24

Jacky schloss die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich und presste ihr Ohr dagegen. Nach ein paar Sekunden wandte sie sich den anderen zu. »Ich wollte nur sichergehen … aber maman scheint unten zu bleiben.«

Sie hatten die gesamte Häppchenplatte verspeist und dazu ordentlich Kir Royal getrunken – außer Paul, der zu Guillaumes Unverständnis noch immer nichts für Alkohol übrighatte. Nun hatten sie sich zurückgezogen, um in Ruhe reden zu können. Wahrscheinlich brauchte Madame Dallarmé sowieso ein ausgiebiges Nachmittagsnickerchen.

»Schön hast du es hier.« Lipaire ließ demonstrativ seinen Blick schweifen. Es war ein wirklich nettes Zimmer mit geschmackvoller Einrichtung, wenn auch bedeutend kleiner als alle anderen Räume, die sie bisher im Haus gesehen hatten. Keiner von ihnen wohnte auch nur annähernd so elegant wie die Tochter des Bürgermeisters. Dennoch war ihr Zimmer nicht für diese Personenzahl ausgelegt: Lizzy und Delphine hatten auf dem Bett mit dem geblümten Bezug Platz genommen, Quenot kauerte an der Wand, die mit Filmplakaten tapeziert war, während Guillaume selbst an einem winzigen Sekretär saß und versuchte, auf dem zugehörigen Hocker eine bequeme Haltung zu finden. Nur Karim ging unruhig herum, schaute sich alles genau an, studierte die Büchersammlung und blieb schließlich vor einem altertümlich wirkenden Plakat stehen. Es zeigte einen jungen, dunkelhäutigen Mann mit schwarzen Haaren, der auf einem fliegenden Teppich stand. Der Dieb von Bagdad stand in großen Lettern darunter.

Karim grinste. »Findest du den toll, Jacky?«

»Den Film?«

»Nein, ich meine den Typen.« Er nahm die gleiche Haltung ein wie der junge Mann auf dem Plakat. Guillaume musste zugeben, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden bestand.

»Sabu?«, fragte Jacqueline.

»Ach, du kennst ihn?«

Sie lachte. »Nein, der ist schon lange tot. Der Film ist ein Klassiker, aber der Schauspieler hatte nur eine kurze Karriere, dann ging’s bergab, und er ist an ’nem Herzinfarkt gestorben, kurz bevor er vierzig geworden ist.«

»Oh …« Er rückte etwas von dem Plakat ab.

Guillaume seufzte. Hatte der Junge denn gar nichts von dem behalten, was er ihm versucht hatte beizubringen? Da waren wohl noch mal ein paar Extralektionen fällig. »Du wohnst wirklich sehr schön, Jacqueline«, sagte er, um die peinliche Stille zu beenden. »Das wunderbare Haus in dieser Lage … Warum machst du denn überhaupt deinen Nebenjob?« Die anderen nickten, als hätten sie sich genau dieselbe Frage gestellt.

»Ich will eben unabhängig sein. Nützt mir ja auf Dauer nichts, wenn meine Eltern Geld haben. Also für die Zukunft, meine ich. Klar, mein Vater würde mir gern mehr geben, weil er denkt, er könnte Bedingungen daran knüpfen.«

Guillaume nickte. Er hatte Respekt vor Menschen, die sich nicht einfach ins gemachte Nest setzten, sondern versuchten, ihren eigenen Weg zu gehen.

»So, nachdem wir jetzt über alte Filme und schöne Wohnungen geplaudert haben, können wir vielleicht zum Thema kommen, oder?«, schlug Delphine in gewohnt pragmatischem Ton vor. Sie hatte recht: Alle waren daran interessiert, dass sie vorankamen. Obendrein, wo ihnen die Bummelfahrt mit dem unbequemen Transporter noch in den Knochen steckte. »Also, was hat Chevalier Vicomte denn genau von dem bevorstehenden Festtag erzählt, Lizzy?«

Die alte Dame zog die angemalten Brauen nach oben. »Hab ich doch schon gesagt. Dass er da dann König oder Fürst werden wird.«

»Ist er doch schon«, warf Paul ein und verschränkte die Arme, wobei er an ein schmales Regal mit Büchern stieß, von denen einige zu Boden fielen. Bevor er sich bücken konnte, um sie wieder aufzuheben, war Karim bereits zur Stelle, um sie einzusammeln.

