20

Während der folgenden Minuten hatte Karim gut zwanzig Mal vergeblich versucht, bei Jacqueline Venturino anzurufen. Seufzend setzte er sich neben die anderen auf eine der Bänke und legte sein Telefon neben sich. »Wahrscheinlich hat sie gerade viel um die Ohren in New York.«

»Bestimmt«, erwiderte Guillaume nickend.

»Vielleicht ist sie in einem Casting oder so«, überlegte er weiter.

»Ja, ein Casting. Das wird’s sein«, stimmte Delphine zu. »Sonst würde sie doch bestimmt gleich abheben, wenn sie deine Nummer sieht.«

»Eben«, murmelte Karim. »Oder es liegt an der Zeitverschiebung.«

Paul sah auf seine Armee-Armbanduhr. »Nein, das kann es nicht sein. Aber wenn sie ausgegangen ist oder so …«

»Müssen wir eben selber hirnen«, konstatierte Lizzy. »Ist ja eh nicht gesagt, dass Jacky überhaupt wieder nach Europa zurückkommt, oder?«

Karim wirkte immer verzweifelter.

Delphine versuchte sich an einer anderen Erklärung. »Hast du die richtige Nummer?«

»Wenn sie sie nicht geändert hat, schon.«

»Ich probier’s auch mal«, bot Lipaire an, zog sein Mobiltelefon heraus und drückte eine Kurzwahltaste, stellte auf Lautsprecher und legte das Handy in die Mitte.

Karim zog erstaunt die Brauen hoch. »Du hast sie als Favorit abgespeichert?«

»Euch alle.«

»Ach so, dann …«

Es dauerte zwar eine ganze Weile, bis der typisch amerikanische Wählton erklang, doch bereits nach dem zweiten Mal wurde der Anruf angenommen, und Jackys beschwingte Stimme drang aus dem Lautsprecher: »Guillaume, bist du das wirklich? Wie cool, endlich von dir zu hören, du treulose Tomate!«

»Stören wir dich, bist du im Stress?«

»Ach was, gar nicht, ich freu mich total, dass überhaupt mal jemand Nettes anruft.«

Karim zog die Stirn kraus.

»Wo bist du gerade?«

»Auf meinem Taxi«, rief Karim aus dem Hintergrund. »Wir müssen Strom nachladen. Alle sind da, nur du hast mir … also uns noch gefehlt!«

»Ah, salut , Karim! Schaltet doch mal das Video an, damit ich euch sehen kann!«

Guillaume warf Delphine einen ratlosen Blick zu. Die gab den immer noch erschöpft wirkenden Louis in Lizzys Arme und nahm Lipaire das Telefon ab, zwinkerte ihm grinsend zu und drückte auf dem Display herum. Dann erschien zu einem sphärischen Geräusch das Bild von Jacqueline Venturino, die in einem kleinen, kärglich eingerichteten Zimmer auf einem schmalen Bett saß. Ihre Brille war ihr ein Stück nach unten auf die Nase gerutscht, in ihre Haare hatte sie ein Tuch gebunden. Sie hielt eine große Kaffeetasse mit der Aufschrift NYC in beiden Händen und lächelte in die Kamera.

Delphine lehnte das Handy gegen ihre Handtasche, die anderen gruppierten sich im Halbkreis darum.

»Mensch, alle da, wie cool ist das denn! Wie geht’s dir, Lizzy, alles klar?«

»Na sicher, schlechten Leuten geht es immer gut, Kleines! Und du? Hoffentlich lässt du es richtig krachen im Big Apple. Man ist schließlich nur einmal jung, hörst du? Lass bloß nix anbrennen. Und du weißt ja: Whatever happens in New York, stays in New York! «

Lipaire, der verwundert war über die Englischkenntnisse der alten Dame, entging nicht der eiskalte Blick, den Karim ihr zuwarf. Seine Lippen bebten.

Jacqueline winkte lächelnd ab: »Paul, dich vermisse ich auch total, ehrlich! Ich hätte mich gern mal gemeldet oder dir ein paar Fotos geschickt, aber du hast ja immer noch kein Handy, oder?«

»Nein, geht auch ohne. Schön, dich zu sehen, Jacky.«

»Stimmen die Gerüchte, dass du eine Gärtnerei übernommen hast, wo du im großen Stil Hasch anbauen willst? Dann wird’s ja Zeit, dass ich komme und das Zeug ein bisschen unter die Leute bringe, oder?«

»Das mit der Gärtnerei stimmt, das mit dem Hasch nicht. Noch nicht.«

»Aber dass du kommst, wird trotzdem Zeit«, rief Karim dazwischen.

