Sie fanden den Abbé im Park vorn an der Chaussee, die zum Strand führte. Der breite Grünstreifen diente als eine Art Puffer zwischen der belebten Straße und dem ruhigeren Wohnquartier, war von Oleanderbüschen, ein paar Eukalyptusbäumen und alten Oliven bewachsen. Die großen Rasenflächen waren zu dieser Jahreszeit sogar noch ansehnlich grün. Ringsherum wurde die Anlage von einem Zaun begrenzt, damit Hundebesitzer hier ihre Vierbeiner sorglos laufen – und leider auch ihre Häufchen machen – lassen konnten.
»Vorsicht vor den Tretminen!«, riet Madame Lizzy ihnen, als sie das Türchen aufzog. »Da ist immer alles furchtbar verschissen, weil’s eh keiner aufhebt.«
Lipaire verkniff sich einen Kommentar darüber, dass auch sie nur äußerst selten ein entsprechendes Tütchen mit sich führte. Um eine Ausrede, warum man die Ausscheidungen ausnahmsweise auch mal liegen lassen dürfe, war sie nie verlegen.
Quenot hatte sich bereit erklärt, auf dem Rückweg von der Kirche, wo sie niemanden angetroffen hatten, den Hund aus Lizzys Wohnung zu holen und mit ihm in die Grünanlage zu kommen. Im Pfarrbüro hatten sie nämlich die Auskunft bekommen, der Geistliche gehe dort um diese Uhrzeit normalerweise seinem Frühsport und einigen meditativen Übungen nach.
Was Lipaire und die anderen jedoch sahen und hörten, als sie den Pfarrer an einem der fest installierten Trimm-dich-Geräte erblickten, wirkte ganz und gar nicht wie Meditation: Er hing kopfüber an einer Reckstange, an der er sich mit den Knien eingehakt hatte, und zog immer wieder seinen Oberkörper hoch, die Hände hinter dem Nacken verschränkt. Dabei stöhnte er vernehmlich zu der Musik, die aus einem kleinen Lautsprecher auf der Parkbank schepperte. Er trug Camouflage-Shorts mit der neongelben Aufschrift GYMN , dazu ein knappes, durchgeschwitztes Muskelshirt. Die in der Luft baumelnden Füße steckten in klobigen Basketballstiefeln. Um den Kopf hatte er ein Stirnband mit asiatischen Schriftzeichen gebunden.
»Lasst bitte erst mal mich reden, okay?«, flüsterte Lipaire den anderen zu. Erst jetzt erkannte er den Song, der da aus der kleinen Box dudelte: Sympathy for the devil von den Rolling Stones. Der Pfarrer war derweil so in sein Work-out vertieft, dass er noch gar keine Notiz von seinen Zuschauern genommen hatte.
»Bonjour , Hochwürden, das ist aber eine Überraschung, Sie hier zu sehen!«, begann Lipaire, als sie sich bis auf wenige Meter genähert hatten.
Der Abbé zuckte derart zusammen, dass er um ein Haar den Halt verloren hätte. »Trifft sich gut. Könnt ihr mir mal helfen, ich hab einen Krampf in der rechten Wade.«
Mit vereinten Kräften halfen sie ihm vom Reck. Wieder zurück auf der Erde und in aufrechter Position, wirkte er zwar noch ein wenig wackelig, fing sich aber schnell, grüßte nickend, bedankte sich für die Hilfe und eilte zur Parkbank, um die Musik – inzwischen lief Highway to hell von AC/DC – abzustellen und sich mit einem Handtuch das schweißnasse Gesicht zu trocknen. Dabei fielen Lipaire zum ersten Mal die Tattoos auf, die unter dem Shirt des Pfarrers hervorblitzten. Es schien sich dabei zumindest um Motive aus dem Alten Testament zu handeln: Eine ziemlich finstere Schlange am Baum der Erkenntnis, der Leibhaftige im Fegefeuer mit bunten, züngelnden Flammen, dazu eine Kreuzigungsszene, ergänzt um einige Bibelverse. Wo sich der Abbé die wohl hatte stechen lassen, fragte sich Guillaume. Gab es im Vatikan vielleicht einen Tattoo- und Piercingladen für Priester?
»Ja, auch wir sind nur Menschen. Und als solche haben wir die Pflicht, auf den Körper zu achten, mit dem Gott der Herr uns beschenkt hat. Den einen reicher, die andere üppiger«, sagte der Abbé und warf dabei einen Blick auf Delphine, die heute eine knallenge weiße Leggings zu einem aus der Form geratenen Top trug.