»Ja, das vielleicht schon.« Lizzy schien nachzudenken. »Aber es klang irgendwie anders … so ernsthaft, wie er es gesagt hat.«

Delphine tippte sich an die Stirn. »Der Alte kann doch nicht mal die Leute auseinanderhalten, die neben ihm stehen.«

»Er hat noch was gesagt«, fuhr Lizzy fort. »Über die französische Flagge.«

»Die französische Flagge?« Jacky blickte die Österreicherin fragend an.

»Ja, ab dem Tag wird die Trikolore nicht mehr über Port Grimaud wehen, oder so.«

Eine Weile war es still, alle schienen über die Worte nachzudenken. Alle bis auf Karim, der ein paar der Buchtitel aus dem Regal mit seinem Handy abfotografierte.

»Der hat doch nicht mehr alle Zacken in der Krone«, schloss Delphine schließlich.

Doch Lizzy protestierte: »Da wäre ich vorsichtig mit so einem Urteil. Er hat sich beispielsweise noch an sehr viele Details erinnert, von damals. Zum Beispiel, als wir in diesem Fischerboot …«

»Ja, das glauben wir sofort«, unterbrach Guillaume sie. »Die Frage ist nur: Was meint er? Was sollte sich denn Gravierendes ändern? Also im Vergleich zu dem, was wir sowieso schon wissen.«

»Ich habe da mal einen Film gesehen …«, begann Jacqueline, worauf Delphine die Augen verdrehte. Jacky hob die Hand. »Lass mich mal ausreden. In dem Film, also da spaltet sich ein Mini-Staat von einem großen ab. Ist zwar eine Komödie, in der lauter lustige Sachen passieren, weil die dann plötzlich für alles verantwortlich sind. Aber was, wenn die Vicomtes genau das auch vorhaben? Wenn sie sich offiziell von Frankreich loslösen wollen? Klingt doch fast so, oder?«

Endlich beteiligte sich auch Karim an der Diskussion: »War nicht neulich auch so eine Delegation von einem Mini-Staat da? Hat mir ein Kollege erzählt. Der musste sie nämlich herumschippern.«

»Stimmt!« Paul schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Deswegen war doch alles gesperrt. Wegen der Prinzessin aus Seborga.«

»Ja, und ich hab inzwischen mal nachgeforscht«, erklärte Lipaire. »Das ist ein kleines Städtchen in Italien, gleich hinter der Grenze, gar nicht weit von hier. Die behaupten, nicht zum italienischen Staatsgebiet zu gehören. Die italienische Regierung lässt sie aber machen, ich glaub, die nehmen die nicht ernst.«

»Wie bei uns«, kommentierte Lizzy.

»Ja, wie bei uns.« Jacqueline setzte sich neben sie aufs Bett. »Aber in dem Film war das so: Wenn erst mal die Unabhängigkeit ausgerufen ist, dann müssen sich die anderen Länder dazu verhalten. Dann geht’s ans Eingemachte.«

»Wie Nordzypern«, warf Paul ein, der sichtlich darum bemüht war, sich so wenig wie möglich zu bewegen, um keine weiteren Schäden anzurichten. »Das ist ja türkisch. Obwohl die Insel zu Griechenland gehört. Ich hatte mal einen Kameraden, der kam von da, der hat mir das erzählt, da wurde sogar richtig gekämpft. Jedenfalls gibt es da eine Grenze mit Kontrollen und allem. Nur anerkannt wird es von niemandem.«

»Du kennst dich aus, das haben wir verstanden.« Guillaume räusperte sich. »Was wir festhalten können, ist: Das alles sind Staaten, die de facto als solche funktionieren, aber keine wirkliche Relevanz haben, weil es ihnen an der Anerkennung anderer Länder fehlt. Letztlich fast wie bei uns. Was aber, wenn die Vicomtes mehr wollen? Wenn sie Ernst machen wollen? Sie haben immerhin die Urkunde.«

»Gilt die denn?«, wollte Paul wissen.

Jacqueline nickte nachdenklich. »Gute Frage, Paul. Ist das Ding relevant? Können sie damit ihren Anspruch begründen und … weiß Gott was durchsetzen?«

Die junge Frau erntete allgemeines Schulterzucken.