Für einen Augenblick entstand eine peinliche Stille, doch Jacky ging auch über diese Bemerkung nonchalant hinweg. »Und, Delphine, was ist bei dir so los?«

»Frag nicht«, antwortete die. »Ich kann Lizzy nur zustimmen: Genieß dein Leben, bevor du irgendeinen nörgelnden, furzenden Typen an der Backe hast, der dir nur den ganzen Tag vorschreiben will, was du zu tun und zu lassen hast.«

Jacky lachte schallend.

»Sind ja nicht alle Männer so«, zischte Karim.

»Was hast du denn da für einen Hund im Arm, Lizzy? Ist der neu? Um Himmels willen, ist was mit Louis Quatorze passiert?«

Noch bevor Lizzy etwas sagen konnte, antwortete Delphine: »Nein, das ist schon unser kleiner Louis. Ist nur ins Wasser gefallen.« Sie streichelte dem eingemummelten Tier demonstrativ über den Kopf und zog dabei die Decke noch ein wenig mehr über ihn.

»Er sieht aber ganz anders aus. So fleckig.«

»Ach was, das ist sicher nur die Übertragung«, schaltete sich Lipaire ein. »Verzerrt die Farben. Und wie geht’s dir so in der großen weiten Welt?«

Jacky zögerte kurz, bevor sie weitersprach. Guillaume glaubte sogar, ein kleines Seufzen zu vernehmen. »Gut«, sagte sie dann aber. »Interessante Stadt, könnt ihr euch ja denken. Aber wenn ich euch da so sitzen sehe, alle zusammen, da könnte ich schon wehmütig werden.«

Lipaire wunderte sich ein wenig, dass die junge Frau Karim bei ihrer kleinen Begrüßungsrunde ausgelassen hatte. Ob das Absicht war?

Der Junge jedenfalls hatte es auch bemerkt: Er saß mit hochrotem Kopf da und machte ein trauriges Gesicht. »Wir brauchen dringend deine Hilfe, Jacky. Ohne dich kommen wir nicht weiter«, presste er schließlich hervor.

»Echt? Wobei denn?«

»Hat dein Vater dir nichts von den Veränderungen in Port Grimaud erzählt?«, fragte Lipaire.

»Hm, wir reden nicht so oft. Aber doch, ein bisschen was weiß ich. Die Vicomtes scheinen dem Städtchen ja richtig gutzutun. Wer hätte das gedacht, oder? Nach allem, was war …«

Lipaire blickte in die Runde. Die Gesichter der anderen verrieten, dass sie die Einschätzung der jungen Frau ganz und gar nicht teilten.

»Ist doch cool, dass endlich was passiert und der Mief auszieht. Mein Vater ist jedenfalls ganz angetan. Er hat gemeint, dass er sich total für den Ort einsetzt. Merkt ihr auch was davon?«

»Kann man so sagen«, antwortete Delphine bitter.

»Wie jetzt?«

Lipaire erklärte ihr in groben Zügen, wie die Veränderungen sich aus ihrer Sicht darstellten. Als er endete, war Jacqueline baff.

»Wow, so hört sich das ja völlig anders an. Klingt gar nicht gut!« Sie sah alarmiert aus.

»Du sagst es.«

Auf einmal stellte sie ihre Kaffeetasse ab und ballte die rechte Hand zur Faust: »Wenn das kein Fall für die Unverbesserlichen ist! Wisst ihr, was? Ich lass euch nicht hängen, ich komm heim.«

Karim riss die Augen auf und saß mit offenem Mund da. Er wirkte genauso perplex wie alle anderen.

»Aber Jacky, du kannst doch nicht einfach alle Zelte abbrechen. Wir wollten dich doch eigentlich nur was fragen«, erwiderte Delphine.

»Jetzt lass sie doch machen, was sie will, sie ist schließlich schon erwachsen«, zischte Karim.

»Keine Sorge, Delphine, das passt schon. Ich bin übermorgen da.«

Lipaire konnte nicht glauben, was er da hörte.

»Aber Mädchen, hier im Kaff ist doch der Hund begraben. Bleib lieber noch drüben!«, meldete sich nun auch Lizzy.

»Wer weiß, ob du überhaupt einen Flug bekommst«, sagte Lipaire. »Für heute könnten wir ja einfach mal zusammen überlegen, was wir machen könnten, um …«

»Ich hab schon einen Flug«, vermeldete Jacqueline Venturino mit einem verschmitzten Grinsen.

»Wie … hast du denn den so schnell gekriegt?«, fragte Karim aufgeregt. Er strahlte übers ganze Gesicht.

Jacky lachte. »Den hatte ich schon gebucht. Um ehrlich zu sein: Ich bin durch hier und will schon seit längerer Zeit nach Hause. Wollte euch eigentlich überraschen, aber jetzt kommt es eben anders. Stellt schon mal eine schöne Flasche Rosé kalt für unsere Wiedersehensparty, okay?«