns«, sagte Delphine genervt. »Er will, dass wir nach seiner Pfeife tanzen, und lacht sich heimlich ins Fäustchen.« Wieder warf sie Guillaume einen finsteren Blick zu.
»Wenn das so ist, kriegt er mal mein Fäustchen zu spüren, wenn ich ihn treffe«, piepste Quenot mit seiner Mäusestimme und ballte seine mächtige Pranke.
»Phantome lassen sich aber doch schlecht hauen. Meistens schlägt man bei denen daneben«, warf Lizzy mit verschmitztem Grinsen ein. »Ich weiß eh immer noch nicht, warum er über alles so gut informiert ist, was wir reden. Irgendwie hört er uns doch immer noch ab, glaube ich.«
»Das stimmt, aber darüber müssen wir uns ein andermal Gedanken machen«, fand Guillaume. »Die Frage, die sich uns jetzt und heute stellt, ist doch: Nehmen wir die Herausforderung an und decken auf, was die Vicomtes wirklich im Schilde führen, oder nicht?«
»Natürlich nehmen wir sie an. Wir sind schließlich die Unverbesserlichen!«, tönte Karim euphorisch und erntete dafür ein Nicken der anderen.
Nur Delphine schien alles andere als überzeugt. Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht. »Aber wie sollen wir das denn rausfinden, hm? Wir können ja schlecht zu ihnen gehen und sie fragen. Wir kommen nicht mal in ihre Nähe, dazu kennen sie uns zu gut.«
»Du hast völlig recht, meine Liebe«, stimmte Guillaume ihr zu. »Dieser Zug ist abgefahren, wir müssen einen anderen Weg finden. Am besten wäre es, wenn wir irgendeinen Superreichen hätten, der in der Stadt investieren will. Einen, der so interessant ist, dass ihn die Vicomtes nicht mehr von der Angel lassen wollen und ihn in ihre Pläne einweihen.«
»Ah ja, dann müssen wir ja nur unsere Adressbücher nach ein paar Milliardären durchsuchen, und dann rufen wir einen von denen an«, gab Paul spöttisch zurück.
Guillaume sah zu Lizzy. »Hast du vielleicht irgendeinen Verflossenen, der …?«
Die alte Dame lächelte milde. »Wenn ich noch einen hätte, den ich anzapfen könnte, dann säße ich nicht hier bei schlechtem Filterkaffee, sondern würde drüben in Saint-Trop’ am Hafen meinen ersten Kir Royal des Tages bestellen und warten, bis die bei Hermès ihren Laden aufsperren.«
Wieder nickten die anderen.
Nach einer Weile meldete sich Karim zu Wort: »Wenn nur Jacky da wäre. Sie könnte eine reiche Investorentochter spielen. Mit ein bisschen Make-up und einer anderen Brille würde sie niemand mehr erkennen. Sie ist so talentiert, ihr kauft man einfach alles ab!«
Guillaume seufzte. Was das Schauspieltalent von Jacqueline Venturino anging, war der Junge allein mit seiner Meinung. Dass er in dieser Hinsicht etwas betriebsblind war, konnte er ihm aber nicht verdenken. »Da sie nun mal nicht da ist, bräuchten wir einen anderen Schauspieler, der das übernehmen kann. Lizzy, hast du da was im Portfolio?«
»Ach, denen, die ich kenne, nimmt man schon längst keinen reichen Investor mehr ab«, sagte sie in entschuldigendem Ton. »Der Zahn der Zeit macht eben vor niemandem halt.«
»Moment«, meldete sich da Delphine und sprang auf. »Ich hab eine Idee! Es gibt hier im Ort jemanden, der es gewohnt ist, vor großem Publikum zu sprechen und Märchen zu erzählen.«
»Der Bürgermeister?«, mutmaßte Paul.
Sie fuchtelte aufgeregt mit den Händen. »Der auch, aber den können wir nicht brauchen. Nein, ich denke da an jemanden, der flunkern kann, ohne rot zu werden!«
Karim sah zu Lipaire. »Etwa Guillaume? Aber wir haben doch gesagt, dass keiner von uns …«
Lipaire wollte eben protestieren, da rief Delphine: »Unsinn, ich meine den Pfarrer, putain !«
»Der putain ! Ich meine, der Pfarrer, klar!«, stimmte Quenot ihr zu. »Der kann den Leuten wirklich alles verkaufen.«
»Aber der macht bei so was doch nie und nimmer mit«, winkte Madame Lizzy ab.
»Könnte sein, dass ich da das eine oder andere Argument in petto habe, das ihn von einer Kooperation überzeugen könnte«, widersprach Guillaume ihr mit verschmitztem Grinsen.