Zwei Tage nach ihrer Aktion mit dem Pfarrer und dem anschließenden Färben des Hundes klingelte Lipaires selten genutzter Wecker früh am Morgen. Immerhin war er nicht der Einzige, der zu dieser unchristlichen Zeit aufstehen musste, die anderen traf es ebenso, denn sie wollten alle gemeinsam Jacqueline vom Flughafen Nizza abholen. Sie würde dort, nach einem Zwischenstopp in Paris, um kurz nach halb elf landen.
Lipaire hatte überlegt, welches Auto er sich dafür ausleihen könnte, musste aber enttäuscht feststellen, dass ihm nichts Passendes zur Verfügung stand, das ihnen und Jackys Gepäck Platz geboten hätte. Nicht einmal, nachdem Lizzy ihre Teilnahme an der Fahrt wieder abgesagt hatte, weil sie angesichts der Wettervorhersage befürchtete, es könne ihr und dem Hund auf der Fahrt entschieden zu heiß werden. Denn alle anderen bestanden darauf, mitzukommen, um das so lange fehlende Mitglied der »Unverbesserlichen« zurück in der Heimat zu begrüßen.
Doch schließlich hatte Paul eine passable Lösung gefunden: den Lieferwagen, den er zusammen mit dem Grundstück erstanden hatte. Dabei handelte es sich nicht um irgendein alltägliches Modell, sondern geradezu um eine französische Ikone, den Citroën HY 50, jenen legendären Wellblechtransporter, der sage und schreibe dreiunddreißig Jahre lang gebaut und ausgiebig von Handwerkern genutzt worden war. Inzwischen dienten die selten gewordenen Modelle meist nur noch als mobiler Imbiss oder rollende Cocktailbars rund um den Erdball. Quenots Exemplar mit sechs Sitzen und zusätzlicher Fensterreihe im Laderaum hingegen befand sich noch im Originalzustand aus den frühen Siebzigerjahren: Auf das taubenblaue, ziemlich matt gewordene Blechkleid waren zahlreiche Blumen aufgemalt, die Lipaire ein wenig an die Pril-Werbeaufkleber seiner jungen Jahre erinnerten. Zusätzlich stand auf beiden Seiten in geschwungenen gelben Lettern der Schriftzug Frères Martin – Pépinière à Grimaud , darunter der Hinweis Plantes et Fleurs en gros et au détail .
Lipaire und die anderen hatten dieses ziemlich altersschwach daherkommende Gefährt skeptisch begutachtet. Und das nicht nur, weil es weder über ein Radio noch über eine Klimaanlage verfügte und die Sitze an durchgesessene Draht-Gartenstühle erinnerten, sondern vor allem, weil es nicht mehr machte als fünfundsiebzig Sachen. Auch wenn Quenot steif und fest behauptete, bergab könne der Citroën gut und gern neunzig Stundenkilometer fahren, vorausgesetzt, die Windverhältnisse stimmten. Bei der Strecke, die sie vor sich hatten, würde die Fahrt also locker zweieinhalb Stunden dauern. Lipaire hatte obendrein größte Zweifel, ob sie mit dem Vehikel überhaupt am Flughafen Nice – Côte d’Azur ankommen würden.
Mangels Alternativen hatte er irgendwann eingelenkt, jedoch darauf bestanden, als Letzter abgeholt zu werden, um wenigstens ein bisschen länger schlafen zu können. Die Fahrt entlang der Küstenstraße hatte er dann sogar ein wenig genossen. Er kam nicht allzu häufig raus aus Port Grimaud, vor allem jetzt, da sein Porsche nicht mehr da war. Die Strecke nach Nizza war aber auch spektakulär: auf der einen Seite gesäumt von weitläufigen Stränden, die flach ins türkisblaue Meer ausliefen, auf der anderen von in der Sonne leuchtenden Häuschen an den Hängen, mal herrschaftlich mit Stuck verziert, mal pastellfarben angestrichen. Dazwischen immer wieder hoch aufragende Palmen und mächtige Pinien. Was hier einfach nur eine Straße von A nach B war, hätte woanders ein eigenes Kapitel in einem Reiseführer bekommen.
Aus Karims tragbarem Lautsprecher drangen sommerliche Rhythmen, und so kamen sie schließlich gut gelaunt am Flughafen an.
Paul parkte den Lieferwagen direkt in der »Kiss and Fly«-Zone des modernen Terminalgebäudes und sorgte mit seinem Gefährt umgehend für fröhliche Gesichter. Sympathisch waren diese alten Kisten ja, das musste Guillaume ihnen lassen. Die Leute strömten herbei und fotografierten den Oldtimer aus allen möglichen Blickwinkeln.