Guillaume stieß die Luft aus. »Wenn wir doch nur jemanden hätten, der uns da weiterhelfen könnte.«

Da hellte sich Jackys Miene auf. »Ich glaube, ich weiß, wer unsere Fragen beantworten kann …«

Lipaire wollte nachfragen, was Jacky mit ihrer nebulösen Andeutung gemeint hatte, da hörte man von unten Geräusche, und kurz darauf rief eine Männerstimme: »Jacqueline, ich bin’s. Bienvenue à la maison, ma puce

»Na also, da kommt ja schon unser Experte«, sagte die junge Frau grinsend und ging nach draußen. Die anderen folgten ihr langsam, warteten aber oben, während Jacky die Stufen hinabschritt.

Unten an der Treppe stand kein Geringerer als Pierre Venturino, der Bürgermeister von Grimaud. Mit ihm wollte Jacky also über die Angelegenheit sprechen? Lipaire hielt das für keine besonders gute Idee, beschloss aber, die junge Frau fürs Erste einfach machen zu lassen. Was blieben ihnen auch für Alternativen?

Venturino, der kleine, drahtige Mann trug wie immer Anzug, allerdings noch mit blau-weiß-roter Schärpe, die quer über dem Oberkörper verlief. Für Guillaume sahen diese Flaggenbänder immer ein wenig nach Misswahl oder Formel-1-Boxengasse aus. Der Bürgermeister begrüßte seine Tochter mit drei Küsschen auf die Wange, umarmte sie und klopfte ihr auf die Schulter.

»Salut , papa , steht dir gut, der Bart.«

Venturino wollte gerade antworten, als er die anderen auf der Treppe erblickte. »Haben wir Handwerker im Haus?«

»Aber papa , das sind doch meine Freunde, die mich vom Flughafen abgeholt haben.«

Er senkte den Kopf und sah über seine getönte Brille hinweg zu ihnen. »Ach ja? Schade, dass sie schon gehen müssen.«

Jacky versetzte ihm einen Rempler in die Rippen. »Komm, wir setzen uns alle auf die Terrasse, und du erzählst, was es Neues im Städtchen gibt.« Sie gab ihrem Vater noch ein weiteres Küsschen auf die Wange.

»Wo ist denn Céline?«

»Maman hat sich vorher hingelegt, sie war etwas müde«, erklärte sie und schob ihren Vater Richtung Terrassentür.

Er atmete tief ein. »Verstehe.«

Die anderen stiegen die Treppe hinab und folgten Tochter und Vater nach draußen.

Dort entstand eine peinliche Stille, die Guillaume mit den Worten durchbrach: »Es ist uns eine Ehre, bei Ihnen zu Gast sein zu dürfen, Monsieur le Maire

Venturino nickte nur. Ob er sich an Karims und Guillaumes Besuch in der Mairie vor einigen Tagen erinnerte, war nicht zu erkennen.

Jacqueline stellte zwei eisgekühlte Flaschen Rosé auf den Tisch. Im Haus des Bürgermeisters wurde ganz schön viel Alkohol konsumiert, konstatierte Guillaume erstaunt.

Als Venturino halbherzig mit ihnen angestoßen hatte, lehnte sich Jacky zu ihrem Vater über den Tisch, legte ihm ihre Hand auf den Arm und sagte mit zuckersüßer Stimme: »Du, papa , meine Freunde haben mir erzählt, was für eine wichtige Position du inzwischen hast. Viel mehr als nur Bürgermeister. Und einmalig in ganz Frankreich, stimmt das?«

Zum ersten Mal lächelte Pierre Venturino und richtete sich auf. »Nun, da liegen sie nicht ganz falsch. Mein Einfluss ist beträchtlich gewachsen. Wenn man bedenkt, dass Port Grimaud ja Privatbesitz ist, kann ich als Bürgermeister jetzt doch die Geschicke unseres Küstendörfchens ganz anders mitbestimmen.«

»Aber wenn es auf deinem Gemeindegebiet ein Fürstentum gibt, dann bist du ja ein richtiger Diplomat! Ein Botschafter Frankreichs, ach was, ein Sonderbeauftragter der Republik.«

Lipaire grinste in sich hinein. Jacqueline wusste genau, welche Knöpfe sie bei ihrem Vater drücken musste. »Das ist ja quasi bilaterale Diplomatie, Respekt«, versuchte sich Guillaume an einer Bekräftigung.