Bevor sie etwas erwidern konnte, stellte sich Lipaire vor sie und stemmte die Hände in die Hüften: »Heute wohl zu viel unchristlichen Hardrock gehört, wie?«
»Ich … ja, vielleicht«, erwiderte der Pfarrer kleinlaut.
Guillaume warf Delphine einen triumphierenden Blick über die Schulter zu, doch die zuckte nur die Achseln.
»Danke jedenfalls für die Hilfe mit dem Krampf. Magnesiummangel, erblich«, brummte der Geistliche schließlich ächzend und rieb sich den Unterschenkel.
»Ich wärme mich vor meinen Übungen immer auf, da kann ich Ihnen mal ein paar Tipps geben, wenn Sie wollen. Wobei ich mich auf die neuralgischen Punkte Bauch, Beine, Po konzentriere, auf die Männer ab einem gewissen Alter achten sollten. Kommt recht gut an bei den Damen«, flüsterte Guillaume dem Abbé in konspirativem Ton zu.
»Soso, verstehe. Nun, ich will euch nicht weiter aufhalten, ihr habt sicher zu tun.«
In diesem Moment bog Quenot mit dem Hund um die Ecke. Der Belgier hatte die Leine lässig um die Schultern hängen, der falsche schwarze Pudel trottete behäbig neben ihm her. Doch auf einmal schien Leben in den Vierbeiner zu kommen, und er rannte mit Karacho auf sie zu. Allerdings war es nicht Madame Lizzy, die er freudig begrüßte, sondern den Abbé. Er wuselte auf ihn zu und begann, die Wade des Priesters wie verrückt anzurammeln.
»Könnt ihr das unterbinden?«, maulte der. »Scheint ja regelrecht besessen, das Vieh.«
»Ja, Herr Pfarrer, Sie wissen ja, wie das ist mit des Pudels Kern«, sagte Lipaire augenzwinkernd.
»Keine Ahnung, wovon du sprichst. Aber wenn die kleine Bestie hier nicht aufhört, bekommt sie vier Fäuste und ein Halleluja zu spüren!«
»Mann, das ist doch ein Filmtitel! Schade, dass Jacqueline nicht da ist …«, murmelte Karim versonnen.
Quenot legte den Hund wieder an die Leine, die er an Lizzy weitergab. Dann postierte er sich neben dem Pfarrer. »Ich kann Ihnen ein paar Nahrungsergänzungen verkaufen. Mixt ein ehemaliger Kamerad von mir selbst. Gutes Zeug.« Demonstrativ blähte er seine Muskeln auf.
»Selbst gemixt? Danke, ich verzichte. Au revoir. «
»Wir würden gern noch mit Ihnen über ein klitzekleines Anliegen sprechen, wo wir schon mal hier sind«, ließ Lipaire sich jedoch nicht abwimmeln.
»Da müsst ihr schon zu meinen Sprechzeiten kommen, ich bin hier nämlich nicht als Pfarrer, sondern privat. Sieht man das nicht?«
»Aber ein Pfarrer ist doch immer im Dienst«, protestierte Lizzy, die einige Mühe hatte, den Hund vom Bein des Priesters fernzuhalten.
»Heutzutage haben wir nur noch für Notfälle Bereitschaftsdienst«, vermeldete der Pfarrer geschäftsmäßig. »Für alles andere sind unsere Sprech- und Beichtzeiten da.«
»Wenn das so ist: Es handelt sich um einen Notfall«, sagte Guillaume im Brustton der Überzeugung.
»Etwa eine Letzte Ölung?«
»Nein, wir wollen beichten, Abbé. Eine … Notbeichte sozusagen«, vermeldete Karim.
»Eine … das gibt es nicht.« Der Pfarrer war jetzt sichtlich genervt.
»Dann sind wir eben die Ersten, die das machen«, erwiderte Karim und nickte den anderen zu.
»Man muss sich schon ein bisschen an die Gepflogenheiten halten, putain !«, schimpfte der Geistliche.
Da sie jedoch ungerührt stehen blieben, lenkte er schließlich ein: »Na gut, wir treffen uns in einer Viertelstunde in der Kirche. Nein, lieber eine halbe, dann kann ich wenigstens noch duschen. Und jetzt macht euch endlich vom Acker, putain !«