»Pauls Karre wird heute Abend der neue Instagram-Star der Côte d’Azur sein«, mutmaßte Karim, als sie zusammen Richtung Eingang schlenderten. Jackys Maschine war eben erst gelandet, sie hatten also noch ein paar Minuten. Guillaume gab am Stand der berühmten Konditorei La Tarte Tropézienne im Terminal einen Kaffee aus. Die Stimmung war gelöst, alle freuten sich auf das bevorstehende Treffen. Lipaire war gespannt, welche Lösung Jacky ihnen für ihr Problem präsentieren würde. Über seine Kaffeetasse hinweg beobachtete er Karim, der sich ständig seine Hände an der Hose abwischte. Der Gute war offensichtlich ziemlich nervös und blickte neidvoll auf den Blumenstrauß, den Paul als Willkommensgeschenk mitgebracht hatte.
Zehn Minuten später war es dann endlich so weit: Sie standen im Wartebereich, reckten jedes Mal, wenn die automatische Schiebetür sich öffnete, die Köpfe, um zu sehen, ob es Jacqueline war, die gerade hindurchlief. Doch die ließ ziemlich lange auf sich warten. Als sie schon fürchteten, sie habe die Maschine verpasst, hörten sie ein Pfeifen, und endlich erblickten sie sie. Die junge Frau hatte drei große Taschen auf einen Kofferwagen geladen, den sie fröhlich winkend vor sich herschob, ließ ihr Gepäck dann aber einfach stehen und rannte mit ausgebreiteten Armen auf ihre Freunde zu. Guillaume trat einen Schritt zurück und gab Karim einen Schubs. Er wollte, dass Jacky den Jungen als Ersten begrüßte. Sein Plan ging auf: Sie küsste ihn dreimal und drückte ihn ausgiebig, woraufhin er grinste wie ein Honigkuchenpferd. Als sie alle anderen mit derselben Intensität herzte, zeigte sein Lächeln jedoch schon leichte Risse.
Guillaume musterte die junge Frau, die Paul gerade so stürmisch umarmte, dass der fast die Blumen fallen ließ. Sie war ein wenig blasser als sonst – kein Wunder, hatte sie doch einige Monate ohne die wohltuende Sonne Südfrankreichs auskommen müssen. Außerdem hatte sie ein paar Kilo zugelegt, was ihr wirklich gut stand. Ansonsten strahlte sie noch immer dieselbe herzerfrischende Verplantheit aus, die sie so an ihr mochten.
»Einen schönen Gruß von Lizzy sollen wir dir ausrichten«, sagte Guillaume, als sie bereits auf dem Weg nach draußen waren. Karim lief ein paar Schritte hinter ihnen und schob ächzend den Gepäckwagen. »Ihr ist es ein wenig zu heiß heute.«
»Oh, danke! Geht’s ihr gut?«
»Sie freut sich wie gewohnt ihres Lebens, auch wenn sie schon wieder pleite ist.«
»Echt jetzt, die ganze Kohle ist weg? Wie hat sie das denn in so kurzer Zeit geschafft?«
»Ach, das geht manchmal schnell«, gab Guillaume vage zurück.
Als sie das Auto erreichten, lachte Jacky lauthals los. »Wo habt ihr das Ding denn her? Ist das jetzt unser Einsatzmobil? Scheinen ja harte Zeiten zu sein …«
Quenot zuckte die Achseln, sperrte den Wagen auf und verlud zusammen mit Karim Jackys Gepäck.
Als sie die Rückfahrt antraten, saß Delphine auf dem Beifahrersitz, auf den Guillaume großmütig verzichtet hatte. Karim hatte sich zwischen ihn und Jacky in die Mitte der Rückbank gezwängt.
Paul beschloss in einem Anflug von Kühnheit, die Autobahn zu nehmen, um die Fahrzeit ein wenig zu verkürzen. Inzwischen brannte die Sonne unerbittlich vom wolkenlosen Himmel, und obwohl die Klappfenster des Citroëns geöffnet waren, war es schon nach zwanzig Minuten stickig und unerträglich heiß im Auto. Delphine hatte bereits den Kopf zur Scheibe geneigt und schnarchte vernehmlich. Quenot schien das alles nichts auszumachen, er hatte den Blick konzentriert auf die Straße vor sich gerichtet und schimpfte immer wieder über die Leute, die ihr Gefährt, das mit nicht mal achtzig Sachen unterwegs war, anhupten oder nach dem Überholen schnitten. Auch Guillaume fühlte eine bleierne Müdigkeit in sich aufziehen, aber bevor ihn diese übermannte, wollte er noch wissen, ob Jacky tatsächlich schon eine Idee hatte, wie sie ihr Problem lösen konnten.
»Also, dann schieß mal los, meine Liebe, wie machen wir’s?«, rief er Jacqueline zu, um die Fahrgeräusche zu übertönen. Doch Karim versetzte ihm nur einen Rempler und legte den Zeigefinger an die Lippen. Jacky hatte sich an ihn gelehnt und schlief tief und fest.