Venturino winkte mit gespielter Bescheidenheit ab. »Bilateral stimmt so nicht ganz, beim Fürstentum handelt es sich ja nach wie vor um französisches Staatsgebiet.«

»Aber wenn Port Grimaud irgendwann doch mal von Frankreich unabhängig wäre, wirst du dort dann vielleicht Botschafter auf Lebenszeit, papa

»Oder Hofmarschall«, warf Delphine ein.

Venturino lächelte die offensichtliche Beleidigung einfach weg. »Nun, ich könnte mir vorstellen, ein solches Amt in Würde zu bekleiden. Und ich hätte dann auch nicht den Ärger mit den ständigen Wahlen. Zurück in die Verwaltung und dort wieder Bußgeldbescheide wegen unbezahlter Abwasserrechnungen schreiben? Non, merci! «

Lipaire horchte auf. Interessant, worin die Tätigkeit des sich nun so weltmännisch gebenden Bürgermeisters anscheinend vor seiner Amtsübernahme bestanden hatte. Damit hatte er das viele Geld sicher nicht verdient.

»Stimmt, blödes System, mit dieser Demokratie und so. Immer hat man bloß Scherereien damit«, stimmte ihm Madame Lizzy zu, und Guillaume hätte nicht sagen können, ob sie es ironisch meinte.

Delphine setzte ein breites Lächeln auf. »Aber mal ehrlich, Monsieur, wenn ich Sie da mit Ihrer Trikolore-Schärpe sehe, sind Sie doch ein Mann der Republik. Kein Diener von irgendwelchen Adeligen.«

»Nun, als Diplomat stünde ich im Dienste der Republik.«

»Würde das nicht zu … Verwicklungen führen? Mit anderen Ländern vielleicht?«, hakte Delphine nach.

Venturino rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Das … könnte sein, ja. Und unter Umständen gingen meine kommunalen Versorgungsansprüche verloren, das wäre problematisch für meine Altersvorsorge.«

»Fazit: Es ist besser, alles bleibt so, wie es ist, oder?«, schlussfolgerte Jacky.

Bürgermeister Venturino strahlte seine Tochter an. »Ich sehe, dein Auslandsaufenthalt hat dir richtig gutgetan. Du besitzt auf einmal den Blick für politische Zusammenhänge. Früher hat dich so etwas ja gar nicht interessiert. Vielleicht trittst du doch noch in meine Fußstapfen, statt in die deiner Mutter.« Dann genehmigte er sich einen ausgiebigen Schluck Rosé, um schließlich gönnerhaft fortzufahren: »Du liegst völlig richtig, ma puce . Der Status quo ist für alle Beteiligten das Beste: für uns als Gemeinde, für die République Française , für die Einwohner von Grimaud und Port Grimaud, aber eben auch für die Familie Vicomte. Allein, was es die kosten würde, eine eigene Staatsverwaltung samt Polizei und Diplomatie aus dem Boden zu stampfen. Und weil sie das natürlich wissen, haben sie sich ja letztlich auch auf unseren Deal eingelassen.«

Guillaume und die andern blickten sich an. Jetzt wurde es spannend.

»Einen Deal?«, platzte Delphine heraus.

Hektisch schaute Guillaume zu Venturino. Ob der weiterreden würde, wenn man ihn so direkt fragte? Er hätte es für besser gehalten, die Informationen weiterhin etwas subtiler aus ihm herauszukitzeln.

»Wow, ein Deal, wie cool!«, meldete sich da Jacky. »Zwischen dir, den Vicomtes und dem Président de la République

Venturino wirkte sichtlich geschmeichelt. »Wenn man so will … ja.«

»Hammer! Warst du dafür im Palais de l’Élysée

»Das nicht direkt, es gab mehr … Videokonferenzen und so.«

»Toll, erzähl doch mal von diesem Deal.«

Der Bürgermeister hüstelte, wandte sich nach allen Seiten um und sprach ein wenig leiser: »Er besteht darin, dass die Vicomtes eben nicht auch noch den letzten Schritt gehen und einen eigenen Staat ausrufen. Das haben sie uns signalisiert. Im Gegenzug lassen wir sie mit ihrem Fürstentum innerhalb Frankreichs gewähren. Ein gutes Arrangement, wie ich finde.«

Das fand Guillaume ganz und gar nicht. Dennoch war interessant, was sie vom Bürgermeister alles erfuhren.

Da schaltete sich Delphine wieder ein: »Und wenn sich die Vicomtes nicht an die Abmachung halten, würden Sie die Ausrufung eines richtigen Fürstentums ja sicher verhindern. Also, im Sinne der Republik und der Bürgerinnen und Bürger von Grimaud, stimmt’s, Herr Bürgermeister?«

Venturino nickte ihr gravitätisch zu. »Ich würde natürlich mein politisches Gewicht in die Waagschale werfen, aber wahrscheinlich wäre es nicht ganz einfach, das zu verhindern. Formal haben die Vicomtes das Völkerrecht auf ihrer Seite. Die Familie hat die Urkunde von anerkannten Staatsrechtlern prüfen lassen, und sie ist wohl vollumfänglich gültig. Das wissen sie selbst, das wissen wir als Gemeinde, und das weiß der französische Staat. Daher unsere, sagen wir, Appeasement-Politik, unsere Entente Cordiale , um eine Eskalation zu vermeiden und den Status quo zu bewahren.«

Karim und Delphine sahen sich mit hochgezogenen Brauen an.

»Diese gottverdammte Scheißurkunde«, brach es auf einmal piepsend aus Paul heraus, der bislang nur still dagesessen und an seinem Daumennagel herumgekaut hatte.

»Sehr rustikal ausgedrückt, aber in der Sache muss ich Ihnen da wohl zustimmen.« Quenot blickte stolz in die Runde, dann redete Venturino weiter: »Das Dokument ist ja leider letztes Jahr unter mysteriösen Umständen wieder aufgetaucht und ist nun in der Welt. Unumstößlich. Wir müssen uns als Gemeinde und Republik also dazu verhalten.«

Lipaire seufzte tief. Hätten sie die Urkunde nicht ausgegraben, stünden sie jetzt nicht alle vor schier unlösbaren Problemen. Und ihr Leben, wie sie es kannten, wäre nicht in Gefahr. Denn was der Bürgermeister allem Anschein nach nicht wusste, war, dass die Vicomtes eben doch planten, sich als souveränen Staat anerkennen zu lassen. Das immerhin war der Schluss gewesen, den sie aus dem ziehen mussten, was der alte Chevalier Vicomte zu Lizzy gesagt hatte. Dann wäre nichts mehr wie bisher, sie alle würden nicht in Port Grimaud bleiben können. Diese Ausrufung eines eigenen Kleinstaates mussten sie verhindern, um jeden Preis. Nur wie?

»Jetzt mal ganz blöde gefragt: Wenn die Urkunde nicht – oder sagen wir – nicht mehr da wäre, wäre alles wieder wie vorher?«, fragte da Paul und schaute drein, als habe er eben die Weltformel entdeckt.

»Ja, das kann man so sagen«, bestätigte der Bürgermeister. »Aber sie ist nun mal da, und die Familie wird sie auch sicher nicht mehr hergeben wollen.« Er klang, als rede er mit einem begriffsstutzigen Grundschüler.

»Das werden wir schon sehen!«, murmelte Lipaire.

»Wie bitte?«, hakte Venturino ein.

»Nichts, ich sagte, dem muss man wohl ins Auge sehen«, gab Lipaire zurück.

»Wo ist denn die Urkunde gerade so?«, fragte Lizzy nonchalant.

Der Bürgermeister setzte bereits zu einer Antwort an, zögerte dann aber. »Das … darf ich Ihnen keinesfalls sagen. Es handelt sich bei Ihnen allen ja schließlich nur um schlichte, ich meine … normale Bürger.«

»Und Bürgerinnen«, ergänzte Delphine.

»Exakt. Und als solche sollten Sie gar nicht wissen …« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mich wohl etwas verplappert. Deswegen muss ich Sie hiermit alle auf strengste Geheimhaltung verpflichten. Nicht auszudenken, wenn davon etwas an die Öffentlichkeit dringen würde.«

»Ach was, jetzt machen Sie sich mal nicht gleich ins Hemd«, gab Lizzy schnoddrig zurück. »Ich kenne so viele pikante Geheimnisse über weitaus höhere Herren als Sie, da könnte ich ganze Bücher schreiben drüber. Aber ich kann schweigen wie ein Grab, keine Sorge.«

Auch die anderen versicherten mehr oder weniger nachdrücklich, dass sich Venturino durchaus auf ihre Diskretion verlassen könne.

»Gut«, versetzte der Bürgermeister schließlich zähneknirschend, »dann wenden wir uns den schönen Dingen zu. Ich werde mal nach meiner Frau sehen. Und dann muss ich bei der Polizei anrufen. Irgendjemand hat einen schrecklichen alten Schrotthaufen direkt vor unserer Einfahrt abgestellt.«


Guillaume wartete noch einen Augenblick, bis der Bürgermeister außer Hörweite war, dann stieß er einen Fluch aus. »Putain! Das darf doch alles nicht wahr sein.«

Paul hieb ihm auf die Schulter. »Stimmt, das ist eine Frechheit. Mein HY ist kein Schrott, sondern ein Oldtimer.«

»Ist das alles, was dir dazu einfällt? Du machst es dir ja schön einfach! Woher haben sie denn die Urkunde, hm?«

»Na, aus dem Brunnen in Gassin, das weißt du doch.«

»Himmel, aber wer hat sie dorthin gebracht?«, fragte Lipaire.

»Na, der Architekt, der alte Roudeau.«

»Ich meine nicht die Urkunde, ich meine die Vicomtes.«

Jetzt verstand der Belgier und blickte betreten zu Boden.

»Merde« , flüsterte Karim. »Dann sind wir schuld, wenn die hier einen eigenen Staat ausrufen und die Monarchie einführen.«

Delphine nickte langsam. »Sieht leider so aus. Andererseits …«

»Andererseits was?« Jacqueline kniff die Augen zusammen. »Raus mit der Sprache, Delphine.«

Diese ballte ihre Rechte zur Faust. »Wenn wir das verbockt haben, müssen wir es auch wieder geradebiegen.«

Lizzy lachte auf. »Ach, und wie wollen wir das machen, Teuerste? Soll ich mich an den französischen Staatspräsidenten heranmachen? Man weiß zwar, dass der auf ältere Frauen steht, aber ich glaube, ich passe nicht ganz in sein Beuteschema.«

»Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringen würde«, widersprach Delphine. »Nein, ich meine: Wenn es die Urkunde ist, die den Vicomtes das alles ermöglicht, dann muss sie eben wieder verschwinden.«

»Du meinst …« Paul bekam große Augen. »Das Ganze noch mal? Nur andersrum?«

Delphine sagte nichts, was Antwort genug war. Eine Weile blieb es still. Sie hingen ihren Gedanken nach, die auf eine einzige Frage hinausliefen. Karim war es, der sie schließlich stellte: »Und wie?«

»Ach, das kann doch nicht so schwer sein.« Pauls Stimme war noch höher als sonst, was seine Aufregung verriet. »Damals haben wir doch auch die ganzen Rätsel gelöst …«

Delphine unterbrach ihn sofort. »Bitte, nicht noch mal eine Schatzsuche. Das halte ich kein zweites Mal aus.«

In diesem Moment klingelten ihre Handys gleichzeitig in dem Ton, der das Eintreffen einer neuen Textnachricht ankündigte. Erschrocken schauten sie sich an, dann konnten sie gar nicht schnell genug ihre Telefone aus den Taschen kramen.

»Das Phantom?«, sprach Jacqueline das aus, was alle dachten. »Ist es etwa wieder aktiv?«

»Stimmt, das weißt du ja noch gar nicht.« Karim hielt sein Handy hoch. »Es hat sich vor ein paar Tagen wieder gemeldet. Einfach so. Und seitdem immer wieder.«

»Aha, und was …?«

»Das Dokument befindet sich in Grimaud Village, 679, Route Nationale« , las Delphine vor.

»Woher weiß er oder sie …?«, begann Jacqueline, doch Delphine winkte ab: »Wir haben aufgehört, uns darüber Gedanken zu machen. Aber die Infos sind immer hilfreich.«

»Route Nationale 679? Das ist die Hauptstraße, die mitten durchs Zentrum führt.« Paul kratzte sich am Kopf. »Was soll denn da sein?«

Keiner wusste eine Antwort darauf.

»Vielleicht ein Auto, in dem irgendwas deponiert ist«, mutmaßte Karim.

Jacky wiegte den Kopf hin und her. »Könnte sein.«

»Ja, meinst du? Gute Idee, oder?« Karim strahlte. »Vielleicht hat das Phantom das Ding ja schon für uns geklaut, und wir sollen es jetzt abholen.«

Ächzend richtete sich Guillaume aus seiner unbequemen Haltung auf. »Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden …«